Von den Chile-Nachrichten zur LN
Interviews mit den Alt-Redakteuren Peter Kranz und Peter Simon
Die Geburt der LN geht auf ein sit-in auf einer hessischen Wiese im Juni 1973 zurück. Was wart Ihr für eine Gruppe? Wie wichtig war für Euch die politische Linie?
Peter Kranz: Wir Gründungsmitglieder waren ein Haufen spontaner, politisch engagierter Aktivist*innen, mehrere waren im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) oder dem Sozialistischen Büro aktiv. Ich selbst habe die DKP in Heidelberg mitgegründet, wurde 1968 jedoch ausgeschlossen, da ich gegen den russischen Einmarsch in der Tschechoslowakei war. Außerdem war ich Gründungsmitglied des ersten deutschen Chile-Komitees in Heidelberg.
Die westdeutsche Linke der siebziger Jahre war in viele Gruppen unterschiedlichster Couleur zersplittert. Damals gab es im Kommunistischen Bund Westdeutschland einen internen Aufruf, die LN durch einen „Putsch“ auf die maoistische Linie zu bringen. Auch die Exilchilen*innen waren in sektiererische Gruppen zersplittert, die sich untereinander (verbal) hart bekämpften. Immer wieder gab es Versuche, die LN parteipolitisch zu instrumentalisieren. Die Redaktion verstand sich aber als Teil der unabhängigen Linken, die sich bewusst von dogmatischen Parteien wie der stalinistischen DKP oder trotzkistischen Gruppierungen abgrenzte. Auch gegenüber den chilenischen Gruppen bestanden wir auf unserer Unabhängigkeit.
Wie standet Ihr zur BRD?
Die politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik wurden in der Redaktion heftig diskutiert. Auch vor Vergleichen zwischen den Repressionsapparaten lateinamerikanischer Staaten und der Repression hier schreckten wir nicht zurück. Wir waren stolz darauf, jahrelang im Verfassungsschutz-Bericht erwähnt zu werden – denn, so unsere Überzeugung, wer damals als echter Demokrat nicht in selbigem Bericht stand, hatte seine demokratischen Werte schon ad acta gelegt. Wichtig waren für uns immer die Verbindungen zwischen der Bundesrepublik und Lateinamerika, insbesondere zu autoritären Regimen. So kritisierten wir die Ausstattung repressiver Polizeieinheiten mit BMW-Motorrädern oder die Installation von Siemens-Überwachungskameras in den großen Stadien.
Ergreifen wir heute in den LN zu selten Partei?
Partei ergreifen sollte man, wenn man über die Redaktionsarbeit hinaus aktiv ist. Wir waren damals nahezu alle parteipolitisch, gewerkschaftlich oder in der Solidaritätsbewegung engagiert.
Wie standet Ihr zur DDR?
Zur DDR standen die Redaktionsmitglieder fast ausnahmslos kritisch, die meisten hatten selbst schwierige Erfahrungen mit der DKP beziehungsweise der DDR gemacht.
Wie hast Du den Wandel der Chile-Nachrichten zur LN erlebt?
Während des Putsches in Chile war ich in Spanien. 1976 schrieb ich einen der ersten Artikel über die Situation in Argentinien, von wo ich gerade zurückkam. Die Redaktion vergrößerte sich dann, als Student*innen von Aufenthalten aus anderen Ländern zurückkamen und ihre Erfahrungen in die länderspezifische Solidaritätsarbeit und die Redaktion einbrachten. Dieser Entwicklung wurde mit einem neuen Namen, Lateinamerika Nachrichten, Rechnung getragen. Eine thematische Verbreiterung war nicht zuletzt auch nötig, um als Zeitung zu überleben.
Peter Simon, wie beurteilst Du die ersten Jahre der Chile-Nachrichten?
Peter Simon: Ich hatte während meiner Zeit als Lehrer in Chile durch eine Berliner Freundin von den Chile-Nachrichten erfahren. Ich schätzte aber die Brisanz der Zeit vor dem Putsch anders ein. Viele Mitglieder der Chile-Nachrichten, die als Student*innen nach Chile gekommen waren, hatten Kontakt zum MIR, der linksrevolutionären Bewegung, und hatten deren Sicht übernommen. Für den MIR lief alles klar auf eine gewalttätige Auseinandersetzung hinaus – und das spiegelte sich in den Chile-Nachrichten wieder. Ich habe den Putsch nicht vorausgesehen. Auch viele meiner Bekannten meinten, es gäbe genug Widerstand, um einen Putsch zu verhindern.
Woher kamen die Leute, die die Redaktion der Anfangszeit bildeten?
Die meisten kamen aus dem Umfeld des Lateinamerika Instituts (LAI) der Freien Universität. Aber auch in den Gewerkschaften gab es eine große Bereitschaft zur Solidarisierung. Es gab relativ wenig Leute, die wie ich einen „normalen“ Beruf hatten. Es gab einen ständigen Ablösungsprozess, den ich oft als Manko empfunden habe: Leute, die zwei, drei Jahre als Student*innen mitgearbeitet hatten, lösten sich mit dem Eintritt ins Berufsleben ab. Natürlich hat sich die Redaktion andererseits durch die Kontakte zum LAI auch immer wieder erneuert.
Als die Redaktion begann, am Ende der Artikel die Namen der Autor*innen abzudrucken…
… habe ich das nie mitgemacht. Das war keine gemeinsam gefällte Entscheidung. Ich hatte den Eindruck, daß einige Leute die Mitarbeit in der Redaktion als einen Schritt auf der Karriereleiter benutzten. Für mich war die Zeitschrift ein Solidaritätsprojekt, und ich hatte meine Entscheidung gefällt: Mein Name bleibt draußen. Autor*innennamen unter Meinungsartikeln können unter Umständen sinnvoll sein. Doch innerhalb der Redaktion kamen konträre Positionen relativ selten vor. Gab es Diskussionen, so versuchten wir, diese in der Zeitung wiederzuspiegeln.
Kannst Du während Deiner langen Zeit in der Redaktion unterschiedliche Phasen feststellen, in denen die politischen Diskussionen sehr heftig oder weniger heftig geführt wurden?
Im ersten Jahr wurde natürlich sehr viel und heftig diskutiert. Wichtigstes Thema war der Widerstand, welche Strategie die größten Chancen hätte und dergleichen. Vertreter*innen des MIR, der in Berlin sehr stark und aktiv war, und Vertreter*innen der Unidad Popular, die natürlich ein stärkeres politisches Gewicht hatte, widersprachen einander sehr, und das schlug sich auch in der Zeitschrift nieder.
Dann gab es eine Phase der Diskussionen um Peru und den Sendero Luminoso, und um die sandinistische Revolution in Nicaragua. Während der letzten Jahre, eigentlich schon seit zehn Jahren, wird lange nicht mehr so viel politisch in der Redaktion diskutiert wie in der Anfangszeit. Das mag an der veränderten politischen Landschaft Lateinamerikas liegen: Was außer Chiapas erregt denn noch die Gemüter?
Welche Rolle haben die LN in der Chile-Solidartät gespielt?
Die Zeitschrift wollte Informationen – nicht Meinungen – über Chile verbreiten. Zu den Abonnent*innen gehörten Vertreter*innen aus Gewerkschaften, SPD und sogar CDU. Wenn die Firma Hoechst in einer Erklärung den Putsch begrüßte, so veröffentlichten wir diese natürlich unter der Überschrift, daß die deutsche Wirtschaft mit den Henkern kooperierte. Als herauskam, daß in deutschen Supermärkten Früchte aus Chile verkauft wurden, riefen wir zu einem Boykott auf. Information waren uns, verglichen mit der heutigen Redaktion, im Vergleich zu Meinungen wichtiger.
Da sind wir anderer Meinung: Artikel, die so polemisch Partei ergreifen wie einige aus der frühen Zeit der Chile-Nachrichten, erscheinen in den LN heute kaum noch. Wie sah es denn mit der politischen Parteinahme innerhalb der BRD und gegenüber der DDR aus?
Kein Redaktionsmitglied war parteipolitisch tätig – höchstens die JuSos waren vielleicht vertreten –, und als West-Berliner*innen distanzierten wir uns nicht nur geographisch von der BRD. Gegenüber der DDR waren wir uns in einer unausgesprochen Ablehnung einig. Nur einmal kamen wir mit dem Solidaritäts-Komitee in Ost-Berlin in Kontakt. Aber zu mehr als einer formalen Begegnung kam es nicht. Jetzt im Nachhinein wundere ich mich, wie wenig Kontakt wir mit Exilchilen*innen in Ost-Deutschland hatten. Aber vielleicht spricht die Tatsache für sich, dass selbst nach der Wende zurückgekehrte Exilchilen*innen aus Ost und West sich in zwei Lagern gegenüberstanden.
Wie beurteilst Du mit einem 25jährigen Abstand die Anfangszeit der Solidaritätsbewegung mit all ihrem Enthusiasmus, Energie und Engagement für Chile?
Es ist für mich vor allem eine politische Enttäuschung, daß sich das Militärregime so lange hat halten können. Eine politische Enttäuschung waren die Umstände, unter denen es abgelöst wurde, denn die Rechten haben ihre Macht erhalten. Natürlich ist es für mich auch eine persönliche Enttäuschung – die drei Jahre, die ich in Chile verbracht habe, haben meinem Leben eine ganz andere Richtung gegeben.
Wie weit identifizierst Du Dich noch heute mit den Lateinamerika Nachrichten?
Die Motivation der Mitarbeiter*innen und Leser*innen hat sich im Laufe der Zeit sehr verändert. Auch wenn ich die Erweiterung des Themenspektrums auf ganz Lateinamerika mitgetragen habe, war für mich doch immer Chile die Hauptsache. Ich lese die LN nicht mehr so intensiv wie früher, und eine Ausgabe wie die letzte nur über Fußball ist nicht mein Ding. Ich habe nichts dagegen, aber es ist nicht mehr mein Projekt. Darum habe ich auch nach 20 Jahren Mitarbeit Abschied genommen. Trotzdem finde ich es toll, dass sich die Zeitschrift so lange hat halten können.