Editorial | Nummer 239 - Mai 1994

Editorial Ausgabe 239 – Mai 1994

Noch immer herrscht Krieg in Chiapas. Es gibt eine Waffenruhe, mehr nicht, auch wenn die Kämpfe vom Januar schon fast wieder in Vergessenheit geraten sind. Die Schüsse von Tijuana im Norden haben die Schüsse von Chiapas im Süden überdeckt. In Tijuana starb der Präsidentschaftskan­didat der Regierungspartei PRI, Luis Donaldo Colosio. Die Schüsse im Süden bewirkten Aufbruch – die Schüsse im Nor­den bewirkten Lähmung. So schien es.
Colosio, der Technokrat aus der neolibe­ralen Schule und salinistischen Kader­schmiede, hatte für Kontinuität gestanden, und seinen Wahlkampf nur unter größten Mühen den neuen Realitäten nach Chiapas anpassen können. Wahlkampf­manager von Salinas war er gewesen. Der Ruf des Wahlbetrügers haftete ihm an – wie allen vorher. Für das “Solidaritäts”-Programm PRONASOL stand sein Name, für jenes Programm, dessen Versagen der Chiapas-Aufstand so deutlich gemacht hatte.
Bis heute ist unklar, wer die Auftraggeber für den Mord waren. Klar ist: Wenn das Attentat aus kaltem politischen Kalkül ge­plant wurde, dann von Gegnern jeder Veränderung. Denn der Mord hat die Stimmung verändert. Plötzlich wurde be­wußt, daß Aufbruch auch Unsicherheit bedeutet, Parteiendiktatur hingegen Sicherheit. Plötzlich wurde bewußt, daß etwas, das aus den Fugen gerät, auch schwierig neu zusammenzusetzen sein könnte.
Die regierende PRI hat mit der Ernen­nung Ernesto Zedillos zum neuen Kandi­daten dokumentiert, was viele im ersten Moment für das einzig wünschenswerte hielten: Keine Experimente, nichts aufs Spiel setzen. Zedillo – die größtmög­liche Kontinuität des salinistischen Pro­jektes.
Natürlich sehen Umfragen auch Zedillo bei über 50 Prozent der WählerInnen-stimmen. Und bislang scheint es unter den politischen Parteien keine zu geben, die den offenkundigen Niedergang der PRI und ihre internen Streitigkeiten für sich zu nutzen wüßte.
Auch die Bauern- und Bäuerinnenbewe­gungen, die indianischen Organisationen, die sich nach dem Aufstand von Chiapas offensiver denn je in der Öffentlichkeit zeigen und am 75. Todestag Emiliano Zapatas einige zehntausend Menschen auf dem “Zocalo” zusammenbrachten, schei­nen – und das macht sie sympathisch – ihre politischen Forderungen erst einmal un­mittelbar ausfechten zu wollen. Ihre Option ist nicht eine Partei oder die an­dere, sondern Demokratie und vor allem Land.
Und darum wird in diesen Tagen in Chiapas gekämpft. Tausende von Hektar Land sind in der Hand von Bauern und Bäuerinnen. Schon geben sich einige der Besitzenden geschlagen, reden von staat­lichem Ankauf und Entschädigungszah­lungen. Schon aber gibt es dort auch Tote, wo sich Viehzüchterverbände bewaffnen. Der kurze Moment der Einigung, den der Mord an Colosio hervorbrachte, war oh­nehin ein hauptstädtischer, ist aber längst wieder aufgebraucht. Auf dem Land geht die Polarisierung weiter.
In Chiapas herrscht noch immer Krieg. Weniger denn je können heute die Bilder von Anfang März, die Bilder aus der Frie­denskathedrale von San Cristóbal de las Casas darüber hinwegtäuschen. Selbst der Versuch, die Verhandlungen zwischen Re­gierung und Zapatistas wiederaufzuneh­men, gerät zum schwierigen Unterfangen. Die Drohung mit Gewalt ist damit in Mexiko heute ein effektives Mittel der po­litischen Auseinandersetzung. Darin liegt die Gefahr, aber darin liegt vor allem auch das Armutszeugnis für das so gründ­lich “modernisierte” Mexiko.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren