Nummer 453 - März 2012 | Venezuela

Die Bourgeoisie übt Sozialdemokratie

Mit den Vorwahlen in Venezuela setzt sich eine moderate Wahlkampfstrategie durch

Mit Enrique Capriles Radonski setzt sich bei der Vorwahl der Opposition in Venezuela ein vermeintlicher Mitte-Links-Kandidat durch. Mit einem betont moderaten Wahlkampf versucht dieser nun breite Teile der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Ob dies aber mit dem Hintergrund des Kandidaten zu vereinbaren ist, bleibt genauso unsicher wie die Frage nach der tatsächlichen Wahlbeteiligung der Vorwahl.

Tobias Lambert

Am Ende machte der Favorit klar das Rennen. Wie erwartet wird Henrique Capriles Radonski als Präsidentschaftskandidat des venezolanischen Oppositionsbündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) bei den Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober Amtsinhaber Hugo Chávez herausfordern. Mittels offener Vorwahlen der MUD bestimmten die Wähler_innen am 12. Februar zudem zahlreiche oppositionelle Gouverneurs- und Bürgermeisterkandidat_innen für die im Dezember stattfindenden Regionalwahlen. Capriles, bisher Gouverneur des zentral gelegenen Küstenstaates Miranda, erreichte etwa 63 Prozent der abgegebenen Stimmen. „Ich möchte Präsident der Weißen, Grünen, Orangen, Roten und derer ohne Farbe sein”, sagte er nach Bekanntgabe seines Triumphes.
Den zweiten Platz belegte der Gouverneur des westlichen Bundesstaats Zulia, Pablo Pérez, mit etwa 31 Prozent. Die anderen Kandidat_innen blieben wie in den Umfragen vorhergesehen chancenlos. Die rechte Abgeordnete María Corina Machado erreichte vier Prozent, der Ex-Diplomat Diego Arria gut ein Prozent. Der Gewerkschafter Pablo Medina landete mit deutlich unter einem Prozent auf dem fünften Platz. Nach Bekanntgabe des Ergebnisses stellten sich die unterlegenen Kandidat_innen demonstrativ hinter den siegreichen Capriles. „Mein Freund, Du wirst der nächste Präsident Venezuelas sein“, sagte Pérez und sicherte dem Präsidentschaftskandidaten seine Unterstützung im kommenden Wahlkampf zu. Der Rückzug des ursprünglich sechsten Kandidaten zugunsten Capriles hatte dessen Ausgangsposition bereits im Vorfeld der Abstimmung verbessert. Leopoldo López, Ex-Bürgermeister des wohlhabenden Viertels Chacao im Osten der venezolanischen Hauptstadt Caracas, tritt als Wahlkampfkoordinator seitdem an der Seite von Capriles auf.
Mit rund drei Millionen abgegebener Stimmen lag die Wahlbeteiligung laut Angaben des Wahlkommission des MUD bei knapp 16 Prozent. Gemessen an den 5,6 Millionen Stimmen, die die Opposition bei den Parlamentswahlen 2010 – ihrem bisher bestem Ergebnis – erreichte, beteiligten sich somit mehr als die Hälfte ihrer potentiellen Wähler_innen. Die hohe Wahlbeteiligung und vereinzelte Betrugsvorwürfe sorgten im Anschluss für Kontroversen über die Transparenz der Vorwahlen. Diese wurden durch den Nationalen Wahlrat CNE logistisch durchgeführt, die Kontrolle des Wahlablaufes, die Auszählung der Stimmen und die Verkündung des Endergebnisses oblag jedoch dem MUD selbst. Vereinbart war vorab, dass die in Venezuela gängigen Verfahren zur Vermeidung von Mehrfachvoten einzelner Wähler_innen nicht obligatorisch sind. Dazu zählen die Abgabe eines elektronischen Fingerabdrucks und die Verwendung unlöslicher Tinte. Bereits kurz nach der Vorwahl meldeten verschiedene Vertreter der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) ihre Zweifel an, ob die hohe Wahlbeteiligung mit rechten Dingen zu Stande gekommen sei. Parlamentspräsident Diosdado Cabello sagte, es sei aufgrund der Anzahl verwendeter Wahlmaschinen unmöglich, an einem Wahltag auf eine derart hohe Anzahl von Stimmen zu kommen. Jorge Rodríguez, amtierender Bürgermeister von Caracas und ehemaliges Mitglied im Direktorium des CNE, meldete ebenfalls Zweifel an und kritisierte die geplante Zerstörung der Wahlakten. Dennoch verbrannte die Opposition rasch die Unterlagen, so dass eine Überprüfung der Wahlen nun nicht mehr möglich sein wird. Sprecher_innen des MUD begründeten dies mit der Wahrung des Wahlgeheimnisses. Der CNE wies die Befürchtungen, das Wahlgeheimnis sei in Gefahr, als unbegründet zurück.
Pikant ist in diesem Zusammenhang zudem, dass die Opposition mit der Zerstörung eine vom Obersten Gericht (TJS) nach der Vorwahl erlassene einstweilige Verfügung offen missachtete. Der Vorkandidat für einen Bürgermeisterposten im Bundesstaat Yaracuy, Rafael Velászquez Becerra, hatte von Unregelmäßigkeiten im Wahlprozess, wie zum Beispiel der Abgabe von Mehrfachvoten berichtet und den Antrag beim TSJ gestellt. Daraufhin hatte das Oberste Gericht angeordnet, die Wahlakten nicht zu zerstören. Der Vorstandssekretär des MUD, Ramón Guillermo Aveledo, kritisierte die Verfügung des Gerichtes als „verfassungswidrig und unverhältnismäßig“.
Letztlich bleiben die Vorwürfe im Raum stehen, werden aber wohl keine größeren Konsequenzen haben. Die meisten Politiker_innen des Regierungsbündnis schossen sich in ihren Statements nach der Vorwahl denn auch rasch auf Capriles ein. „Der Kandidat des Imperiums [der USA, Anm. d. Red.] hat nun ein Gesicht“, sagte Vizepräsident Elias Yaúa. Der Vizepräsident des Parlaments, Aristóbulo Isturiz, warf Capriles vor, Venezuela in die Situation bringen zu wollen, „die Europa gerade erlebt“. Der Oppositionskandidat stehe für „die Vergangenheit, weil er uns in den Neoliberalismus führen will“.
Der 39-jährige Capriles ist Sprössling einer Familie von Medienunternehmern. Der Jurist war Mitglied der früheren christdemokratischen Regierungspartei COPEI und später Mitbegründer der Partei Primero Justicia (Gerechtigkeit Zuerst), die unter anderem von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wird. Er startete seine politische Karriere als Abgeordneter und war zwischen den Jahren 2000 und 2008 Bürgermeister des wohlhabenden Gemeindebezirks Baruta im Großraum Caracas. Während des Putsches gegen Chávez im April 2002 beteiligte sich Capriles angeblich an Aggressionen gegen die kubanische Botschaft. Er selbst behauptete hinterher, in der damaligen Situation nur vermittelt zu haben. 2008 gewann er die Wahl zum Gouverneur in Miranda gegen den heutigen Parlamentspräsidenten Diosdado Cabello.
Im Wahlkampf versuchte sich Capriles nun als Mitte-Links-Kandidat zu profilieren. Seine politischen Vorstellungen verglich er mit der Regierungszeit von Luíz Inácio Lula da Silva in Brasilien. Hatte die Opposition nach Chávez‘ erstem Wahlsieg 1998 jahrelang durch einen reinen Konfrontationskurs von sich Reden gemacht, setzte sich bei den Vorwahlen nun eine gemäßigte Linie durch. Im Wahlprogramm, das der MUD Ende Januar beschlossen hat, wendet sich das Oppositionsbündnis gegen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft wie Nationalisierungen, Preis- und Devisenkontrollen. Die Erdölproduktion soll mit Hilfe privater Investitionen erhöht werden. Die 1999 in Kraft getretene Verfassung erkennt der MUD ausdrücklich an, will aber die Rolle der Legislative und der bundesstaatlichen Kompetenzen gegenüber dem Präsidenten stärken.
Viele der Errungenschaften der Chávez-Regierung wie etwa die Sozialprogramme oder die basisdemokratischen Kommunalen Räte will die Opposition laut ihrem Programm nicht abschaffen, aber reformieren. In der Medienpolitik strebt sie eine Minimierung des staatlichen Einflusses an. Die hohe Kriminalitätsrate soll durch eine umfassende Entwaffnung der Bevölkerung und mehr Polizei gesenkt werden.
Capriles kündigte an, bis zu den Wahlen im Oktober „jede Ecke Venezuelas” zu besuchen und gibt sich in seinem Diskurs bisher betont moderat. Es gehe ihm darum, für Venezuela die „Tür zur Zukunft” zu öffnen. In dem „Omnibus des Fortschritts” sei Platz für alle, unabhängig der Zugehörigkeit zu einer politischen Strömung oder Partei. Während Chávez seinen Herausforderer als „Bourgeois” und „Kandidat des Imperiums“ bezeichnet, hält sich Capriles mit Beleidigungen bewusst zurück. Laut den Umfragen vor den Vorwahlen gilt Chávez als klarer Favorit bei den Präsidentschaftswahlen. Im Gegensatz zum Jahr 2006, als die Opposition weniger geeint auftrat und mit Manuel Rosales einen schwachen Kandidaten aufstellte, dürfte der Wahlkampf dieses Jahr jedoch spannender werden. Für Ungewissheit sorgt zusätzlich der Gesundheitszustand von Chávez, dessen Krebserkrankung im Juni 2011 öffentlich gemacht wurde. Zwar galt er vorerst für geheilt, Ende Februar musste sich der venezolanische Präsident in Kuba jedoch erneut einer Operation unterziehen.
Allem rhetorischen Geplänkel zum Trotz sind die Vorwahlen, die völlig frei und ohne größere Zwischenfälle abliefen, eine Bestätigung dafür, dass es um die Demokratie in Venezuela wesentlich besser steht als von der Opposition selbst und in den meisten Medien dargestellt. Ob sich die Opposition selbst durch den Wahlakt auch intern demokratisiert hat und darauf Verlass sein kann, dass sie einen Machtwechsel zukünftig ausschließlich im Rahmen der Verfassung anstrebt, ist dadurch jedoch noch nicht garantiert. Letztlich war es bei der Vielzahl der großen Egos in den Reihen der heterogenen Opposition pragmatisch betrachtet kaum möglich, auf andere Weise als durch eine Vorwahl die Präsidentschaftskandidatur zu bestimmen. Die früher üblichen Hinterzimmerabsprachen hätten zur Herstellung einer Einheit nicht getaugt. Noch fraglicher ist der progressive Anstrich, den Capriles der Opposition durch seine verbale Sozialdemokratisierung a là Lula verpassen will. Es erscheint allzu offensichtlich, dass es sich um eine Wahlkampfstrategie handelt, um Wählergruppen anzusprechen, die aus Unzufriedenheit mit der Chávez-Regierung eher nicht wählen gehen würden als ihr Kreuzchen bei der Opposition zu machen. Die nach wie vor ausgeprägte Korruption, die Ineffizienz staatlicher Politik in vielen Bereichen und die hohe Gewaltrate sorgen auch in den Reihen des Chavismus für Unmut. Nachdem der Konfrontationskurs der Opposition schon lange als gescheitert gilt, ist die Hinwendung zu einer moderaten Rhetorik, die auch soziale Ziele mit einschließt, nur folgerichtig. Darüber, dass sich hinter Capriles zu großen Teilen der private Unternehmenssektor, die alten Eliten und an den USA orientierte Konsument_innen versammeln, kann die Rhetorik allerdings kaum hinwegtäuschen. An den Vorwahlen konnte nur teilnehmen, wer in der Lage war, rund 230.000 US-Dollar Startgebühr aufzutreiben. Dass die offizielle Ausrufung des MUD-Kandidaten in der teuren privaten Universidad Metropolitana (UNIMET) organisiert wurde, passt taktisch nicht gerade zu dem Vorhaben, auch enttäuschte Chavistas für sich zu gewinnen.
Die selbst gesteckten Ziele scheinen indes auf beiden Seiten kaum erreichbar zu sein. Die Chavisten, die bei den Präsidentschaftswahlen 2006 mit 7,3 Millionen Stimmen das bisher beste Ergebnis für ihren Kandidaten eingefahren hatte, streben zur Mobilisierung, wie damals auch schon, 10 Millionen Stimmen an. Pablo Pérez gab sich im Namen der Opposition etwas bescheidener. „Das Ziel ist es, neun Millionen Stimmen zu erreichen, um die Präsidentschaft an Capriles Radonski zu überreichen”.

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