Nummer 454 - April 2012 | Sachbuch

Lernen vom Schüler

Sebastian Schoepp zieht aus dem jüngsten Aufschwung Lateinamerikas Lehren für Europa

Könnte Lateinamerika ein Vorbild für die krisengeschüttelten Staaten Europas sein? Dieser Frage geht der Auslandsredakteur der Süddeutschen Zeitung, Sebastian Schoepp, in seinem 2011 erschienenen Buch Das Ende der Einsamkeit. Was die Welt von Lateinamerika lernen kann nach. Kenntnisreich und gut lesbar beschreibt er die gesellschaftlichen Veränderungen in Lateinamerika seit Beginn dieses Jahrtausends.

Claudia Fix

„Fast alltäglich waren apagones (Stromausfälle). Wenn der Kühlschrank ausfiel, brach ich die fetten Batzen gefrorenen Wassers aus dem Eisfach, bevor es meine Wohnung fluten konnte. Ich legte sie aufs Fensterbrett und sah zu, wie sich in der Januarhitze Tropfen um Tropfen aus der Masse löste, und wie sie die sechs Stockwerke weit nach unten fielen und auf das Dach der Druckerei platschten.“
Die tiefe Krise Argentiniens mit ihren täglichen Stromausfällen Anfang der 1990er Jahre, die Sebastian Schoepp während eines einjährigen Arbeitsaufenthaltes beim Argentinischen Tageblatt in Buenos Aires miterlebte, ist Ausgangspunkt seiner facettenreichen Beschreibung der aktuellen Entwicklungen in Lateinamerika. Diese fielen in den letzten zehn Jahren überraschend positiv aus, wenn man sie mit den letzten vierzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts vergleicht: eine Zeit, die von Militärputschen, Diktaturen, einem „verlorenen Jahrzehnt“ und wiederkehrenden ökonomischen Krisen geprägt war.
„In fast allen Ländern etablieren sich innerhalb weniger Jahre Demokratien, die nicht mehr so leicht ins Wanken zu bringen sind wie ihre Vorläufer. Die Wahlen verlaufen in der Mehrzahl fair und frei. Ja, mehr noch: Manche Regierungschefs erreichen Zustimmungsraten, von denen europäische Politiker nur träumen können. Die Wirtschaft, jahrhundertelang das Hauptproblem Lateinamerikas, boomt nicht nur, sie zeigt sich sogar krisenresistenter als die Europas und Nordamerikas. Die Armut, zwar immer noch das drängendste Problem, wird durch Sozialprogramme signifikant verringert. Der Mittelstand wächst,“ so fasst es Schoepp in seiner Einleitung „Gute Nachrichten aus Lateinamerika“ zusammen. Seit 2005 ist er als außenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Spanien und Lateinamerika zuständig.
Anschließend nimmt Schoepp seine Leser_innen mit auf eine Zeitreise durch Ecuador, Bolivien, Peru und Nicaragua vor 2002, in das Argentinien nach der Krise unter Néstor und Cristina Fernández de Kirchner (seit 2003), nach Bolivien, das Morales (seit 2006), und nach Brasilien, das Lula (2003 bis 2011) zum Präsidenten wählte. Seine Analysen der politischen, sozialen und ökonomischen Fakten bettet er ein in Reportagen von zahlreichen Reisen durch den Kontinent, hin und wieder ergänzt von kurzen Interviews, die er mit Schriftsteller_innen, Wissenschaftlern und Politikern führte.
Von Kapitel zu Kapitel entsteht so ein immer vielschichtigeres Bild eines Kontinents im Wandel, bei dem Schoepp kaum einen wichtigen Aspekt auslässt: die indigenen Bewegungen in den Andenländern und die Sozialprogramme Brasiliens, Extraktivismus und Neo-Extraktivismus, das mögliche Ende des Drogenkrieges und die Aufarbeitung der Militärdiktaturen, die Bedeutung der Schriftsteller_innen für den gesellschaftlichen Wandel und die wechselhaften Migrationsflüsse zwischen Europa und Lateinamerika. Besonders eindrücklich ist seine Beschreibung immer dann, wenn der Autor das Land und seine Verhältnisse sehr gut kennt und uns mit seinen Reportagen direkt in das Herz der jeweiligen Gesellschaft führen kann. Wirklich spannend ist auch das Kapitel „Heimkehr in die Fremde“ über Lateinamerikaner_innen in Barcelona, wo Schoepp ebenfalls ein Jahr verbrachte, und das sich der identitätsstiftenden Wirkung des Exils widmet. Auch die Exkurse des Autors in die Geschichte Lateinamerikas sind immer treffend, informativ und bereichern das jeweilige Thema, so erfahren wir zum Beispiel, wie das Erbe der Hidalgos mit dem Extraktivismus und dem Urteil gegen Chevron im Jahr 2011 zusammenhängt.
Doch die größte Stärke von Das Ende der Einsamkeit ist zugleich seine größte Schwäche. Denn in den Kapiteln, in denen die Reportagen die Leser_innen nicht auf eine spannende Reise mitnehmen, bleiben die Analysen recht oberflächlich und sehr auf die Regierungspolitik beschränkt. Schoepps Kapitel über Brasilien „Lula Superstar“ bezieht sich ganz auf diesen und seine Bedeutung für die internationale Politik.
Nicht nur, dass die starken sozialen Bewegungen in Brasilien praktisch nicht erwähnt werden, auch die Analyse der Erfolge Lulas greift zu kurz. Dass wichtige politische Ziele der Regierungspartei PT – wie die Landreform oder der Schutz der indigenen Gebiete – nicht eingelöst wurden, ist nicht nur eine Randnotiz einer ansonsten erfolgreichen Entwicklungsstrategie. Die fehlende Veränderung grundlegender gesellschaftlicher Strukturen – wie die Verteilung des Landbesitzes – birgt die Gefahr, dass die Politik der 1980er und 1990er Jahren von denselben Eliten fortgesetzt werden kann, sobald es ihnen gelungen ist, wieder die Führung des Staates zu übernehmen.
Das Kapitel über Venezuela – das sich über weite Strecken um eine differenzierte Darstellung bemüht und sogar Kritik an der Form der deutschen und internationalen Berichterstattung über Chávez übt – mündet überraschend in eine vernichtende und pauschale Kritik am venezolanischen Präsidenten. „Seine Kollegen in den Nachbarländern denken gar nicht daran, den nebulösen Weg der ’bolivarischen Revolution’ mitzugehen. Sie wissen, dass Chávez’ System in der Praxis nichts anderes ist als der auf Klientelismus basierende Ansatz eines lückenhaften Staatskapitalismus.“ Erstaunlicherweise schließt Schoepp dieses Kapitel dann mit der Feststellung „Trotzdem wäre das ‚neue Lateinamerika’ – vor allem die Umwälzungen in Ecuador oder Bolivien – ohne seine kantigen Reden und seine Petrodollars nicht denkbar gewesen.“
Das Ende der Einsamkeit, dessen Titel ebenso auf den Roman Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez wie auf Das Labyrinth der Einsamkeit von Octavio Paz verweist, endet mit einem optimistischen Ausblick: Ausgerechnet aus Kolumbien kommt in einer der schönsten Reportagen eine weitere gute Nachricht aus Lateinamerika. Fast schade, dass dieses Buch nicht ein Jahr später erschienen ist. Hätte doch Schoepp seine These, dass die Welt von Lateinamerika lernen kann, im Jahr des arabischen Frühlings, der Besetzungen in Spanien und der Griechenlandkrise besonders gut an der Realität überprüfen können.

Sebastian Schoepp // Das Ende der Einsamkeit. Was die Welt von Lateinamerika lernen kann // Westend Verlag // München 2012 // 288 Seiten // 17,99 Euro

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