Kuba | Nummer 329 - November 2001

Zeitreise durch die Sechzigerjahre

Mit minimalen Mitteln soviel Gesundheit wie möglich

Kubanische Medizin: kompetente Ärzte und dankbare Patienten, obwohl es an Medikamenten und technischen Geräten chronisch mangelt. Eindrücke aus einem Krankenhaus in Havanna.

Jens Wenkel

Ein rostig tropfender Hahn spendet Wasser für das morgendliche Waschen im Schlafsaal des Galixto-Garcia-Hospitals. Hier im Lehrkrankenhaus der medizinischen Fakultät der Universität Havanna wurde bis sechs Uhr morgens operiert. Nüchterne Bilanz: zwei Blinddarmoperationen, eine Eileiterruptur, ein Darmverschluss und eine akute Magenperforation. In der Polytrauma-Einheit verweigerte der Defibrillator (Reanimationsgerät) seinen Dienst, gerade während eines Herzstillstandes. Mit grobem Hämmern gegen Deck- und Seitenplatte konnte das Gerät wieder in Gang gesetzt werden. Der Patient hat überlebt. Das sind Erinnerungen an den ersten 36-Stunden-Dienst in der Chirurgie des Galixto-Garcia-Krankenhauses.
Das Galixto-Garcia-Hospital liegt hoch oben auf dem Universitätshügel der Stadt und fungiert als studentisches Ausbildungszentrum der medizinischen Fakultät. Es wurde 1896 gegründet und liegt im Zentrum Havannas. Die alte vorrevolutionäre Architektur lässt nicht unbedingt ein Krankenhaus erahnen, doch beherbergen die palmenumstandenen klassizistischen Gebäude 850 Betten in 32 Pavillones (Liegesäle) und 14 Operationssäle. Das Krankenhaus ist eines der größten und ältesten Havannas und versorgt rund 500.000 Menschen in und um Kubas Hauptstadt. Beliebt ist es bei den Kubanern vor allem wegen der Kompetenz seiner Ärzte und dem 24-Stunden-Dienst in den wichtigsten Fachbereichen. Da stört es scheinbar wenig, dass die Einrichtung größtenteils aus den Tagen vor der Revolution stammt. In den ambulanten Sprechstunden werden monatlich 13.000 Patienten betreut.Ob auf den Avenidas in Havannas Altstadt oder in den lazarettartigen Liegesälen des Krankenhauses – überall gewinnt man den Eindruck, sich auf einer Zeitreise durch die 60er-Jahre zu befinden. Der Lebensrhythmus der Kubaner scheint sich konsequent der Geschwindigkeit der „Bit-Highways“ und dem westlichen Dogma des Zeitmangels zu verweigern. Ob die alten, liebevoll am Leben erhaltenen Chevrolets langsam durch die Straßen stottern oder der Professor sich bei der Chefvisite 20 Minuten an einem Patientenbett aufhält, um die Studenten in aller Ausführlichkeit zu unterrichten – nichts gibt es offenbar auf Kuba so reichlich wie Zeit.
Für die Studierenden aus dem In- und Ausland bietet die Ausbildung in der medizinischen Fakultät sehr gute Bedingungen. Ein Professor betreut in seinem Bereich drei bis sechs Studierende nebst Ärzten in der Weiterbildung. Gemeinsame Operationen sind fester Bestandteil einer Rotation in der Chirurgie, bei denen der Professor dann nebenher zeigt, wie man richtige chirurgische Knoten knüpft. Bei einem solchen Umgang miteinander entwickeln sich oft gute persönliche Beziehungen zu den Lehrenden. Ein Höhepunkt ist der Besuch von Patienten bei einem Ausflug aufs Land. Der alte russische Wagen von Prof. Hernan Perez Oramas ist voll besetzt mit einer Entenfamilie unter dem Beifahrersitz, Medikamenten und Blutdruckgerät auf dem Rücksitz und einem Schwein als Geschenk im Kofferraum. Immer wieder wird angehalten, um Patienten zu versorgen und Medikamente zu verteilen – der Wochenendeinsatz eines „Landarztes“, der während der Woche als Professor für Bauchchirurgie im Galixto-Garcia-Krankenhaus arbeitet.

Ärzte am Existenzminimum

Ernüchternd wirkt die Ausstattung des Krankenhauses, besonders die der Operationssäle. Trotz Temperaturen zwischen 25 °C und 37 °C gibt es in den 32 Schlafsälen mit Ausnahme der Intensivstation keine Klimaanlagen. Den Strom in den OPs liefert teilweise ein alter Bundeswehrgenerator, und mangels Geräten werden im Notfall die EKGs meist mit dem Defibrillator geschrieben. Als Schutz vor der Hitze dienen in den Patientenzimmern vor die Fenster gespannte Pappen oder Ventilatoren, die die Angehörigen mitgebracht haben. Außerdem herrscht chronischer Hygienemangel, der dazu führt, dass Familienmitglieder für Patienten und Ärzte Seife stiften. Der Mangel an Kanülen, Spritzen und Gummihandschuhen zwingt dazu, diese zu sterilisieren und wieder zu verwenden.
Bei diesem Arbeiten an der Notstandsgrenze schöpfen die Mitarbeiter Trost und Motivation aus der Dankbarkeit der kubanischen Patienten. So versorgt beispielsweise ein Patient zum Dank für eine erfolgreiche Operation seit Jahren einmal die Woche das chirurgische Team der Notaufnahme mit selbst gebackenem Kuchen und Kaffee aus der Thermoskanne. Solche Gesten und Anerkennung sind wichtig, denn bei einem
Monatseinkommen von 20 US-Dollar leben die kubanischen Ärzte am Existenzminimum. Wer als Arzt keine finanzielle Unterstützung von Exil-Kubanern aus dem Ausland erhält oder Nebeneinkünfte zum Beispiel durch Taxifahren erzielt, hat es schwer, sich über Wasser zu halten. Um einem „Exodus“ vorzubeugen, dürfen junge Ärzte und Pädagogen nach der Ausbildung das Land nicht verlassen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte unter anderem dazu, dass in Kuba kaum noch Fachbücher oder Fachzeitschriften gedruckt werden konnten. Der Nachholbedarf ist nach wie vor erheblich. Aus politischen, aber auch aus technischen Gründen haben nur wenige Professoren und Studenten Zugang zum Internet. Meist sind die verfügbaren Geräte völlig überlastet. Die größten Engpässe bestehen bei der Versorgung mit Medikamenten und medizinischem Gerät. Das uralte Röntgengerät in der Polytraumaeinheit funktionierte gerade noch, doch die Radiologen müssen ihre Filme selbst entwickeln. Dem Haus stehen zwei Ultraschallgeräte zur Verfügung. Fiel eines dieser Geräte aus, musste oft tagelang auf die Befunde der Patienten gewartet werden.

Kubanischer Erfindergeist

In einem beliebten kubanischen Witz fragt Fidel Castro einen Minister, wie viele Erfinder Kuba zu verzeichnen hat. Dieser antwortet: „Elf Millionen.“ Seit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch ist im Prinzip jeder Kubaner ein Tüftler und Erfinder, sodass trotz US-amerikanischer Blockade auch der Betrieb an den Krankenhäusern aufrechterhalten werden kann. Fehlende Produkte werden durch kubanische Erfindungen ersetzt, die so genannten inventos cubanos: Der Kaffee wird durch gemahlene und geröstete Erbsen gestreckt, an Stelle von Bühlau-Drainagen verwendet man einfache Plastikschläuche, statt Antibiotika Arzneien aus einer sich erstaunlich entwickelnden Pflanzenmedizin. Zur Behandlung der in Kuba häufig vorkommenden Atemwegserkrankungen verwendet man beispielsweise sehr erfolgreich ein Aloe-Extrakt. Zwei Pharmakologinnen sind im Galixto-Garcia-Hospital eigens mit der Zubereitung von Pflanzenmedizin betraut.
Eine gute klinische Ausbildung, vor allem der Erwerb ausgezeichneter manueller Fähigkeiten, kommt den kubanischen Ärzten bei der kaum verfügbaren Gerätediagnostik im Beruf zu Gute. 90 Prozent
aller Diagnosen werden mittels klinischer Untersuchung, Anamnese (Patientengeschichte), Stethoskop und eventuell einem Röntgenbild erstellt. Für die Versorgung der operierten Patienten stehen nur drei Basisantibiotika zur Verfügung.
Im Lager der so genannten Entwicklungs- und Schwellenländer gilt Kuba auf Grund seiner gesundheits- und bildungspolitischen Erfolge als Vorbild – nicht ohne Grund. Der im Juni 2000 von der Weltgesundheitsorganisation in Genf vorgelegte Weltgesundheitsbericht (www.who.int/inf-pr-2000) bescheinigt den Kubanern mit 68 Jahren die höchste Erwartung an gesunden Lebensjahren in Lateinamerika, die nur wenig unter der der US-Amerikaner (70 Jahre) liegt. Kuba gibt 13 Prozent (1999) seines Gesamthaushaltes für das Gesundheitswesen aus. Inzwischen gilt eine kubanische Ausbildung zum Arzt oder die Weiterbildung zum Facharzt in Lateinamerika durchaus als Aushängeschild. Das mag die internationale Personalstruktur in der chirurgischen Abteilung erklären: Während der vier Monate meines Austauschprogramms arbeitete ich mit Ärzten aus Belize, Peru, Äthiopien, Argentinien und dem Kongo zusammen. Die meisten strebten einen chirurgischen Facharzttitel „made in Cuba“ an.

Berliner Medizinstudierende können seit Januar 2000 ohne die obligatorischen Studiengebühren ein Tertial des Praktischen Jahres auf der sozialistischen Insel absolvieren. Im Austausch bilden sich kubanische Medizinstudierende an der medizinischen Fakultät der Charité fort.
Unter dem Namen Cubafair haben sich Studenten, Ärzte und Wissenschaftler der Humboldt-Universität Berlin zusammengeschlossen, um einen Medikamenten- und Medizingütertransfer sowie einen Austausch von Studenten mit der Universität in Havanna zu koordinieren. Kontakt (Information, Mitarbeit, Spende): Jens Wenkel, Telefon: 0 30/ 4 22 54 26, Rainer Mohnhaupt, Telefon: 030/4 50 51-2 28 oder -022, Fax: 4 50 51-9 02, E-Mail: cubafair@gmx.de oder cubafair@charite.de

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