Zahnausfall mit dreizehn
Gesundheitsversorgung in einem Randbezirk Limas
Rudy Aguilar ist stolz auf seine Wurmsammlung. Ob oxyuros vermicularis, der bis zu Fünf Meter m messende Schweinebandwurm, oder ascaridis lumbricoidis: für jede Spezies unter den Kriechtieren, die er im Stuhl seiner Patienten entdeckt, hält er ein Marmeladenglas bereit. Denn Rudy ist der Leiter des Laboratoriums einer privaten Krankenstation in Limas Randbezirk Villa El Salvador und dort für Blut-, Stuhl- und Urinanalysen zuständig. Im Sommer, so erzählt er, muss er bis zu dreißig Stuhluntersuchungen täglich vornehmen. Dann sind besonders bei Kindern parasitäre Erkrankungen an der Tagesordnung.
Schon die Adresse der Krankenstation, in der Rudy arbeitet, sagt einiges aus: Villa El Salvador, Sector 3, Grupo 25, Manzana P, Lote 17. Der mitten in der Wüste gelegene Bezirk entstand Anfang der 70er Jahre durch Landbesetzungen, expandierte in den 80ern auf Grund der Vertreibungen während des Bürgerkrieges und zählt inzwischen mehr als 400.000 EinwohnerInnen. Nur wenige Straßen besitzen hier einen eigenen Namen. Die Unterbezirke sind nummeriert und heißen Sektoren, kleinere Viertel nennen sich Gruppen, dann kommen die Hausblöcke – manzanas – und die Grundstücke – lotes. Diese Struktur spiegelt die Geschichte des Bezirks wieder, in dem die Bevölkerung trotz der Armut besser organisiert ist als in anderen jüngeren Ansiedlungen der Hauptstadt – den pueblos jovenes.
Die Klempner von Villa El Salvador
Die Krankenstation heißt Nutrivida. Sie liegt an einer holprigen Schotterpiste und ist in zwei einander gegenüberliegenden, bunt angemalten Häusern untergebracht. Von ihrer Art her ist sie einzigartig in Lima. UnterstützerInnen und Förderer des Projekts sind die katholische Kirche und eine deutsche Partnergemeinde in Baden-Württemberg. Wer Nutrivida besucht, kann sich ein Bild machen von den Gesundheitsproblemen und den typischen Krankheitsbildern in einem pueblo joven wie Villa El Salvador. Neben Rudy sind dort drei Ärzte, eine Psychologin, eine Sozialarbeiterin, eine Ernährungswissenschaftlerin und zwölf weitere MitarbeiterInnen angestellt. Sie leisten ihren Dienst für wenig Geld: die ÄrztInnen verdienen bei sechs Arbeitstagen zu jeweils acht Stunden etwa 540 US-Dollar im Monat, die einfachen Angestellten kommen auf knapp 100 US-Dollar. Wer in Villa El Salvador arbeitet und nicht in einer Privatklinik der reicheren Zonen Limas, verdient sich keine goldene Nase. “Wir sind da, um den Armen zu helfen”, sagt Alicia Castro, die Geschäftsführerin Nutrividas.
Villa El Salvador ist nicht gerade überversorgt mit ÄrztInnen. Das nächstgelegene Krankenhaus heißt María Auxiliadora und ist außerdem noch für die Nachbarbezirke San Juan de Miraflores und Villa María de Triunfo zuständig, die zusammen mit Villa El Salvador etwa eine Million EinwohnerInnen zählen. Das reicht vorn und hinten nicht. Die Betten sind knapp, und bei der ambulanten Behandlung bilden sich lange Warteschlangen. Dann gibt es noch eine Geburtsklinik, das Krankenhaus Juan Pablo II. Und eben Nutrivida. Natürlich haben sich auch frei praktizierende ÄrztInnen im Bezirk niedergelassen. Aber die sind teuer. Und oft unqualifiziert. Denn sogar ein Klempner kann eine Zahnarztpraxis eröffnen. „Der muss nur die Behörden und die Polizei bestechen!“ klagt Alicia.
Fettgebäck, Würste und Mayonnaise
Am Anfang eines Besuches bei Nutrivida steht für jeden Patienten ein Gespräch mit Eva Hernández, der Sozialarbeiterin. Sie sitzt in einem weißen Kittel hinter einem Holztisch, vor sich ein aufgeschlagenes, dickes Buch, in dem sie unentwegt schreibt, wenn sich neue PatientInnen vorstellen. Heute ist eine junge Mutter mit einer offensichtlich untergewichtigen, zweijährigen Tochter gekommen. Eva interessiert nicht nur Namen, Alter, Adresse oder eine eventuelle Krankenversicherung der Frau oder ihres Kindes. Sie stellt vor allem Fragen zur Krankengeschichte der Tochter und erkundigt sich nach familiären Problemen und den Essgewohnheiten. Nachdem sie Mutter und Kind zur Kinderärztin weiter geschickt hat, spricht sie Klartext: „Vielen Eltern ist gar nicht klar, dass nicht nur physische Gewalt, sondern auch Unter- oder falsche Ernährung eine Art Kindesmisshandlung ist. Zumindest wenn es aus Nachlässigkeit geschieht,“ erläutert sie. Eva entscheidet auch, ob die PatientInnen zwecks Beratung zur Ernährungswissenschaftlerin oder zur Psychologin geschickt werden. Oder sie stellt in schwereren Fällen, bei Aids zum Beispiel, eine Überweisung in das örtliche Krankenhaus aus, bei Depressionen in ein nahe gelegenes psychiatrisches Zentrum. Manchmal erstattet sie Anzeige bei der neu eingerichteten Staatsanwaltschaft von Villa El Salvador, falls ein Kind vom Vater oder Onkel missbraucht wurde. Das kommt leider oft vor.
Die Krankenstatistik, die Eva führt, gibt Auskunft über die Berufe der PatientInnen, und ist so repräsentativ für die Bevölkerung in diesem Sektor Villa El Salvadors. Fast alle Männer sind Gelegenheitsarbeiter, sie arbeiten entweder auf dem Bau, chauffieren Fahrgäste in einem mototaxi, einem dreirädrigen Motorrad, auf dessen Hintersitz zwei Personen unter einem Markisendach Platz nehmen können, oder sie sind Kassierer in einem der unzähligen colectivos. Das sind die Kleinbusse, die nach der fast völligen Privatisierung des Nahverkehrs unter dem Fujimori-Regime den Personentransport übernommen haben und die Straßen der Hauptstadt verstopfen. Die Frauen sind überwiegend als Wäscherinnen, Reinigungskräfte oder Haushaltshilfen in reicheren Vierteln tätig. Über 70 Prozent der PatientInnen sind Babys und Kinder bis zu zwei Jahren, die fast ausschließlich an Parasiten, Atemwegserkrankungen, Hautausschlägen oder Untergewicht leiden. In vielen Fällen kommen die Baby mit deutlichem Untergewicht zur Welt, weil sich die Mutter während der Schwangerschaft nicht ausgewogen ernährt hat. Ältere Kinder, die mit ihren Eltern in die Krankenstation kommen, sind mitunter übergewichtig. „Die essen schon mit fünf Jahren Fettgebäck, Würste, Pommes Frites, Mayonnaise und zu viel Schokolade. Die Eltern wissen nicht, was sie ihren Kindern da antun“, schimpft Carmen, die Ernährungswissenschaftlerin von Nutrivida. Sie ist die Zimmernachbarin von Eva.
Die erwachsenen PatientInnen kommen mit fast den gleichen Problemen wie die Kleinen. Im Winter, wenn sich eine kaltfeuchte Nebelwolke über dem unweit vom Pazifik gelegenen Stadtteil festsetzt, registriert Eva eine deutliche Zunahme von Tuberkulosefällen und Lungenentzündungen. Im Sommer, wenn ganz Lima unter einer schwülen Hitze leidet, wird in Villa El Salvador hingegen das Trinkwasser knapp, und die Lebensmittel verderben schneller. Dann sind Rudys Dienste gefragt. Auch Hautkrankheiten nehmen in dieser Zeit deutlich zu. Alte Leute kommen eher selten in die Krankenstation. In Villa El Salvador wird man nicht alt.
Kein Andrang beim Zahnarzt
Am lebhaftesten geht es in der Kleinkindabteilung von Nutrivida zu. Etwa zehn Mütter sitzen im Wartesaal und versuchen, ihren plärrenden Nachwuchs zu beruhigen. Auch drinnen, im Behandlungszimmer, ist ordentlich was los. Dort werden munter plappernde oder auch etwas verstört wirkende Kinder von Krankenhelferinnen gewogen, gemessen, einem Sprachtest und einer Reihe von weiteren Examen unterzogen. Zur Stelle ist auch die Kinderärztin, die für den medizinischen Teil der Untersuchung zuständig ist. Sogar pädagogisches Spielzeug für die Kleinen gibt es hier. „Die Eltern behaupten, sie könnten sich kein Spielzeug leisten. Aber wir zeigen ihnen, dass man mit einfachsten Mitteln selbst Spielzeug für die Kinder herstellen kann“, erläutert Alicia. Am wenigsten zu tun hat dagegen an diesem Tag der Zahnarzt. Doktor José Oré sitzt gelangweilt an seinem Schreibtisch und scheint sich zu freuen, dass endlich Besuch kommt, wenn es auch kein Patient ist. Sein Behandlungsstuhl und seine medizinischen Geräte sind nicht im besten Zustand, misst man sie an westeuropäischen Maßstäben. „Hier kommen nur Leute her, die von starken Zahnschmerzen geplagt werden,“ erklärt der Doktor. „Die meisten Eltern kümmern sich nicht um den Zustand der Zähne ihrer Kinder.“ Besonders beklagt der Zahnarzt die fehlende Mundhygiene seiner PatientInnen: „Die meisten putzen ihre Zähne nur einmal am Tag. Manche kommen sogar mit dem Mund voller Kekse hier her und wollen sich behandeln lassen.“ Mehrere von José Orés PatienInnen haben schon mit dreizehn oder 15 Jahren Zahnausfall. Dafür ist aber auch eine unausgewogene Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft verantwortlich.
Behandlung ohne Krankenversicherung
Die meisten PatientInnen müssen für die Behandlung bei Nutrivida zahlen. Allerdings weniger als in einem staatlichen Krankenhaus. Seit 1987 gibt es in Peru wenigstens eine kostenlose Krankenversicherung für Kinder, die staatliche Schulen oder Kindergärten besuchen. Und seit dem vergangenen Jahr sind auch Menschen versichert, die in extremer Armut leben. Alle anderen müssen in die eigene Tasche greifen. Auch diejenigen Eltern, die ihrem Kind die katastrophale Ausbildung auf einer staatlichen Schule nicht zumuten wollen. Viele EinwohnerInnen Villa El Salvadors sind zwar nicht extrem arm, aber zu arm , um sich keine Operation oder teure Medikamente leisten zu können. Und selbst die extrem Armen schrecken oft vor dem Papierkrieg zurück, der einer Versicherung vorausgeht. Wer allerdings keine Versicherung besitzt und einen schweren Unfall erleidet, kann mit dem Leben abschließen. Die Regierung Toledo plant zwar eine Krankenversicherung für alle Peruanerinnen, aber die MitarbeiterInnen bei Nutrivida sind pessimistisch. Dieser Präsident hat schon zu viel versprochen und nicht eingehalten.
Die Preise bei Nutrivida sind deutlich günstiger als im Krankenhaus des Bezirks. Eine ärztliche Untersuchung kostet etwa einen US-Dollar, ein Labortest ebenfalls einen US-Dollar. Besonders billig ist das Zahnziehen mit 1,50 Dollar. Im benachbarten staatlichen Krankenhaus wären dagegen zwei US-Dollar zu entrichten, in einer privaten Praxis in Villa El Salvador sechs US-Dollar und in den reicheren Stadtteilen Limas gar so viel wie in Westeuropa. Auch die dringendsten Medikamente kann Nutrivida dank der kirchlichen Unterstützung günstiger verkaufen als Apotheken und staatliche Hospitäler. Dazu Alicia Castro: „Viele Menschen hier wollen sich das Geld für eine ärztliche Untersuchung sparen und gehen als Erstes in eine Apotheke, wenn sie krank werden. Aber die Apothekenangestellten sind viel zu schlecht ausgebildet und verteilen nicht die richtigen Medikamente. Dann wird das Problem noch größer.“
Nutrivida will sich in erster Linie um PatientInnen kümmern, die nicht über eine Krankenversicherung verfügen. Deshalb sind die Preise niedriger als sonst. „Aber was sollen wir machen, wenn Patienten mit Krankenversicherung kommen?“ fragt Alicia und gibt die Antwort gleich selbst: „Wir behandeln sie natürlich auch. Manchmal kommen sie zu uns aus Callao oder Ate Vitarte, aus Stadtteilen am anderen Ende von Lima. Dann können wir sie doch nicht wieder zurückschicken.“ Schön und gut. Aber leider ändert auch Nutrivida das System der peruanischen Krankenversorgung nicht.