Gewalt und Staat | Nummer 397/398 - Juli/August 2007

„Der Skandal deckt auf, was längst bekannt war“

Interview mit dem Kolumbien-Experten Raul Zelik

Der Autor Raul Zelik beschäftigt sich mit dem Krieg in Kolumbien. Den Lateinamerika Nachrichten gegenüber erläutert er die Hintergründe des aktuellen Parapolitik-Skandals, der Verbindungen zwischen Paramilitärs und Politik offenbart.

Interview: Tobias Lambert

Eines der klassischen Kriterien für Staatlichkeit besteht im Vorhandensein eines staatlichen Gewaltmonopols. Der Krieg in Kolumbien erscheint von außen betrachtet äußerst unübersichtlich. Wer verfügt in dem Land eigentlich über das Gewaltmonopol?

Man kann in Kolumbien von einer Krise der Staatlichkeit sprechen, allerdings in einem anderen Sinn als der Begriff „gescheiterter Staat“ (failed state) nahelegt. Ich glaube nicht, dass die Krise in Kolumbien in erster Linie damit zu tun hat, dass sich der Staat nicht ausreichend entwickelt hat. Es ist vielmehr so gewesen, dass sich ein Teil der Bevölkerung seit zwei Jahrhunderten immer wieder gegen die Ordnung erhoben hat und die Eliten darauf fast ausschließlich mit Repression antworteten. Aus den Revolten sind deshalb lang andauernde bewaffnete Aufstände hervorgegangen, die aufgrund der Topographie Kolumbiens – ein bergiges, immer noch stark bewaldetes Land – militärisch nicht besiegt werden konnten.
Die bewaffneten Rebellen heben das Gewaltmonopol auf und agieren in manchen Landesteilen als Gegen-Staat. Diese Situation herrscht praktisch ununterbrochen seit 1948.

Aber es stehen sich doch nicht nur Armee und Guerillas gegenüber, sondern es gibt auch bewaffnete Gruppen der Drogenmafia und die Paramilitärs.

Die Ausbreitung des Drogenhandels in den Siebziger und Achtziger Jahren hatte mit der Krise des staatlichen Gewaltmonopols zu tun. Polizei und Justiz haben das Land nicht flächendeckend kontrolliert, andererseits waren sie käuflich. Auf diese Weise – und natürlich auch wegen Armut und ökonomischer Perspektiven – hat sich der Drogenhandel als Wirtschaftsbranche rasant entwickeln können.
Der Drogenhandel braucht jedoch wie alle anderen Branchen auch eine Instanz, die über die Erfüllung von Verträgen wacht. Normalerweise ist ja genau das die grundlegende Funktion eines bürgerlichen Staates: Er sorgt dafür, dass Geschäftspartner, die immer auch Konkurrenten und Gegner sind, sich aufeinander verlassen können. Der Staat sanktioniert den Bruch von Verträgen. Er wirkt als gesonderte Gewalt. Weil der Drogenhandel illegal ist, kann der Staat diese Funktion jedoch nicht ausüben. Deswegen entstehen im Umfeld von Kriminalität immer auch bewaffnete Strukturen. Die Gewaltstrukturen sorgen dafür, dass Absprachen eingehalten werden.
Die Illegalisierung des Drogenhandels befördert also das Entstehen bewaffneter Gruppen und lässt das staatliche Gewaltmonopol noch stärker erodieren.
Mit den paramilitärischen Gruppen ist es komplizierter. Sie sind in den Achtziger Jahren aus dem Staatsapparat hervor gegangen und von den ökonomischen Eliten finanziert worden. Ich würde in diesem Zusammenhang von einer Informalisierung der Sicherheitspolitik sprechen. Bestimmte Funktionen von Polizei, Justiz und Armee wurden aus dem Staat ausgelagert. Das staatliche Gewaltmonopol wurde dadurch noch weiter aufgeweicht, allerdings mit dem Ziel, das grundlegende Herrschaftsverhältnis zu verteidigen.

Im Zusammenhang des so genannten parapolítica-Skandals werden in Kolumbien gerade die Verbindungen zwischen Politik, Wirtschaft und paramilitärischen Gruppen aufgedeckt. Bislang wurden die Paramilitärs von Vielen als eigenständiger politischer Akteur gesehen. War das überhaupt jemals zutreffend?

Der Skandal deckt auf, was eigentlich längst bekannt war. In dem Zusammenhang wird das Problem vieler NRO deutlich. Viele Nichtregierungsorganisationen haben versucht, sich im kolumbianischen Konflikt zwischen Staat und der Linken nicht allzu deutlich zu positionieren. Sie haben also angefangen Mittelpositionen einzunehmen. Wenn die Linke sagte, der Paramilitarismus sei mit der Staatsmacht weitgehend identisch und der kolumbianische Staat erwiderte, „wir bekämpfen die Paramilitärs als Kriminelle“, dann entgegneten viele NRO: „Es gibt punktuelle, manchmal auch strukturelle Verbindungen zwischen Paramilitärs und Sicherheitskräften.“ Das Problem daran ist: Eine Mittelposition macht einen zwar oft zum begehrten Gesprächspartner, ist aber deswegen noch lange nicht inhaltlich richtig.
Mittlerweile ist klar, dass der Paramilitarismus in Kolumbien sich zu keinem Zeitpunkt vom Staat verselbständigt hatte. Er wurde auf Betreiben der Militärgeheimdienste mit ausländischer Unterstützung aufgebaut, von Teilen der politischen Eliten vorangetrieben und von wichtigen einheimischen und ausländischen Unternehmen finanziert. Darüber hinaus hat die Drogenmafia mit ihrem Personal und ihren Ressourcen eine Schlüsselrolle in diesem Projekt gespielt.
Diese Zusammenhänge sind jetzt öffentlich geworden, weil solche Verbindungen immer instabil, immer von gegenseitigem Misstrauen geprägt sind. Es hat Verrat gegeben und mittlerweile sitzen mehr als 20 Abgeordnete der Regierungskoalition im Gefängnis – und das obwohl die Justiz in Kolumbien wirklich käuflich ist! Der Kommandant des paramilitärischen Dachverbandes AUC, Salvatore Mancuso, hat hochrangige Militärs als Hintermänner benannt und sogar Francisco Santos, den Vizepräsidenten Kolumbiens, belastet. Santos, der von europäischen Regierungen gern als „Verteidiger der Menschenrechte“ bezeichnet wird und eine Organisation von Entführungsopfern leitet, habe ihn, so Mancuso, aufgefordert, auch in Bogotá stehende AUC-Verbände aufzubauen.
Der Paramilitarismus war und ist also eine Strategie der Eliten zur Kontrolle Kolumbiens.

Aber wenn Richter Paramilitärs ins Gefängnis stecken, kann man doch nicht von „dem Staat“ reden…

Staat ist natürlich auch in Kolumbien nichts Homogenes. Gesellschaftliche Konflikte spiegeln sich – in verzerrter Form – auch im Staat wider. Vielleicht könnte man es so beschreiben: Eine führende Gruppe der Eliten hat die Gründung des Paramilitarismus in den Achtziger Jahren vorangetrieben, um eine erstarkende Opposition – aus sozialen Bewegungen, Linksparteien und Guerilla – zurückzudrängen.
Ein Staat, der in Schwierigkeiten steckt, verhängt normalerweise den Ausnahmezustand. Das Recht wird also suspendiert, damit der Rechtsstaat mit nicht-rechtsstaatlichen Mitteln durchgesetzt werden kann. Oft werden solche Ausnahmezustände durch einen Putsch herbeigeführt, der den Staatsapparat vereinheitlicht.
In Kolumbien ist zwar auch ganz formal viel mit Ausnahmezustand regiert worden. Doch noch wichtiger ist die Tatsache, dass durch den Paramilitarismus inoffizielle, regionale Ausnahmezustände etabliert worden sind. Die Bekämpfung von Oppositionellen – und zwar nicht in erster Linie der Guerilla, sondern der sozialen Bewegungen – wurde in die Hände von illegalen, faktisch von den Staatsorganen jedoch gedeckten und unterstützten, Gruppen gelegt.

Welche Vorteile hat es denn, die Bekämpfung von Aufständischen in die Hände paramilitärischer Gruppen zu legen?

Der Vorteil liegt auf der Hand: Die politischen Kosten des Ausnahmezustands sind hoch. Man denke nur an Chile: Die Inhaftierung und Ermordung von einigen tausend Oppositionellen hat dem chilenischen Staat das Image eines Verbrecherregimes beschert. In Kolumbien sind in den vergangenen 25 Jahren sehr viel mehr Menschen ermordet worden, als während der Militärdiktatur in Chile. Die kolumbianische Regierung ist dadurch politisch jedoch nicht geschwächt worden. Im Gegenteil kann sie sich als Opfer der Gewalt von rechts und links präsentieren. Der Plan Colombia wurde sogar mit den Massakern des Paramilitarismus legitimiert. Diese Massaker wurden als Beleg für den Verfall des Gewaltmonopols herangezogen. Dabei haben die Streitkräfte, die vom Plan Colombia profitieren, diese Massaker bis auf wenige Ausnahmen immer gedeckt.
Aus diesem Grund wäre es im kolumbianischen Fall auch verhängnisvoll, die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols zu unterstützen. Kolumbien braucht in erster Linie Recht und nicht Gesetz, gesellschaftliche Gerechtigkeit und nicht Staat.

Du behauptest, der Paramilitarismus habe den Staat gestärkt. Aber die AUC haben doch dessen Gewaltmonopol noch weiter geschwächt.

Der Paramilitarismus hat die Gesellschaft verändert. Man kann das ein wenig mit einem normalen Ausnahmezustand vergleichen. Der Ausnahmezustand stärkt die Sicherheitsapparate und dadurch kommt es zu einer Verschiebung im Staat selbst. So ähnlich ist es auch mit dem Paramilitarismus. Wie ein schleichender Militärputsch hat er die autoritäre Rechte gestärkt und damit den klassischen Staat mit Gewaltenteilung und professioneller Bürokratie, von dem bei Max Weber die Rede ist, unterhöhlt.

Glaubst du, dass der gegenwärtige Politskandal weitergehende Folgen für den Krieg in Kolumbien haben wird?

Ich befürchte, dass wir den Skandal im Ausland überbewerten. Für uns sieht es ja fast schon so aus, als würde das Uribe-Regime kollabieren. Freunde in Kolumbien sehen das anders. Sie sind der Meinung, dass Uribe von dem Skandal profitiert. Er erscheint als derjenige, der den Paramilitarismus ins Gefängnis gebracht hat und arbeitet weiter an Strafbefreiung für seine bisherigen Weggefährten.

Uribe hat die AUC-Paramilitärs demobilisiert. Was ist davon zu halten?

Es ist ein Umbau. Die Paramilitärs sind keineswegs demobilisiert. Die AUC haben sich zwar offiziell aufgelöst, aber in den Regionen, wo Todesschwadronen benötigt werden, haben sich neue Gruppen formiert.
In anderen Landesteilen ist der Paramilitarismus zu subtileren Formen der Kontrolle übergegangen. In Urabá beispielsweise muss die Ultrarechte nicht mehr bewaffnet patroullieren. Die widerständigen Bauernorganisationen sind zerschlagen, die Gewerkschaft kooptiert, die Bevölkerung ist teilweise regelrecht ausgetauscht. Durch die Durchsetzung exportorientierter Entwicklungskonzepte – beispielsweise zur Ausbeutung von Bodenschätzen und zum großflächigen Anbau von Bananen, Ölpalmen und Schnittblumen – sind neue Sozialstrukturen und Abhängigkeiten entstanden.
Man darf nicht unterschätzen, welch bleibende Wirkung solche Terrorregime entfalten. Man denke nur an Deutschland, wo der NS die Gesellschaft noch Jahrzehnte nach seiner Niederlage stark geprägt hat. In Guatemala lässt sich beobachten, dass die Gebiete, die am stärksten unter der Militärdiktatur litten, heute zu den Bastionen der autoritären Rechten zählen.
Ich habe den Eindruck, dass der Paramilitarismus in Kolumbien militärisch „zurückgebaut“ worden ist. Die sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen, die er etablierte, sind jedoch intakt und dienen als Fundament von Uribes neuer Staatlichkeit. Dazu kommt außerdem, dass die Gesetze im Rahmen des Demobilisierungsprogramms Justicia y Paz die Legalisierung geraubten Eigentums und eine weitgehende Straffreiheit für schwerste Kriegsverbrechen ermöglichen.

Uribe will den Krieg weiterhin mit militärischen Mitteln gewinnen. Wie lange wird er es sich noch leisten können auf Verhandlungen zu verzichten?

Mit Uribe wird es in Kolumbien keinen Friedensprozess geben. Die FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens, Anm. d. Red.) haben in dieser Hinsicht eine eindeutige Position. Und dass die ELN (Nationale Befreiungsarmee, Anm. d. Red.) mit ihm verhandelt, würde ich als Bemühung interpretieren, die Isolation zu durchbrechen und mit der gesellschaftlichen Linken ins Gespräch zu treten. Die ELN fordert als Gegenleistung für einen Waffenstillstand das Einfrieren des Freihandelsabkommens mit den USA. Das ist eine Forderung der Massenbewegung.
Wie lange sich die kolumbianische Rechte die Kriegsoption noch leisten kann, hängt von zwei Faktoren ab: Von der Unterstützung der USA, die möglicherweise im Zusammenhang mit dem Parapolitik-Skandal etwas zurückgehen könnte. Und von der Stärke der Opposition im Land selbst – und zwar sowohl der zivilen als auch der bewaffneten. Und da gibt es einerseits Ermutigendes: Gegen die Bildungsreform haben eine Million Menschen gestreikt, die Regierung hat wegen der Proteste die Universitäten schließen lassen. Und auch die Guerilla ist alles andere als geschlagen. Ihre militärische Stärke gehört zu den größten Problemen Uribes und wird die Eliten irgendwann wieder an einen Verhandlungstisch zwingen. Andererseits ist diese Perspektive auch wieder gar nicht ermutigend, denn das politische Projekt der FARC ist alles andere als emanzipatorisch. Ob bei Verhandlungen zwischen Staat und FARC etwas herauskäme, das auch den Menschen nützt, wäre also leider keineswegs sicher.

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