Brasilien | Nummer 240 - Juni 1994

Über die Unverhältnismäßigkeit der Verhältnisse

Perversität einer Staatstrauer

Jens Holst

Der brasilianische Rennfahrer Ayrton Senna ist tot. Millionen BrasilianerIn­nen geben ihm bei der Rückführung nach Sao Paulo ein letztes Geleit, Zehntausende pa­trouillieren an seinen sterblichen Überre­sten vorbei. Sennas Tod ist tagelang das bestimmende Thema; die internationale Presse hat schon lange nicht mehr so großräumig aus dem südamerikanischen Land be­richtet.
Eigentlich war es ein Arbeitsunfall, dem der Ex-Weltmeister auf der Rennpiste von Imola erlag. Den­noch ordnet Präsi­dent Itamar Franco dreitägige Staatstrauer an, eine Ehre, die sonst allenfalls verstor­benen Re­gierungschefs zuteil wird. Schließlich starb das Idol aller brasiliani­schen Ta­xifahrer als Nationalheld! In Staats­trauer wird Ayrton Senna gedacht, und die unzähligen anderen Toten in sei­nem Heimatland werden nicht einmal mehr wahrgenommen. All jene gemei­nen Landsleute, die sich feige von To­desschwadronen erschießen oder von der Militärpolizei massakrieren lassen. So wie die acht Straßenkinder, die im vergange­nen Juni mitten im Zentrum der brasiliani­schen Metropole getötet wurden. Und die 23 BewohnerInnen einer Favela in Rio de Janeiro, die eine Woche später bei einem Rachefeldzug der Polizei ihr Leben ließen. Damals wurde kein Gedanke an Staats­trauer verschwendet. Jene Namenlosen kämpften ja nur ums Überleben und nicht für den nationalen Ruhm Brasi­liens. Ihr Lebensrisiko in den Slums der Großstädte ist eben viel höher als das Berufsrisiko ei­nes Formel-Eins-Piloten. Und damit sich an dieser Schieflage nichts ändert, wird nun al­lerorten über weitergehende Sicher­heitsmaßnahmen im Motor-“Sport” nach­gedacht. Das ist ja auch wesent­lich lukra­tiver, als sich um die Sicher­heit der Mil­lionen Habenichtse und Tunichtgute die­ser Welt zu sorgen.
Millionen werden die Untersuchungen und Expertisen über die Unfallursa­chen auf der Rennbahn von Imola ver­schlingen. Das kann im gün­stigsten Fall dazu führen, daß der nächste schwere Un­fall nicht bei 314, son­dern erst bei 330 Stundenkilome­tern passiert. Als Ne­benprodukt wird dem/der normalen Auto­fahrerIn vielleicht auch mehr Sicherheit hinter dem Lenker geboten werden kön­nen. Damit unsere Freiheit noch größer wird. Über die strukturellen Bedingun­gen, das heißt den ganzen Schwachsinn der prämi­erten Rase­rei (gar nicht zu reden von der Ökologie), denkt kaum jemand nach. Und hier end­lich findet sich eine Gemeinsam­keit von Senna mit seinen vielen ermor­deten Landsleuten: Das offi­zielle Brasilien be­schränkt sich auf Prote­ste, Diskussionen und parlamen­tarische Untersuchungen. Über die Ursachen und das Funktionieren der strukturellen Ge­walt wird dabei nicht nachgedacht.

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