Mexiko | Nummer 293 - November 1998

Wahlchaos in Chiapas

Trotz schwerer Naturkatastrophe, Militarisierung und Wahlboykott der Zapatistas wurden in Chiapas Kommunalwahlen durchgeführt. Ergebnis: Chaos

Gouverneur Roberto Albores und die Funktionäre der mexikanischen Regierungspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) feiern sich selbst als Wahlsieger der Kommunalwahlen in Chiapas. Doch die Opposition und unabhängige Wahlbeobachter sind sich einig darin, daß die Wahlen von zu vielen Irregularitäten geprägt waren, als daß sie anerkannt werden könnten. Die Folgen der schweren Flutkatastrophe an der Pazifikküste sind weiterhin unabsehbar, die Militarisierung des Bundesstaates wird fortgesetzt, und die Zapatistas sorgten für eine Wahlbeteiligung von nur rund 40 Prozent.

Boris Kanzleiter

Nach der Auszählung von 90 Prozent der abgegeben Stimmen zeichnet sich bei den Kommunalwahlen vom 4. Oktober in Chiapas ein Erfolg der regierenden PRI ab. Demnach liegt sie in 81 von 103 Landkreisen vorne. Die linksoppositionelle PRD (Partei der Demokratischen Revolution) gewann dagegen nur 17 Landkreise, während die rechtskatholische PAN (Partei der Nationalen Aktion) in fünf Landkreisen siegte, darunter auch in der Landeshauptstadt Tuxtla Gutiérrez. Bei den parallel stattfindenden Wahlen zum chiapanekischen Kongreß konnte die PRI zehn von 24 Sitzen erringen. Die scheinbar glänzende Bilanz der Regierungspartei ist allerdings das Ergebnis eines weitgehend illegitimen Wahlvorgangs, weil in vielen Regionen ein ungestörter Verlauf des Urnengangs nicht garantiert war. Die politischen Verhältnisse werden dadurch weiter destabilisiert.

Flutkatastrophe mit unabsehbaren Folgen

Bei sintflutartigen und langanhaltenden Regenfällen in der ersten Septemberhälfte wurden weite Teile von Chiapas überschwemmt. Vor allem die Pazifikküste und die daran anschließende Gebirgskordillere der Sierra Madre, aber auch Regionen im Zentrum waren betroffen. Ganze Dörfer und Kleinstädte, wie beispielsweise Motozintla, wurden von den herabstürzenden Wassermassen überschwemmt und weggespült. Der Regen setzte in den steilen Tälern der Sierra Madre außerdem Schlamm- und Gesteinslawinen in Gang, die Menschen, Gebäude und Straßen unter sich begruben. Nach Angaben der mexikanischen Hilfsorganisationen sind mindestens 500 Menschen getötet worden. Andere Quellen geben höhere Zahlen an. Die Regierung dagegen spricht von 200 Opfern. Es wird allgemein eingeschätzt, daß erst im Laufe der Bergungsarbeiten, die Wochen dauern werden, die genaue Zahl der Opfer festgestellt werden kann.
Insgesamt sind fast die Hälfte der 3,5 Millionen Einwohner von Chiapas durch die Naturkatastrophe betroffen, 400.000 davon schwer. Das Gesundheits- und Erziehungssystem ist in vielen Gemeinden zusammengebrochen. Die Preise für Lebensmittel stiegen um 200 Prozent. Viele Dörfer mußten wochenlang mit Helikoptern versorgt werden, weil sie von der Außenwelt abgeschnitten waren. Einige Gemeinden erreichte tagelang keine Hilfe. Die Ernten sind im Katastrophengebiet weitgehend vernichtet worden. Vor allem die Kaffeeproduktion, die zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen in Chiapas zählt, ist betroffen. Experten gehen davon aus, daß es Jahre dauern wird, bis Infrastruktur und Gebäude wieder hergestellt sein werden. Die sozialen Folgen sind im ärmsten mexikanischen Bundesstaat dagegen unabsehbar.
Die Naturkatastrophe traf den Bundesstaat mitten in der heißen Wahlkampfphase. Nachdem sich die Ausmaße der Verwüstungen abzeichneten, forderte die oppositionelle PRD die Verschiebung der Wahlen auf Dezember. Manuel López Obrador, mexikanischer Parteivorsitzender, erklärte: „Es gibt keine Bedingungen für Wahlen. Man kann keine Wahlen mitten in einer Tragödie durchführen.“ Mit dieser Forderung blieb er nicht allein. Sowohl die katholischen Bischöfe des Bundesstaates als auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen schlossen sich seiner Argumentation an. Zuerst sollten alle Kräfte auf die Hilfeleistung konzentriert werden, erst dann sei an die Abhaltung der Wahlen zu denken. Außerdem gaben sie zu bedenken, daß allein infrastrukturell in vielen Landkreisen keine Bedingungen für den Urnengang existierten.

Hilfe nur für ParteibuchträgerInnen

Doch die PRI blieb mit der Rückendeckung von Präsident Ernesto Zedillo bei der Durchführung der Wahlen am dafür vorgesehenen Termin. Nur aufgrund offensichtlicher technischer Unmöglichkeit in den drei am stärksten betroffenen Landkreisen – Tonalá, Huixtla und Motozintla – wurde hier darauf verzichtet. Ansonsten setzte die Staatspartei ihren klientelistischen Apparat in Gang und begann, die staatlichen Hilfsgüter über ihre Parteistrukturen und die örtlichen Kandidaten an die Katastrophenopfer zu verteilen. Dabei begünstigte sie systematisch ihre Anhänger und verweigerte den Parteigängern der Opposition die Hilfe. An anderer Stelle wurden die Hilfsgüter nur unter der Bedingung ausgehändigt, daß die Empfänger in Zukunft wieder PRI wählen. Teilweise wurde Hilfe in Regionen verteilt, die gar nicht betroffen waren, dafür aber PRI-Hochburgen sind. Zum Beispiel sollen Güter, die für das zerstörte Pijijiapan bestimmt waren, von PRI-Kandidaten in Frontera Hidalgo verteilt worden sein.
Die PRD protestierte energisch gegen die Praxis der PRI-Funktionäre, die freilich überall in Mexiko gebräuchlich ist. Schließlich stellte die Oppositionspartei ihre Wahlkampagne weitgehend ein. Kurz vor der Abstimmung erklärte López Obrador dann resigniert: „Wir nehmen teil, weil uns nichts anderes übrigbleibt und wir der PRI nicht das Feld überlassen wollen.“ Die PAN schloß sich den Anschuldigungen an und änderte ihre Wahlkampfparole in: „Nimm’ an, was sie Dir geben – und wähle PAN“. Die Kommandantur der EZLN reagierte mit einem Kommuniqué: „Die Führung der PRI in Chiapas und die Landesregierung rauben die humanitäre Hilfe, die für die Opfer der Katastrophe in der Sierra und der Küste bestimmt ist.“ Und weiter: „Die Ausmaße der Tragödie, die durch die starken Regenfälle ausgelöst wurden, sind nicht nur das Ergebnis eines metereologischen Phänomens, sondern verschärfen sich durch die Inkompetenz und Korruption der Regierung.“ Präsident Zedillo sah sich schließlich bei einem Besuch im Katastrophengebiet genötigt, auf die Anschuldigungen zu reagieren und erklärte, daß die Regierung dafür garantiere, daß die humanitäre Hilfe nicht zu politschen Zwecken eingesetzt würde.
Um die Erklärung des Präsidenten zu kontrollieren und aufgrund des Mißtrauens in die Behörden, bildeten sich spontan Brigaden von aufgebrachten BürgerInnen, die die Transporte in die überschwemmten Gebiete begleiteten. Sie wollten sicherstellen, daß die Hilfe die Opfer und nicht die PRI-Klientel erreichte. Tausende von Freiwilligen beteiligten sich auch am Sammeln von Hilfsgütern. Vor allem die LehrerInnengewerkschaft SNTE spielte eine wichtige Rolle bei der Selbstorganisierung von Hilfeleistungen. Dabei wiederholte sich ein Phänomen, das auch bei anderen Naturkatastrophen in Mexiko zu beobachten war: Die spontan agierenden Menschen entwickelten ein effizientes Netzwerk der Hilfeleistung, während sich staatliche Behörden durch Desorganisation und Inkompetenz auswiesen.

Wahlen im Angesicht von Gewehrläufen

Doch nicht nur die Naturkatastrophe und ihre Folgen machten einen normalen Urnengang unmöglich. In mindestens 30 der 111 Landkreise waren nach Ansicht von Beobachtern aufgrund von Militarisierung und der Aktivität paramilitärischer Gruppen die Wahlen von vornherein nicht durchführbar. Die Regierung nutzte dabei die Katastrophe, um weitere Regionen zu militarisieren. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden 8.000 Soldaten für Hilfe eingesetzt, 2.000 davon wurden dazu aus den Konfliktgebieten in der Selva Lacandona, dem Norden und der Region Los Altos abgezogen. 63.000 bleiben dort stationiert. Jetzt sind nur noch zwei Regionen in Chiapas nicht militarisiert.
Die Durchführung der Wahlen war unter anderem eine Strategie, um zu versuchen, die politische Kontrolle wieder aufzurichten. Im Windschatten der PRI-Kampagne und unter der Protektion des Militärs wurden paramilitärische Gruppen gestärkt. In den Konfliktzonen koordinierten vielerorts die Führer paramilitärischer Gruppen die Wahlkampagne der PRI. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Norberto Santiz López, PRI-Abgeordneter und Schirmherr des MIRA (Antizapatistische Revolutionäre Indígena-Bewegung). So sollte den Zapatistas Territorium abgewonnen werden. Der Wahlkampf führte auf diese Weise die Politik von Integration und Repression fort, mit der die PRI den Zapatismus bekämpft. Einerseits wurden Hilfsgüter verteilt, andererseits wurden die Paramilitärs aufgewertet, die in Verbindung mit Armee und Polizei seit Beginn des Jahres etwa 60 Menschen, meist Sympathisanten der EZLN, ermordet haben und für 20.000 Vertriebene mitverantwortlich sind.
Wie schon bei den Kommunalwahlen im Oktober 1995 organisierte die EZLN einen Wahlboykott, wobei sie die Installation von Wahllokalen in ihrem Einflußgebiet allerdings nicht verhinderte. Die EZLN argumentierte, daß unter den gegebenen Umständen der Militarisierung keine freien Wahlen möglich seien. Auch Arturo Luna, der PRD-Repräsentant vor der Wahlbehörde, schloß sich dem Urteil der Zapatisten an: „Es bestehen nicht die notwendigsten Voraussetzungen für Wahlen in dieser Zone. Es gibt keine Voraussetzungen, wenn Krieg ist. Und hier ist Krieg. Es ist nicht leicht, die Indígenas zum Wählen aufzufordern, wenn ihr Gebiet militärisch besetzt ist und außerdem Paramilitärs agieren.“ Seine Partei stellte daher in den fünf Landkreisen El Bosque, Larrainzar, Chenalhó, Chalchiuitán und Chamula keine Kandidaten auf.
Wie bereits 1995 folgten dem Boykottaufruf der EZLN ein großer Teil der Bevölkerung. Insgesamt gaben nur etwa 40 Prozent der 1,7 Millionen Wahlberechtigten den Stimmzettel ab. In der Selva Lacandona, der stärksten Zapatisten-Hochburg, nahmen nur 14 Prozent an den Wahlen teil, obwohl PRI-Funktionäre Medizin, Lebensmittel und Kleidung für die Stimmabgabe verschenkten. Nach dem Boykott 1995 gründete die EZLN in den Gebieten mit ihrem stärksten Einfluß die „autonomen Landkreise“, die sich bis heute immer weiter ausgebreitet haben. Hier ersetzen von den zapatistischen Sympathisanten aufgebaute Parallelstrukturen die staatliche Verwaltung. Es ist wahrscheinlich, daß die EZLN dieser Strategie weiter folgen wird. Insofern ist das Wahlergebnis letztlich relativ unwichtig, zumindest in den zapatistischen Einflußgebieten.
Nach den Wahlen sprachen Vertreter von Global Exchange und Amnesty International, die die Wahlen beobachteten, von „vielen Irregularitäten“ und „fehlenden Voraussetzungen“. Die PRD fordert die Annullierung der Wahl und eine Wiederholung Anfang nächsten Jahres. Möglicherweise wird eine konstitutionelle Krise, die sich die PRI selbst zuzuschreiben hat, Neuwahlen beschleunigen. Damit der chiapanekische Kongreß zusammentreten kann, hätten mindesten 21 Abgeordnete, die Hälfte aller Mandate, direkt gewählt werden müssen. Da aber in drei Landkreisen aufgrund der Katastrophe nicht gewählt wurde und in San Juan Chamula aufgrund einer Blockade von PRI-Anhängern, die gegen ihre eigenen Parteifreunde protestierten, auch keine Wahlen durchgeführt werden konnten, sind nur 20 Abgeordneten gewählt worden.

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