Kunst | Nummer 414 - Dezember 2008

Irrationale Kunst von rationalen KünstlerInnen

Eine Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin

Welche Prozesse und Ideen treiben Künstler dazu, Bedeutung zu konstruieren?“ Diese Frage steht zu Beginn der Anfang November eröffneten Ausstellung. Sieben KünstlerInnen, darunter vier aus Lateinamerika, untersuchen in ihren Exponaten die Grenzbereiche zwischen Religion und Gesellschaft, Natur und Kultur, „normal“ und pathologisch, Realität und Fiktion.

Sonja Schmidt

„Welche Prozesse und Ideen treiben Künstler dazu, Bedeutung zu konstruieren?“ Diese Frage steht zu Beginn der Anfang November eröffneten Ausstellung. Sieben KünstlerInnen, darunter vier aus Lateinamerika, untersuchen in ihren Exponaten die Grenzbereiche zwischen Religion und Gesellschaft, Natur und Kultur, „normal“ und pathologisch, Realität und Fiktion. Alle beschäftigen sich mit dem Verhältnis zwischen Rationalität und Irrationalität und wählen doch völlig verschiedene Ausgangspunkte. Mal ist ihr Ansatz subtiler, wie in den kreisförmigen Zeichnungen von Juan Downey, die zentral auf einer ovalen Schautafel angeordnet sind, mal ist es die unmittelbare Auseinandersetzung mit (ir)rationaler Wahrnehmung. So untersucht Juan Téllez in seiner Auftragsarbeit für das Haus der Kulturen der Welt die Mechanismen, wie sich Perzeption und Repräsentation gegenseitig bedingen. In Zusammenarbeit mit SchauspielerInnen sowie PatientInnen des Neuköllner Vivantes Klinikum für Psychatrie, Psychotherapie und Psychosomatik hat er Szenen aus Robert Wienes’ Filmklassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ neu aufgelegt. Die beeindruckende Dokumentation wurde im Potsdamer Einsteinturm gedreht. Das Zusammenspiel von wissenschaftlicher Umgebung (der Turm beherbergt ein Sonnenobservatorium), expressionistischer Architektur, dokumentarischen Interviews und fiktionalen Erzählsträngen, die aus einem Workshop mit Téllez entstanden sind, bebildert den surrealen Grenzbereich zwischen Rationalität und Irrationalität.
Einen eher religiös inspirierten Zugang zum Thema wählte Arthur Bispo do Rosário. Seit 1939 von mystischen Delirien und Christuserscheinungen heimgesucht, katalogisierte der brasilianische Künstler akribisch seine Vergangenheit und Zukunft in Form von Stickereien. Als Vorbereitung auf das jüngste Gericht und wohl auch zur Bewältigung des eigenen Lebens dienten ihm diese, schon früh vom Kunstkritiker Frederico Morais geschätzten und ausgestellten Kunstwerke.
Ein unmittelbarer Kontrast wird in der Ausstellung durch das Nebeneinander der Videoarbeiten Juan Downeys und der Kalenderbilder von Hanne Darboven erzeugt. Letztere spiegelt in ihrem eigens entwickelten Zahlen- und Zeichensystem Präzision und Ordnungswut westlicher Gesellschaften wider, während Downey sich in teils ironischer Verzerrung das Medium Video aneignet. Auf den ersten Blick kommen seine Dokumentationen, die er in einem siebenmonatigen Aufenthalt bei den Yanomami am oberen Orinoco aufgenommen hat, wie herkömmliche Videofilme daher. Erst beim näheren Hinsehen eröffnet sich den BetrachterInnen eine zweite Ebene: exotische Begierden und die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, die Downey bei sich selbst und bei den ZuschauerInnen entlarvt.
Rational/Irrational, noch bis zum 11. Januar 2009 im Haus der Kulturen der Welt zu sehen, wirft so durch unterschiedliche Herangehensweisen einen sehenswerten Blick auf die Wechselwirkung von transzendentalem Erleben und rationaler Überlegung.
// Sonja Schmidt

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