Arbeit in Lateinamerika | Nummer 377 - November 2005

Warum arbeiten die Piqueteros nicht?

Interview mit Oscar Kuperman, Koordinator der Arbeitslosenorganisation CUBa-MTR

Die porteños, die HauptstadtargentinierInnen, sind sauer auf die Piqueteros. Im Dezember 2001 demonstrierten sie noch gemeinsam mit ihnen gegen die Regierung. Heute fragen sich viele: Warum arbeiten die Piqueteros nicht statt ständig Brücken zu besetzen, Straßen zu blockieren und die Erhöhung ihrer staatlichen Unterstützung zu fordern? Oscar Kuperman kennt die Antwort. Der 60-Jährige gelernte Elektroingenieur ist heute Koordinator derCoordinadora de Unidad Barrial – Movimiento Teresa Rodríguez (CUBa-MTR). Diese gehört zu den piqueteros duros, dem harten Teil der Arbeitslosenbewegung, der sich bisher nicht von der Regierung Kirchner vereinnahmen ließ.

Rodolfo Compte, Judith Winterstein, Jürgen Vogt

Warum arbeiten die Piqueteros nicht?
So generell kann man das nicht sagen. Denn es gibt Organisationen wie die CUBa-MTR gibt, in denen alle, die eine staatliche Unterstützung im Rahmen der planes mano de obra (siehe Kasten) bekommen, auch eine Gegenleistung erbringen müssen. Das ist die Vorschrift des Arbeitsministeriums und die setzen wir in unserer Organisation um.

Die Piqueteros von CUBa-MTR arbeiten also?
Nein, denn es ist wichtig zu betonen, dass diese Gegenleistung keine Arbeit im eigentlichen Sinne einer sozialversicherten Arbeit ist. Jeder compañero kann in unserer Schuhfabrik, in unserer Handtuchfabrik, im Gemüsegarten oder im Putzdienst vom Viertel arbeiten. Aber ich betone noch einmal: Es ist keine Arbeit mit Arbeitsvertrag und Sozialversicherung.

Ist diese so genannte Gegenleistung gesetzlich vorgeschrieben, um eine staatliche Unterstützung zu erhalten?
Ja. Und weil wir die Auflage erfüllen, bestehen wir auch alle Kontrollen, die das Arbeitsministerium vornimmt. Die Inspektoren kommen alle drei bis vier Monate und prüfen, ob die Gegenleistungen wirklich stattfinden. Aber ich spreche hier ausschließlich für die CUBa-MTR. Hier erhalten die Mitglieder monatlich 150 Pesos [rund 42 Euro] zuzüglich Essensrationen. Dagegen gibt es Regierungs freundliche Piquetero-Organisationen, die nicht kontrolliert werden.

Alle, die staatliche Unterstützung erhalten, arbeiten also?
In unserer Organisation ja. Aber die Vergabe der Sozialleistungen durch die Bürgermeister, die Provinzgouverneure, die Abgeordneten oder die Parteifunktionäre vor Ort kontrolliert niemand. Und schon gar nicht die Vergabe durch die Polizei- und Militärverwaltungen.

Leisten Frauen ebenfalls solche Gegenleistungen?
Selbstverständlich. Die Frauen arbeiten in Gemeindeküchen und comedores für die Armen. Aber wir haben auch Kolleginnen, die in einem Alphabetisierungskurs lesen und schreiben gelernt haben. Die Lehrer sind ebenfalls arbeitslos und erhalten die staatliche Unterstützung. Die Lehrtätigkeit ist ihre Gegenleistung

Das System der Gegenleistung erscheint mir viel einfacher als eine Arbeit im klassischen Sinne, wo man Befehle eines Chefs empfangen und acht oder mehr Stunden arbeiten muss.
Aber genau diese Form von Arbeit fordern wir seit Jahren ein. Wir sind bereit, alle 6.286 planes, die wir bekommen haben, gegen wirkliche Arbeit zurück zu geben. Unser Ziel ist, dass die Leute wieder Arbeiter werden, die ihr Lochkarte stechen, wenn sie die Eingangstür betreten. Die ihre acht Arbeitsstunden haben, die sich mit anderen Kollegen eine Aufgabe teilen, die ein Gehalt, Sozialleistungen, Urlaub und mit den Jahren ihre Rente bekommen.

Die katholische Kirche sprach im Oktober letzten Jahres von den staatlichen Unterstützungen als eine Erziehung zur Faulheit. Und selbst Präsident Kirchner höchstpersönlich sagte, dass die Pläne eine Schande seien. Wieso wird daran dann nichts geändert?
Weil der Staat nicht will, dass die Arbeitslosen arbeiten, da er sonst zusätzlich mit der Finanzierung der Versicherung, den Sozialleistungen, den Rentenbeiträgen und der Urlaubsregelung konfrontiert wäre. Außerdem erlauben beispielsweise weder die Organisation der Bauunternehmer noch die Gewerkschaft der Bauarbeiter, dass die Piqueteros, die soziale Unterstützung bekommen, auf öffentlichen Baustellen beschäftigt werden. Zum Einen, weil mit den niedrigen staatlichen Unterstützungen die Gehälter Aller sinken würden und zum Anderen, weil der Staat sonst für die Kosten der Sozialleistungen aufkommen müsste.
Es erscheint dem argentinischen Staat also angemessener, dass Millionen Piqueteros eine staatliche Unterstützung erhalten ohne wirklich zu arbeiten?
Genau. Die Verordnung besagt, dass die Gegenleistung sich auf höchstens vier oder weniger Arbeitsstunden belaufen darf. Und im Kleingedruckten steht, dass die Arbeit einen sozialen oder solidarischen Charakter haben muss. Deshalb arbeiten die Begünstigten unserer Organisation beispielsweise in Volksküchen, lehren Lesen und Schreiben und helfen bei der Reparatur von Wohnungen.

Was stellt aus Ihrer Sicht das größte Problem dar?
Uns macht die fehlende Berufserfahrung der unter 35-Jährigen Sorge. Sie waren in der Menem-Ära ab 1989 zwischen 15 und 18 Jahre alt. Damals gab es massive Stellenstreichungen im Hafen, in der Industrie, in der Landwirtschaft und anderen produktiven Sektoren. Sie hatten nie die Möglichkeit ein richtiges Arbeitsverhältnis kennen zu lernen.

Und was könnte das Problem lösen helfen?
In erster Linie sozialversicherte Arbeitsverhältnisse und die Aussicht auf eine Berufsausbildung. Außerdem muss man verstehen, dass Arbeitslosigkeit kein ausschließlich argentinisches, sondern ein globales Problem ist.

Was glauben Sie mit Straßenblockaden und Demonstrationen erreichen zu können?
Wir gehen auf die Straße, damit die Öffentlichkeit von den herrschenden Missständen erfährt. Dass täglich über 100 Kinder sterben, von denen die Hälfte unter fünf Jahre alt ist. Dass Krankenhäuser unzureichend ausgestattet sind. Dass immer mehr Kinder der Schule fernbleiben, weil sie nichts zu essen haben oder ihnen die Schulutensilien fehlen.
Wieso glaubt die argentinische Gesellschaft die Piqueteros seien faul und wollten nicht arbeiten?

Weil unsere Öffentlichkeitsarbeit gegen die Propaganda des Staates nicht ankommt.
Interview: Rodolfo Compte
Übersetzung: Judith Winterstein / Jürgen Vogt

Kasten :
Die staatliche Unterstützung für sozial Schwache und Arbeitslose wird in Argentinien über Sozialpläne, so genannte planes, geregelt. Ein plan bedeutet die konkrete Zuwendung an eine bestimmte Person. Die planes jefe y jefa de hogar (Unterstützung für den Haushaltsvorstand) entsprechen etwa dem Prinzip der Sozialhilfe in Deutschland. Derzeit gibt es rund 1,6 Millionen solcher Sozialpläne, die eine monatliche Unterstützung von 150 Pesos, knapp über 40 Euro, bedeuten. Die Piquetero-Organisationen verwalten davon rund 200.000, wovon der Anteil der piqueteros duros bei etwa 9.000 liegt. Die planes manos de obra dienen hingegen der Unterstützung der Arbeitslosen. Von ihnen laufen gegenwärtig 480.000. Als Drittes gibt es noch das Ernährungsnotfallprogramm (Programa de Emergencia Alimentaria), das eine ausreichende Ernährung der extrem Bedürftigen sichern soll.
Die Verteilung solcher planes wird oftmals über einen puntero geregelt, in der Regel ein politisches Parteimitglied auf lokaler Ebene. In den meisten Fällen handelt es sich um Peronisten, der puntero kann aber auch zur UCR oder der Radikalen Bürgerunion gehören. Nach einem Bericht der Tageszeitung Clarín sind über die Hälfte der Begünstigten der Sozialleistungen für Familien Mitglieder einer politischen Partei. KritikerInnen sehen gerade hier die Gefahr von Klientelismus und den Kauf von Wählerstimmen durch die Vergabepraxis. Allerdings fehlt oftmals auch schlicht eine funktionierende Verwaltungsstruktur, die eine Verteilung der planes gewährleisten könnte.
jüvo

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