Nummer 200 - Februar 1991 | Ökonomie

Wirtschaft: Enormer Rückschritt und keine Hilfe aus dem Ausland

Interview mit der Ökonomin Rosa María Renzl

Die wirtschaftliche Situation und der Krieg -so die Standardanalyse -haben im Februar 1990 die Wahlniederlage der sandinistischen Regierung Nicaraguas verursacht. Nach gut acht Monaten Rechtsregierung der UNO (Nationale Oppositions-Union) sind die wirtschaftlichen Eckdaten nicht besser geworden, die Verarmung im Lande ist allerdings durch die rigide durchgeführten Anpassungsmaß-nahmen rapide vorangeschritten. Die “‘Internationale Stiftung für die globale wirtschaftliche Herausforderung” (FIDEG) in Managua betreibt Wirtschaftsforschung. Die MitarbeiterInnen stammen fast alle aus dem ehemaligen sandinistischen Planungsministerium. Die LN sprachen mit Rosa María Renzi, Geschäftsführerin von FIDEG. Die argentinische Ökonomin kam 2979 nach Nicaragua, um für den Aufbau des Landes zu arbeiten. Das Interview wurde am 13.Dezember 1990 geführt.

Bernd Pickert

LN: Wie läßt sich die derzeitige wirtschaftliche Situation Nicaraguas charakterisieren?

Rosa María Renzi: Ich würde sagen, daß die Wirtschaft dieses Jahr einen enormen Rückschritt erfahren hat. Das wichtigste Problem ist der hyperinflationäre Prozeß. Wir glauben, daß die Inflation dieses Jahr mit Ca12.300 Prozent abschließen wird. Das bedeutet im Jahresdurchschnitt49% Inflation monatlich. Das läßt den Aufbau einer stabilen internen ökonomischen Situation nicht zu. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einige sind objektiv gegeben: Das Staatsdefizit betrug 1989 5% des Bruttoinlandsproduktes (BIP);1990 könnte es bei 10-12% liegen. Das hebt den Inflationsdruck extrem an.
Dennoch glaube ich, daß es einige subjektive Gründe gibt, die schwerer wiegen, und das ist die Erwartung der Bevölkerung im allgemeinen. Es gab keine klaren Signale, kein Programm, widersprüchliche Aussagen in punkto Wirtschaft, große Unsicherheit über das Erlangen ausländischer Hilfe…

Die Inflation in den Köpfen.

LN: Warum ist Nicaragua zur Zeit das teuerste Land Zentralamerikas?
Warum hat auch der Dollar so rapide an Kaufkraft verloren?

R.M.R.: Zuerst die Überbewertung des alten Cordoba: Das hat dazu geführt, daß die nationalen Produkte gegenüber den Importen teurer sind. Zweitens hat die Dollarisierung des Landes die Menschen jeglichen Maßstab verlieren lassen, das Preisgefüge ist durcheinander. Die Existenz mehrerer Währungen -eines alten Cordobas, der ständig abgewertet wird, eines neuen Cordobas, der immer noch nicht eingeführt ist -die Zweifel, ob er nun eine 1:1-Parität zum Dollar haben wird oder nicht, bewirken, daß die Inflationserwartung der Bevölkerung sich auf die neue Währung und sogar auf den Dollar überträgt. Weil die Bevölkerung sich vor zukünftigen Abwertungen schützen will, die es auch für den Gold-Cordoba geben könnte, erhöhen sie auch die Preise in Gold-Cordoba ständig. Die Leute wissen, daß es keine Reserven gibt, um die 1:1-Parität aufrechtzuerhalten. Die wenigen, die Gold-Cordoba erhalten, wechseln sie sofort in Dollar, denn sie wissen, daß das die einzige Währung ist, die einigermaßen den Wert behält. Es ist praktisch eine “Panamaisierung”Nicaraguas, was den Geldumlauf angeht.

Vom Versagen der staatlichen Steuerungsinstrumente

LN: Als ehemalige Mitarbeiterin des Planungsstabes kennen Sie die Instrumente sehr genau, die dem Staat zur Steuerung der Wirtschaft zur Verfügung stehen. Welche Instrumente könnten jetzt benutzt werden, und mit welcher Zielsetzung?

R.M.R.: Das Problem ist, daß viele Instrumente nicht die gewünschten Ergebnisse zeigen. Die sandinistische Regierung hat 1989 eine sehr dynamische und aktive Wechselkurspolitik betrieben. Dennoch ist die Inflation während des gesamten Jahres weniger gestiegen als die Abwertung, so daß es eine reale Abwertung gegeben hat und die Exporte gesteigert wurden. In diesem Jahr, in dem die Regierung das Gleiche tun wollte, hat die Inflation die gesamten Gewinne, die durch die Wechselkurspolitik erzielt werden sollten, aufgefressen.
Das hängt also nicht nur von der Benutzung der Steuerungsinstrumente ab. Die Maßnahmen können noch so rigide sein, aber wenn sie die soziale Stabilität in Gefahr bringt, sind sie kontraproduktiv. Es muß ein Mittel gefunden werden, um wirtschaftliche Stabilität und gleichzeitig positive soziale Effekte zu erreichen, damit nicht eine soziale Destabilisierung die wirtschaftliche Entwicklung in Gefahr bringt.

International ins Abseits gedrängt

LN: Obwohl es in Nicaragua einen politischen Wechsel im Sinne der kapitalistischen Industrieländer gegeben hat, stellt sich die Situation der Finanzhilfe überaus schwierig dar. Welche Bedeutung haben in diesem Sinne die Veränderungen in Osteuropa?

R.M.R.: Große. Einerseits, weil die Hilfe der sozialistischen Länder vor allem in den letzten fünf Jahren für die Stabilität Nicaraguas -wenn man davon überhaupt sprechen kann -entscheidend war. Die Erdölversorgung war komplett von der UdSSR und den anderen sozialistischen Länder garantiert, und Rohstoffe, Maschinen, Ersatzteile und andere Materialien kamen zu sehr günstigen Bedingungen aus diesen Ländern.
In diesem Jahr waren bereits einige Auswirkungen zu spüren, allerdings noch in geringerem Ausmaß. Von allen Hilfen war die sowjetische die wichtigste, und diese war bis zum Jahr 1990 vertraglich festgelegt. Dieses Jahr wurden 300.000 t Rohöl importiert. Die restlichen Länder trugen nicht mehr zur Versorgung bei, aber die aus der UdSSR gelieferte Menge bedeutet 40-50% der benötigten Jahresquote. Und auch die anderen Waren sind -mit einigen Schwierigkeiten -eingetroffen. Es wird sehr schwierig sein, für das nächste Jahr die gleichen Bedingungen zu erhalten.
Außerdem konzentrieren sich die Interessen der Welt auf die Länder des Ostens, die aufgrund ihrer Strukturen eine schnelle Amortisierung von Investitionen garantieren.

LN: Die “Konzertierte Aktion”ist hier oft halb im Scherz als “nicht-traditionelles Exportprodukt” bezeichnet worden, um dem Ausland vorzuführen, es gebe in Nicaragua soziale und politische Stabilität. Durch die Aktionen der Contra im November 1990 ist sehr deutlich geworden, daß das nicht so ist. Wie sehen Sie also jetzt die Wirkung der “Konzertierten Aktion” auf mögliche ausländische Geldgeber?

R.M.R.: Obwohl zunächst die “Konzertierte Aktion” tatsächlich im Hinblick auf ihre Außenwirkung initiiert wurde, um irgendein Papier zu unterschreiben und damit hausieren zu gehen, hat die Praxis den Inhalt verändert. Wenn Du Dich erinnerst: An der ersten Sitzung nahmen die FSLN, bzw. ihre Organisationen, nicht teil. Dann gab es einen Prozeß der Annäherung und der Verhandlung und schließlich dauerte der ganze Vorgang, den man auf eine Woche geplant hatte, mehr als einen Monat. Ich würde sagen, daß das Endprodukt schließlich nicht mehr nur das Papier fürs Ausland ist, sondern tatsächlich der erste Schritt, um ein wenig ein Klima der politischen und sozialen Stabilität in diesem Land zu schaffen. Die Bevölkerung hat hier seit dem Amtsantritt der neuen Regierung praktisch nicht eine Woche Ruhe gehabt, wo jemand hätte sagen können: “Gut, jetzt an die Arbeit”. Ich glaube, daß die “Konzertierte Aktion” hier einen Spielraum geschaffen hat.
Trotzdem beweist das Treffen der Geberländer in Paris, daß das Ausland nicht wegen der “Konzertierten Aktion” plötzlich Antworten bereit hält. Sie wollen zunächst einmal sehen, ob es funktioniert. Der Konflikt in der V.Region (s. LN 198)war nicht sehr hilfreich. Für Paris wurde ein Wirtschaftsprogramm verlangt, und bevor sie nicht klare erste Resultate gesehen haben, werden sie gar nichts geben. Deshalb glaube ich, daß die wirtschaftliche Situation im nächsten Jahr sehr kritisch wird, vor allem in der ersten Jahreshälfte, denn wenn die nächste Konferenz im März stattfindet, wird kaum vor Juni Geld hier eintreffen. Es gibt andere, die auf neue Mechanismen mit der Weltbank für neue Kredite vertrauen. Das ist natürlich Quatsch, denn wenn man sich diese Kredite anschaut, dann sind sie alle für die Schuldentilgung da.

FSLN -noch kein Wirtschaftskonzept

LN: Die internationalen Bedingungen sind objektiv gegeben, für jede nicaraguanische Regierung. Was wäre denn das Wirtschaftskonzept einer FSLN-Regierung nach gewonnenen Wahlen gewesen?

R.M.R.: Tatsächlich ist es so, daß unser Konzept noch auf einer nicht so stark veränderten Weltsituation aufbaute. Die Ereignisse in Osteuropa sind in so schneller Abfolge eingetreten, wie sie niemand jemals vorausgesehen hätte. Die FSLN wußte -die Perestroika hatte ja schon begonnen -daß wir in einen schwierigen Prozeß eintreten würden. Aber wir glaubten, daß die Anpassungsmaßnahmen des Jahres 1990 wie eine Visitenkarte gegenüber der internationalen Gemeinschaft und gegenüber den internationalen Finanzorganisationen wirken würden.
Wir glaubten, obwohl wir den Marktmechanismen mehr Gewicht gaben, daß der Staat nach wie vor eine wichtige Rolle spielen müsse: ein orientierender und steuernder Staat, der sich vor allem um die ärmsten Sektoren kümmert. Wir dachten an ein kombiniertes Modell.

LN: Hat sich die Diskussion innerhalb der FSLN über die Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren verändert oder gab es bis zum Schluß die gleiche Fraktionierung einer sozialistischen Orientierung nach altem Schema auf der einen und eines “pragmatischen” Flügels auf der anderen Seite? Die Ergebnisse dieser Differenzen waren ja auch, daß die Anpassungsprogramme von 1985 und 1988 nie radikal durchgeführt, sondern ziemlich halbherzig angegangen wurden.
R.M.R.: Es gab tatsächlich einen Sektor der Frente, der ein Modell á la Cuba oder á la UdSSR wollte, also gemäß den bekannten alternativen Wirtschaftsmodellen. Wir -die “PragmatikerInnen”-sagten, daß wir nicht den reinen Kapitalismus, aber ein Zwischenstadium versuchen müßten.
1985 begannen sich die Probleme deutlich zu zeigen, die durch eine sehr ausgedehnte Subventionspolitik, kombiniert mit einem Krieg und dem Wirtschaftsboykott entstanden waren. Es mußte ein Anpassungsprogramm angegangen werden, aber verbunden mit dem Versuch, die Folgen für die Bevölkerung so klein wie möglich zu halten. Dieses Programm war also halbherzig, hart auf der einen Seite, abfedernd auf der anderen, ein Gemisch, das schließlich nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte.
1988 gab es diese Elemente zwar auch, aber die Anwendung der Maßnahmen machte offensichtlich, daß es soziale Sektoren mit direkt entgegengesetzten Interessen gab. Der Druck dieser verschiedenen Interessengruppen hat nicht zugelassen, daß das Programm wie vorgesehen durchgeführt werden konnte. Das war kein Problem der unterschiedlichen Konzeptionen der Führung mehr, sondern ein Ausdruck der Basis der verschiedenen sozialen Sektoren. Und Ende 1988 gelangte die Wirtschaft dann durch den Hurrikan in die absolute Krise. Eine Durchführung des Programms war nicht mehr möglich. All diese Elemente und die Auswertung der Erfahrungen brachten uns 1989 zu einem viel rigideren Programm, im Bewußtsein, daß es ernste Konsequenzen haben würde.

LN: Vor kurzem gab der Comandante Victor Tirado ein Interview, in dem er sich geradezu als Apologet der sozialen Marktwirtschaft präsentiert. Glauben Sie, da8 das ein realistisches Konzept für Nicaragua sein könnte?

R.M.R.: Die revolutionären oder progressiven Kräfte dieses Landes müssen als Ziel haben, daß es eine Verteilung des vorhandenen Reichtums mehr in einem Maße gibt, wie es z.B. in den skandinavischen Ländern erreicht worden ist. Trotzdem sind wir uns darüber bewußt, daß das eine Utopie bleibt, solange es keinen wirtschaftlichen Fortschritt gibt. Ich habe kein klares Modell im Kopf, aber ich denke, daß das nicht nur in Nicaragua so ist, sondern eine Krise ganz Lateinamerikas. Der Kapitalismus in Reinform oder der Sozialismus in der bisher praktizierten Form sind beide nicht gut. Also muß eine Zwischenform gefunden werden.

Privatbanken gegen Schlamperei -Subventionen für Grundnahrungsmittel

LN: Zur Zeit werden die Türen für ein neues Finanzsystem unter Einschluß des Privatsektors geöffnet. Welche Effekte kann das haben? Einer der ersten Schritte sandinistischer Wirtschaftspolitik war die Verstaatlichung der Banken. War es ein Fehler, diese Verstaatlichung aufrechtzuerhalten?

R.M.R.: Die Idee der Verstaatlichung der Banken und des Außenhandels war, die oligarchisch konzentrierte Macht über den nationalen Reichtum zu brechen, und die Dienstleistungen des Finanzwesens sowie die Gewinne des Außenhandels im Interesse der Mehrheit zu nutzen. Das war richtig, umso mehr während des Krieges, denn die wenigen Devisen konnten nicht einfach den Marktmechanismen ausgesetzt werden.
Wir haben bereits 1989 die Notwendigkeit einer größeren Öffnung des Finanzwesens formuliert. Es sollte eine Konkurrenz geschaffen werden, damit die Verfilzung, Verbürokratisierung und Schlamperei innerhalb des Finanzwesens aufhört. Wir wollten das Finanzsystem dynamischer machen. Wir hatten die Ziele bereits definiert, nur die Maßnahmen noch nicht, z.B. ob wir Privatbanken zulassen sollten.
Ich sehe es nicht prinzipiell als negativ an, wenn in einem Land Privatbanken aktiv werden. Voraussetzung ist allerdings, daß es eine übergeordnete Instanz gibt, die auf die Wahrung der nationalen Interessen achtet. Die staatlichen Banken müssen effizienter werden, um nicht zu verschwinden. Wenn das nicht geschieht, sehe ich die Konsequenzen sehr negativ. Es wird vielleicht keine Wiederholung der Vergangenheit, aber doch etwas sehr ähnliches geben: Daß die Banken sich in ein Instrument weniger Reicher verwandeln, die Kredite nur an die mit ihnen liierten Sektoren vergeben und die kleinen und mittleren Produzenten vergessen.

LN: Es gab dieses Jahr bereits große Probleme mit der Finanzierung gerade der kleinen und mittleren Produzenten und der Kooperativen. Durch die Dollarisierung der Kredite verloren zahlreiche Kleinproduzenten viel Geld. Ist es in einem Land mit einer derartigen Produktionsstruktur möglich, eine Kreditpolitik ausschließlich nach dem Kriterium der Rentabilität zu machen?
R.M.R.: Zum einen gibt es in diesem Land tatsächlich einige rentable Produktionszweige. Das Problem ist die Transparenz; darin liegen auch Ineffizienzen der alten Regierung: Man untersuchte nicht genau, welche Sektoren rentabel sind. Das wäre mein Konzept: Eine staatliche Bank kann effizient sein, indem sie den rentablen Unternehmen hohe und reale Zinsen für die Kredite abverlangt. Und damit könnten Präferenzbedingungen für Kleinproduzenten finanziert werden. Das ist eine Form.
Die andere Form wäre, daß alle nach Rentabilitätskriterien und mit realen Zinsen vergeben werden, es aber eine direkte staatliche Subvention gibt. Diese muß dann allerdings sehr gezielt, sehr punktuell und mit einem zeitlich absehbaren Ende stattfinden, eine Art finanzieller Anschub, der die Leute befähigt, selbständig aus der Situation herauszukommen. Ich glaube, daß die objektive strukturelle Rückständigkeit unserer Produktion kein massives Wachstum der Produktion ohne gezielte Subvention zuläßt.

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