“Wohnen” auf stinkenden Mülldeponien
“Im März 1992 besetzten 600 Familien in den Randbezirken von Lima Land, das vormals als Müllplatz diente. Sie bauten über Nacht Unterkünfte aus Strohhütten. Die Polizei vertrieb die Familien und zerstörte die Hütten, aber die Familien kehrten zurück… Die Szene wiederholte sich mehrere Male, die Menschen kehrten jedesmal zurück. Sechs Monate später war das Land mit den Behausungen von 100.000 Personen besetzt.”
Mit dieser Beschreibung als Grundlage qualifizierte der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen in seinem Bericht zur Lage der Weltbevölkerung vom vergangenen Jahr die Hauptstadt Perus mit ihren sechs Millionen EinwohnerInnen als “unhaltbare Stadt”. Ein Blick in die Umgebung von Lima läßt die/den unvorbereitete/n BesucherIn vermuten, fehlender Wohnraum sei das Hauptproblem Limas – jener Stadt, die einst DichterInnen und SchriftstellerInnen wegen ihrer sprichwörtlichen Schönheit inspirierte. Heute wächst sie inmitten von Unordnung, fehlender Planung und Umweltzerstörung. In Wirklichkeit ist dies aber nur eine weitere offenkundige Komponente einer seuchenartigen Krankheit, die von den ExpertInnen “extreme Armut” genannt wird.
Hütten, die an den Bergen kleben, stellen offen ihre Mängel zur Schau . Es sind stinkende ärmliche Behausungen, in denen zehn bis zwölf Personen in einem Raum leben. Tausende von Menschen wohnen buchstäblich auf dem Müll. Die Ansiedlungen werden ironischerweise “junge Dörfer” genannt und zeigen deutlich den Stand der Armut in dieser Hauptstadt. Laut dem Zensus von 1993 stieg innerhalb von zwölf Jahren der Anteil der “improvisierten Wohnungen” von 1,3 auf 9,6 Prozent. Unter diesen schönfärbenden Begriff fallen Wohnungen aus Stroh, Pappe und Plastikfolien. Die Zahl der Grundstücke, “die nicht zum Wohnen geeignet sind”, wuchs ebenfalls von rund 6.000 auf 14.000. Allein im Zentrum von Lima existieren mehr als 10.000 ärmliche Unterkünfte, die von den Behörden für Zivilschutz als unbewohnbar erklärt wurden.
Leben in Boca Negra
Die Familie Lopez ist ein typisches Beispiel für die Entbehrungen, mit denen sich die BewohnerInnen in extremer Armut in der peruanischen Hauptstadt herumschlagen müssen. Ihre Geschichte gleicht den Geschichten von sieben der zehn “Limeños” (BewohnerInnen von Lima), die laut Statistik als “arm” gelten: GelegenheitsarbeiterIn, mit Einkünften, die 100 Soles (weniger als 50 US-Dollar) monatlich nicht übersteigen. Drei Kinder, Ehefrau, Eltern und ein behinderter Bruder müssen unterhalten werden. Die Lopez leben in einer Hütte aus Stroh in einem der ärmsten Elendsviertel Limas: Bocanegra (schwarzer Schlund). Errichtet auf einer ehemaligen Müllkippe am Fluß Rímac, ist der Ort von den mehr als 32 Mülldeponien und ehemaligen Minen in der Nähe hochgradig vergiftet.
“Wenigstens sind wir in der Hauptstadt”
“Wir essen mittags in der Volksküche, ein Frühstück gibt es nicht. Für die Kleinen ja, weil sie an dem Programm ‘Ein Glas Milch’ teilnehmen” (das den Kindern im Schulalter und schwangeren Frauen ein kostenloses Frühstück bewilligt), erklärt Adelaida, die Ehefrau. “Wir wissen, daß dies vor 20 Jahren eine Müllkippe war, so haben wir uns mit allem hier abgefunden”, versucht sie, zu scherzen. “Wir haben nichts, wohin wir gehen können. Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn wir zurückgingen, aber dort ist es schlechter als hier, wenigstens sind wir in der Hauptstadt”.
Adelaida und ihr Mann Jorge stammen aus der Provinz Chimbote, der ärmsten Region des Landes. In ihrem einzigen Raum von etwa zehn Quadratmetern wohnen sie mit Hühnern, “die uns am Wochenende versorgen”, und einem Hund, “der uns vor den Ratten schützt”. Die Kälte halten sie durch mit Plastikbeuteln überzogene Matten ab, “die uns außerdem vor den Spinnen schützen.” Drei Betten, einige Pappkartons mit Kleidung, ein Stuhl und ein Tisch, auf dem sich Hausgeräte und ein Kerosinkocher türmen, vervollständigen das Mobiliar. “Wir leben schon seit zehn Jahren so. Wir kennen es nicht anders, wir können es auch nicht”, fügt Adelaida resigniert hinzu. Bezüglich der Krankheiten hat sie eine ganz spezielle “Philosophie”: “Immer stirbt man an irgendetwas. Solange es möglich ist, muß man leben und die Ernährung der Familie sichern.”
Der Kinderarzt Augusto Arruntegui, ehemaliger Direktor der öffentlichen Wohlfahrt des Hafens von Callao, zu dem Bocanegra gehört, kennt die Situation in den Armenvierteln. Er rechnet Allergien, Atemwegserkrankungen, parasitäre Infektionskrankheiten, Tuberkulose und sogar Hirnhautentzündung zu den Krankheiten, die eine Folge der Menschenanballung sind. Man schätzt, daß in Callao bis zu einem halben Dutzend Müllkippen existieren, auf denen Wohnsiedlungen gegründet wurden. Der unerträgliche Gestank, die Mükken, der Drogenkonsum und die wachsende Kriminalität sind charakteristisch für dieses Gebiet und geben ein Bild von der Umgebung, in der Tausende von Menschen zur Welt kommen, aufwachsen und sterben.
48 Prozent der Kinder sind chronisch unterernährt
Die Zahl der chronisch Unterernährten in diesen Zonen wächst. Nach einem nationalen Zensus unter SchülerInnen im vergangenen Jahr leiden 48 Prozent von ihnen im Alter zwischen sechs und neun Jahren unter chronischer Unterernährung. Der überwiegende Teil davon, etwa 84 Prozent, lebt in den Elendsvierteln. Nach einer Studie verwenden die ärmsten Familien Limas zwei Drittel ihrer finanziellen Mittel für die Ernährung, können sich aber nur die billigsten Grundnahrungsmittel leisten: Brot, Reis, Kartoffeln und Zwiebeln. Nudeln und Rindfleisch kommen gelegentlich bei denen auf den Tisch, denen es etwas besser geht. Früchte z.B. gibt es ganz selten.
Empfehlungen einer angemessenen Preispolitik für die Grundnahrungsmittel wie Milch, Fisch, Gemüse und Knollenfrüchte sind eine Utopie angesichts der derzeitigen Wirtschaftspolitik Perus. Übereinstimmend weisen verschiedene Bereiche darauf hin, daß die Sozialpolitik der Regierung im Bereich der extremen Armut versagt. Im vergangenen Jahr wurden nur 2,7 Prozent des Bruttosozialproduktes für die sozialen Belange dieser Sektoren aufgewendet. Laut einer Definition des peruanischen Statistikinstitutes gilt eine Person in Peru als “extrem arm”, wenn sie ihre minimalsten Bedürfnisse wie Wohnen, Gesundheit und Bildung nicht decken kann. Fast ein Viertel der 23 Millionen PeruanerInnen befindet sich in dieser Situation. “Arm” sind demnach 53 Prozent.
Untersuchungen verschiedener ExpertInnen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) weisen darauf hin, daß sich diese Situation in 20 Jahren verbessern würde, wenn das Bruttosozialprodukt um drei Prozent jährlich stiege. Bei fünf Prozent träte die Verbesserung nach zwölf Jahren ein, aber bei nur ein Prozent würden 60 Jahre benötigt. Ein Glück für Präsident Fujimori, daß nach Schätzungen von internationalen Organisationen das Wachstum des Bruttosozialproduktes in diesem Jahr 6,8 Prozent beträgt. Doch dem gingen sechs Jahre negatives Wachstum voraus. Und eine internationale Institution wie der “Rat für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Pazifikstaaten” befürchtet, die wachsende politische und ökonomische Stabilität Perus werde sich wahrscheinlich “in mehr ausländischen Investitionen und im Tourismus niederschlagen, doch das hohe Armutsniveau und die Arbeitslosigkeit können andauern… Für öffentliche Ausgabenprogramme wird das Geld fehlen”.
“Wir erkennen an, daß die Regierung viel für die Terrorismusbekämpfung gemacht hat, aber es ist an der Zeit, daß sie sich auch um solche wie uns kümmert, die an Hunger sterben. Es gibt keine Arbeit. Sie nehmen uns die Hilfsprogramme weg. Wo werden wir bleiben? Was wird aus unseren Kindern?” Das sind die verzweifelten Fragen von Adelaida Lopez. Von den Behörden erhält sie darauf zur Zeit keine Antworten.