Ecuador | Nummer 289/290 - Juli/August 1998

Das Gespenst Bucarams

Der populistische Präsidentschaftskandidat Alvaro Noboa nimmt die erste Hürde

Ein steinreicher Unternehmer ist in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen am 12. Juli gekommen, aber seine Person ist Nebensache. Hinter Alvaro Noboa schwebt das Gespenst Abdalá Bucarams, der wegen „geistiger Unfähigkeit“ Anfang 1997 des Amtes enthoben worden war. Damals feierte das Volk auf den Straßen Bucarams Absetzung, jetzt stimmten rund 30 Prozent für seinen Freund Noboa. Nur der Christdemokrat Jamil Mahuad erfreute sich mit circa 37 Prozent größerer Beliebtheit.

Elisabeth Schumann

Wenn Noboa Präsident wird, müssen wir gleich noch einen neuen Übergangspräsidenten wählen!“ Diese Aussage bringt das Horrorszenario vieler EcuadorianerInnen auf den Punkt. Die Angst ist groß, das Land könnte auch nach der Stichwahl am 12. Juli nicht zur Ruhe kommen. Die tiefe politische Krise der letzten Jahre könnte in die nächste Runde gehen. Andererseits haben bei Wahlpflicht rund 30 Prozent der WählerInnen eben diesem Noboa Ende Mai ihre Stimme gegeben – ein Ausdruck dafür, daß das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Institutionen des Landes einen neuen Tiefpunkt erreicht hat.
Noboa tritt als erfolgreicher und patriotischer Geschäftsmann im Namen des Poder de los Pobres auf, der „Macht der Armen“. Doch nicht nur hierin liegen Parallelen zu seinem politischen Ziehvater Bucaram, der sich aus seinem Exil in Panama immer wieder lautstark zu Gunsten Noboas in den Wahlkampf eingeschaltet hat. Mit der gleichen Sturheit wie der Ex-Präsident verweigerte er sich konkreten inhaltlichen Aussagen, Interviews und Fernsehdebatten. Und dennoch hat Noboa als der reichste Mann des Landes handfeste Argumente: Im Zentrum seiner ausschließlich auf die Küstenregion des Landes zugeschnittenen Kampagne stand sein Versprechen, den Wiederaufbau der durch das Klimaphänomen El Niño völlig verwüsteten Gebiete voranzutreiben. Er finanzierte mobile Krankenstationen, verschenkte Medikamente und Grundnahrungsmittel.
Nicht einmal eineinhalb Jahre ist es her, daß über zwei Millionen EcuadorianerInnen in landesweiten Demonstrationen die Absetzung des damaligen Präsidenten Bucaram von der populistischen Partido Roldosista Ecuatoriano (PRE) gefordert und bekommen haben: Am 7. Februar 1997 wurde er wegen „geistiger Unfähigkeit“ durch den Kongreß seines Amtes enthoben (vgl. LN 273). Nachträglich wurde diese juristisch äußerst umstrittene Entscheidung ebenso per Volksabstimmung legitimiert wie die Ernennung von Fabián Alarcón, dem damaligen Parlamentspräsidenten und ehemaligen Bucaram-Verbündeten, zum Übergangspräsiden-ten bis zu vorgezogenen Neuwahlen.

„Aladrón“ – zurück zur „Normalität“

Alarcóns Regierungsstil war von Anfang an dadurch geprägt, daß seine Präsidentschaft nicht auf einem überzeugenden Programm, sondern ausschließlich auf der öffentlichen Ablehnung Bucarams gründete. Im Parlament hing er von anderen ab: Seine Fraktion verfügte lediglich über zwei Abgeordnete. Schon im Moment seines Amtsantritts verpaßte Alarcón die Gelegenheit, Enthusiasmus und Entschlossenheit der Februar-Demonstrationen für seine Regierungsarbeit zu nutzen. Nachdem die von ihm angestrebte Verlängerung seines Mandates bis zum Jahre 2000 per Mehrheitsbeschluß des Parlaments vom Tisch war, beschränkte er sich darauf, unpopuläre Entscheidungen aufzuschieben und für die Dauer seiner eineinhalbjährigen Amtszeit zwischen den Fronten zu manövrieren. Wer geglaubt hatte, mit dem Ende Bucarams werde sich eine neue politische Kultur etablieren, wurde enttäuscht. Zwar ging die Korruption unter Alarcón auf ein „normales“ Ausmaß zurück, doch auch er hatte bald seinen Spitznamen weg: „Aladrón“ nach dem spanischen ladrón: Dieb, Räuber.
Die größeren Parteien erteilten jeglicher Kooperation mit der Regierung Alarcón früher oder später eine Absage und bereiteten sich sorgfältig auf den Wahlkampf vor. Gleichzeitig bestand jedoch kein Interesse daran, Alarcón vorzeitig abzusägen, das Ergebnis wäre schließlich nur eine Übergangsregierung zur Ablösung einer Übergangsregierung gewesen. So waren Belanglosigkeit und Übergangscharakter der beste Schutz für die Regierung Alarcón.
Für die ecuadorianische Wirtschaft war Alarcóns Verzögerungstaktik nicht unbedingt hilfreich. Krisenstimmung herrscht vor, denn sowohl der Grenzkonflikt mit dem Nachbarstaat Peru Anfang 1995 und das Durcheinander der Amtszeit Bucarams haben Spuren hinterlassen. Dazu kommen zwei aktuelle Probleme: zum einen die Folgen des Klimaphänomens El Niño, zum anderen der Verfall des Rohölpreises auf dem Weltmarkt.

Verschärfte Bedingungen: El Niño und sinkende Ölpreise

El Niño hat in der Küstenregion des Landes immense Sturm- und Überschwemmungsschäden verursacht, bei denen über 200 Menschen ums Leben kamen. Rund 26.000 Menschen haben ihre Hütten und geringen Besitztümer in den gewaltigen Wassermassen verloren und leben derzeit in provisorischen Aufnahmelagern oder sind in die Städte migriert. Trinkwasserknappheit sowie schlechte Hygienebedingungen tragen zur Gefahr von Epidemien bei: Denguefieber, Malaria, auch einige Cholerafälle sind bereits aufgetreten. Die Verkehrsinfrastruktur ist weitgehend zusammengebrochen: Zahlreiche Brücken sind eingestürzt, Straßen sind verwüstet. Das Ausmaß der Schäden ist bislang nur zu erahnen.
Der Ölpreis auf dem Weltmarkt ist seit November letzten Jahres von 16 US-Dollar auf 9 US-Dollar pro Barrel gesunken. Auf der Basis durchschnittlicher Exporterlöse der neunziger Jahre bedeutet jeder Dollar weniger pro Barrel für Ecuador einen Verlust von etwa 7,5 Millionen US-Dollar im Monat. Im Vergleich zu den achtziger Jahren hat die Abhängigkeit des Staatshaushaltes vom Erdölexport zwar abgenommen, nach wie vor aber nimmt der Erdölsektor mit 35,7 Prozent der Staatseinnnahmen eine entscheidende Rolle ein.

Alarcóns Erbe ist wenig verlockend

Vor diesem Hintergrund mußten die Konjunkturprognosen deutlich korrigiert werden. So erwarten Experten für dieses Jahr nur noch eine Wachstumsrate von 1,5 Prozent gegenüber prognostizierten 2,5 Prozent. Im Vorjahr konnte noch ein Wirtschaftswachstum vom 3,4 Prozent verzeichnet werden. Das Haushaltsdefizit von 6,9 Prozent des Bruttosozialproduktes, das Bucaram hinterlassen hatte, konnte nicht abgebaut werden, sondern nähert sich kontinuierlich der 8-Prozent-Marke.
Eine Inflationsrate von 25 Prozent hatte die Regierung für 1998 angesteuert, aber von diesem Wert spricht niemand mehr. Selbst Prognosen von 35-38 Prozent erweisen sich angesichts der Konjunkturdaten als sehr optimistisch.

Die Asamblea Nacional – Trumpfkarte der Regierung

Lange blieb der Übergangsregierung ein politischer Trumpf: Sie hatte versprochen, die von der indigenen Dachorganisation CONAIE seit Beginn der neunziger Jahre und später auch anderen Vertretern unterschiedlicher sozialer Bewegungen und den Gewerkschaften geforderten Versammlung zur Verfassungsreform einzuberufen – eine Art Aushängeschild für Alarcóns Zugeständnisse und für seine Dialogbereitschaft.
Erste Zweifel regten sich schnell: die amtlichen Formulierungen bezüglich des rechtlichen Status der Asamblea Nacional und somit ihrer Kompetenzen gegenüber Legislative und Exekutive ließen Hintertüren offen. Vorschläge der Versammlung zur Überarbeitung der Verfassung erfolgen somit „unter Vorbehalt“ (vgl. LN 279/280). Aus Protest veranstaltete die CONAIE gemeinsam mit der Koordinierungsstelle sozialer Bewegungen ab dem 12. Oktober vergangenen Jahres eine eigene Versammlung, eine Asamblea Popular, in der sie ihre Forderungen u.a. nach der Festschreibung Ecuadors als „plurinationalen Staat“, die Stärkung indigener Rechte und Institutionalisierung von Partizipationsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft formulierten.

Mühsame Einigung

Nach einer langwierigen Debatte erzielten Parlamentsabgeordnete und VertreterInnen aus Wirtschaft und sozialen Bewegungen eine Einigung: Die Versammlung sollte ihre Arbeit am 20. Dezember 1997 für die Dauer von 60 Tagen aufnehmen und Vorschläge zur Reform der Verfassung erarbeiten. Gemäß der Ergebnisse der Volksabstimmung erfolgte die Wahl der KandidatInnen direkt, wovon sich die VertreterInnen unterschiedlicher sozialer Bewegungen eine größere Chance versprachen als von Wahlen nach Listen. Leider verkehrte sich diese Hoffnung in das Gegenteil, da das System die etablierten Parteien und bekannten Persönlichkeiten begünstigte. Ursprünglich Ausdruck des Protestes weiter Teile der Bevölkerung und Vision einer Alternative, mutierte die Versammlung zu einem Forum mit vergleichbaren Konstellationen wie im Parlament, auch wenn immerhin nicht nur BerufspolitikerInnen, sondern auch andere Berufsgruppen vertreten waren.

Konservative Allianz gibt die Richtung vor

Im Vordergrund der Diskussionen standen formale Aspekte wie Anzahl der VertreterInnen, Abstimmungsmodalitäten usw.. Wie unterschiedlich indes die politischen Vorstellungen waren, wurde spätestens mit Beginn der Arbeit der Asamblea deutlich. Während die sozialen Bewegungen auf neue Partizipationsmöglichkeiten und die Stärkung ihrer Vertretung gehofft hatten, sahen viele der auf Machterhalt bedachten ParteienvertreterInnen in ihr allenfalls ein Instrument zur Stärkung der Exekutive. Die Allianz zwischen dem neoliberalen PSC und der christdemokratischen Democracia Popular (DP), mit 20 und 10 VertreterInnen von 70 Sitzen die beiden stärksten Fraktionen, gab die Richtung vor. Das Mitte-Links-Spektrum mußte seine Prioritäten zurückschrauben. Ex-Präsident Osvaldo Hurtado (DP) wurde zum Vorsitzenden der Versammlung gewählt und setzte sich für seine Vision der besseren Regierbarkeit ein, das heißt Reformen vor allem innerhalb der parlamentarischen Strukturen. Nach Ablauf des Mandats am 30. April beschlossen die VertreterInnen eigenständig die Verlängerung ihres Mandats bis zum 5. Juni, woraufhin Alarcón ihnen seine Unterstützung endgültig entzog.

Rückendeckung für Mahuad

Die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen am 12. Juli entscheidet somit auch über das Schicksal der erarbeiteten Vorschläge zur Verfassungsreform. Was Noboa aus diesen Vorschlägen machen würde, ist völlig ungewiß. Neben Noboas Nähe zu Bucaram liegt hier der Grund dafür, daß die Verlierer der ersten Runde, Ex-Präsident Rodrigo Borja von der sozialdemokratischen Izquierda Democrática (ID) und der bekannte Fernsehjournalist Freddy Ehlers mit seinen Movimiento Ciudadanos Nuevo País den christdemokratischen Gegenkandidaten Mahuad unterstützen.
„Auch wenn zwischen seinen ideologischen Ansichten und Prioritäten für das Regierungsprogramm und unseren Positionen gewaltige Unterschiede sind, Mahuad ist jedenfalls kein Instrument des Bucaram-Populismus“, verkündete Borja in einem Interview Anfang Juni. León Febres-Cordero, Ex-Präsident, Bürgermeister von Guayaquil und Oberhaupt der neoliberal-autoritären PSC hingegen hat sich die Unterstützung Noboas vorbehalten, ebenso wie auch einzelne Vertreter des Amazonas-Flügels der indigenen Partei Pachakutik noch mit dem populistischen Kandidaten in Verhandlungen stehen.
Ehlers, der sich bei den Wahlen 1996 als politischer Neuling und Hoffnungsträger breiter Teile des gemäßigten linken WählerInnenpotentials etablieren konnte, aber in der ersten Runde ausschied, kam diesmal nur auf knapp 13 Prozent und liegt damit noch hinter Borja, der knapp 15 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Ehlers gelang es nicht, die zersplitterte Linke hinter sich zu bringen und verlor, nachdem Mahuad (DP) und später Borja (ID) in den Wahlkampf eingestiegen waren, beständig an Boden.

Jaime Nebot – die „neue“ PSC?

Vor allem aber brachte Jaime Nebots Verzicht auf eine Kandidatur für den autoritär-neoliberalen Partido Social Cristiano (PSC) die Wahlprognosen gründlich durcheinander. Die PSC ist nicht nur traditionell die stärkste Fraktion im Kongreß, Nebot wurde auch sowohl 1992 und 1996 in der ersten Runde stimmenstärkster Kandidat. In der letzten Wahl bildete sich im Mitte-Links-Spektrum eine breite „Stop-Nebot-Front“, die Abdalá Bucaram als dem vermeintlich kleineren Übel zum Sieg verhalf.
Parteiinterne Streitigkeiten um Nebots Kooperationskurs gegenüber dem christdemokratischen Bündnispartner DP in der Asamblea Nacional führten dazu, daß die in Guayaquil beheimatete PSC letztendlich tatsächlich keinen eigenen Kandidaten stellte und damit der Bucaram-Marionette Noboa das Feld – das heißt die WählerInnenstimmen der Küste – überließ. Ecuador ist von regionalen Rivalitäten außerordentlich stark geprägt, so daß die geographische Heimat eines Kandidaten nicht selten bedeutender ist als seine politische Heimat. Um die Stimmen des Hochlands bemühten sich hingegen fünf KandidatInnen des Mitte-Links-Spektrums.

Mahuad als „Mann der Mitte der Welt“

Profitiert hat von Nebots Rückzug vor allem Jamil Mahuad, Bürgermeister von Quito und Kandidat der christdemokratischen DP. Er konnte sich als „Mann der Mitte“ profilieren und Nebots verwaistes WählerInnenpotential im Hochland mit dessen Unterstützung zum Teil für sich gewinnen. Mit 36,66 Prozent der Stimmen ging Mahuad als eindeutiger Sieger aus der ersten Runde hervor. Im andinen Hochland erfreut sich der Rechtswissenschaftler und Verwaltungswirt großer Beliebtheit. 1996 wurde er in seinem Amt als Bürgermeister von Quito bestätigt und hatte während der Demonstrationen und dem Sturz Bucarams im Februar 1997 eine entscheidende Vermittlerrolle zwischen Kongreß, Streitkräften und dem Botschafter der USA inne.
Sein Programm unterscheidet sich kaum von dem der anderen und läßt sich im wesentlichen auf die Modeworte Privatisierung, Flexibilisierung, Liberalisierung und Dezentralisierung reduzieren. In seinem Wahlkampfspot spazierte Mahuad um Ecuadors bekanntes Äquatordenkmal Mitad del Mundo (Mitte der Welt) mit einem Fuß auf der Nord- und dem anderen auf der Südhalbkugel – eben ein „Mann der Mitte“. Mahuad baut nun auf die Stimmen derer links von der Mitte, die Noboas Wahl in jedem Fall verhindern wollen.
Die Krise des politischen Systems Ecuadors geht weiter, die Parteien sind weit entfernt von der Gesellschaft und weitgehende Partizipationsmöglichkeiten, wie sie von sozialen Bewegungen ge-fordert werden, sind noch nicht in Sicht. Bucaram stellt zwar die Karikatur eines Politikertyps dar, ist aber in der ecuadorianischen „Partidocracia“ alles andere als ein Einzelfall. Das Vertrauen der WählerInnen in die politischen Institutionen des Landes ist so grundlegend erschüttert, daß die immer kurzfristigere Orientierung – „Der Staat kann mir sowieso nicht helfen, Noboa schenkt mir wenigstens Reis.“ – fatalerweise Sinn macht. Angesichts dieser verfahrenen Situation sind die von der Asamblea Nacional erarbeiteten Reformvorschläge trotz Bedenken grundsätzlicher Art ein Anlaß zur Hoffnung auf einen Minimalkonsens, der die Wahl des Bucaram-Freundes Noboas verhindern und den Staat über unterschiedliche politische Ansichten hinweg zumindest wieder manövrierfähig machen könnte.

“Mi loco vuelve”

Bucaram jedenfalls freut sich auf sein Comeback nach dem möglichen Amtsantritt Noboas im August. Seine Partei, der PRE, arbeitet bereits an einem Aufkleber zu seiner Begrüßung mit der Aufschrift „Mi loco vuelve“ – Mein Verrückter ist wieder da.

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