Literatur | Nummer 455 - Mai 2012

Hernán Rivera Letelier steigt ab

Der Traumkicker, ein unterklassiger Fußballroman aus Chile

Ein Dorf soll geräumt werden, denn der Salpeterabbau lohnt sich nicht mehr. Vom allerletzten Fußballspiel gegen den Nachbarort erhoffen sich die Leute einen würdigen Abschied. Literarisch ist das ein gut bespielbarer Platz. Leider schießt der Autor einen Fehlpass nach dem anderen.

Valentin Schönherr

Hernán Rivera Letelier, Jahrgang 1950, arbeitete in der nordchilenischen Salpeterindustrie und gilt heute als einer der erfolgreichsten Autoren seines Landes. Der Chronist der Atacama-Wüste kam mit seinen Romanen bei der deutschsprachigen Kritik bisher gut an. Wie schon in Die Filmerzählerin (siehe LN 445/446) erzählt Rivera Letelier auch in Der Traumkicker vom Niedergang der Salpeterindustrie aus der Sicht eines Dorfes, das bald geräumt werden wird. In diesen Büchern leben die Menschen am Abgrund der Zeit: Was heute noch ist, wird morgen unwiderruflich vergangen sein. Das Dorf Coya Sur trifft es besonders hart, hier sollen nicht einmal Ruinen übrig bleiben.
War in Die Filmerzählerin das Kino der soziale Kitt, so ist es in Coya Sur der Fußball. Die Trainings und Spiele geben dem Dorfleben Rhythmus und Sinn, die häufigen Niederlagen der Underdogs gegen den reicheren Nachbarort María Elena schweißen zusammen. Nun steht das allerletzte Spiel bevor, und wenigstens dieses will man gewinnen.
Da kommt ein auffälliges Paar ins Dorf. Er ist ein in die Jahre gekommener Ballkünstler, der seine Fähigkeiten gegen Geld zur Schau stellt, sie schnürt ihm die Schuhe, ist jung und rätselhaft. Die Leute im Dorf wittern ihre große Chance – wenn sie diesen Tausendsassa davon überzeugen könnten, beim letzten Spiel gegen María Elena aufzulaufen. So weit, so gut; die ersten Seiten lassen trotz einer gewissen Dosis Sozialkitsch eine unterhaltsame Lektüre erwarten. Aber es kommt anders.
Der Künstler sträubt sich mit Händen und Füßen. Irgendwann lässt er buchstäblich die Hosen herunter, zum Vorschein kommt „ein monströs gebrochener, violett verfärbter Hoden, sicher mehrere Kilo schwer“. Seine Kunststücke sind pure Ersatzhandlung, weil er mit diesem Defekt gar nicht auf dem Feld spielen kann.
Wahrscheinlichkeit ist nicht das Erzählprinzip von Rivera Letelier. Was er alles in Bewegung setzt, um den Ärmsten zum Bleiben zu bewegen, spottet jeder Zusammenfassung. Der Ballzauberer und seine Freundin werden subito von Leuten aus dem Dorf angebaggert und kommen nicht weg; zufälligerweise befindet sich auch noch das Grab eines berühmten chilenischen Fußballers gerade hier, der Typ will es sehen und reist auch deswegen nicht ab. … Am Schluss wird er dann tatsächlich eingesetzt, aber von den Gegnern im Strafraum zu Tode (!) getreten. Der verwandelte Elfer bringt in letzter Sekunde den erhofften Sieg.
Dieser bare Unsinn, versetzt mit reichlich Machogehabe, kommt uns in einer pseudohumorigen Stammtischsprache entgegen. Sein Pulver hat dieser Ton voller sentimentaler Schnoddrigkeiten und Übertreibungen nach wenigen Seiten verschossen. Als Beilage gibt es dann noch den Dorfkommentator, der mal Medizin studiert hat und seine Spielberichte mit Fachjargon garniert. Sollte Rivera Letelier am Schluss von der Selbstironie übermannt worden sein, wenn der letzte Satz dieser Kommentare auf „progressive Neurodegeneration“ endet? Passt zur Beschreibung des Leseerlebnisses jedenfalls nicht schlecht.

Hernán Rivera Letelier // Der Traumkicker // Aus dem Spanischen von Svenja Becker // Insel Verlag // Berlin 2012 // 207 Seiten // 17,95 Euro // www.suhrkamp.de

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