Editorial Ausgabe 267/268 – September/Oktober 1996
Die Zapatisten erklären die Dialogverhandlungen in Chiapas vorerst für beendet. In sechs verschiedenen Bundesstaaten Mexikos attackiert die in den letzten Wochen neu aufgetretene Guerillaorganisation EPR (Revolutionäre Volksarmee) Militärcamps und Polizeiposten, Präsident Ernesto Zedillo erklärt dem “Terrorismus” den Krieg und wünscht sich ein hartes Durchgreifen der Sicherheitsorgane: In Mexiko gehören die Zeiten politischer Stabilität schon lange der Vergangenheit an.
Es ist sicher noch zu früh, den unruhigen August zu einer entscheidenden Zäsur, einem Wendepunkt der Entwicklung Mexikos zu erklären. Aber es fallen doch immer dunklere Schatten auf das nur noch schwach scheinende Licht der Hoffnung des zivilen Übergangs vom Einparteien-Staat zu einer demokratischen Gesellschaft. Seit 67 Jahren hat die regierende PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) das Land bereits im Griff, und nichts deutet darauf hin, daß die Funktionäre der Staatspartei auch nur auf ein Körnchen Macht verzichten wollen. Stattdessen scheinen sie bereit, das Land bis an den Rand des Bürgerkrieges schlittern zu lassen – koste es was es wolle.
Das im Januar mit großem Getöse und Jubelkommentaren gefeierte Abkommen zwischen EZLN und Regierung über “Rechte und Kultur der indianischen Völker” steht nur auf dem Papier. Die euphemistischen Wörter über eine “neue Beziehung zwischen indianischen Völkern und dem Staat” blieben hohle Rhetorik. Stattdessen führt die Regierungsdelegation die Zapatisten an der Nase herum und verstärkt derweilen die Militarisierung nicht nur des südlichsten Bundesstaates Chiapas. Im Moment ist es sicher noch zu voreilig, die Guerilleros der EPR klar einzuschätzen, doch bereits jetzt kann gesagt werden, daß ihre militärischen Aktionen und die damit verbundenen programmatischen Vorstellungen kaum zur Lösung der Probleme beitragen werden.
Einzig die Zapatistas verbinden den sozialen Protest noch mit der konstruktiven Vision einer pluralen und sozialen Gesellschaft, die auf den vielen Beinen einer partizipativen Demokratie stehen könnte. Doch die Uhren ticken gegen die Rebellen im Dschungel. Auf diesem Boden kann auch eine Organisation wie die EPR wachsen, die aber eher ein Teil des Problems zu sein scheint: des ruinösen und gewalttätigen Zerfalls der mexikanischen Gesellschaft, in der kein politischer Akteur mehr einen glaubwürdigen Ausweg aus der Dauerkrise anzubieten vermag. Ihr Diskurs und ihre bisherigen bewaffneten Aktionen erinnern an Theorie und Praxis der Guerillabewegungen der 60er und 70er Jahre: Eine bewaffnete Avantgarde eröffnet den Krieg gegen die Staatsmacht, die Massen sollen folgen, und schließlich zieht eine “revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung” in die Hauptstadt ein.
Zehntausende waren die Opfer der Guerillakriege Zentralamerikas, die mit diesem Programm ausgefochten wurden, und die Ergebnisse sind niederschmetternd. Doch daraus folgt nicht unbedingt, daß die EPR keine Basis aufbauen könnte, zu groß ist die Verbitterung in den abgelegenen Bergdörfern im Süden Mexikos. “Die EPR kämpft um die Macht, die EZLN für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit”, so formulierte Subcomandante Marcos den entscheidenden Unterschied.