Über die Unverhältnismäßigkeit der Verhältnisse
Perversität einer Staatstrauer
Der brasilianische Rennfahrer Ayrton Senna ist tot. Millionen BrasilianerInnen geben ihm bei der Rückführung nach Sao Paulo ein letztes Geleit, Zehntausende patrouillieren an seinen sterblichen Überresten vorbei. Sennas Tod ist tagelang das bestimmende Thema; die internationale Presse hat schon lange nicht mehr so großräumig aus dem südamerikanischen Land berichtet.
Eigentlich war es ein Arbeitsunfall, dem der Ex-Weltmeister auf der Rennpiste von Imola erlag. Dennoch ordnet Präsident Itamar Franco dreitägige Staatstrauer an, eine Ehre, die sonst allenfalls verstorbenen Regierungschefs zuteil wird. Schließlich starb das Idol aller brasilianischen Taxifahrer als Nationalheld! In Staatstrauer wird Ayrton Senna gedacht, und die unzähligen anderen Toten in seinem Heimatland werden nicht einmal mehr wahrgenommen. All jene gemeinen Landsleute, die sich feige von Todesschwadronen erschießen oder von der Militärpolizei massakrieren lassen. So wie die acht Straßenkinder, die im vergangenen Juni mitten im Zentrum der brasilianischen Metropole getötet wurden. Und die 23 BewohnerInnen einer Favela in Rio de Janeiro, die eine Woche später bei einem Rachefeldzug der Polizei ihr Leben ließen. Damals wurde kein Gedanke an Staatstrauer verschwendet. Jene Namenlosen kämpften ja nur ums Überleben und nicht für den nationalen Ruhm Brasiliens. Ihr Lebensrisiko in den Slums der Großstädte ist eben viel höher als das Berufsrisiko eines Formel-Eins-Piloten. Und damit sich an dieser Schieflage nichts ändert, wird nun allerorten über weitergehende Sicherheitsmaßnahmen im Motor-“Sport” nachgedacht. Das ist ja auch wesentlich lukrativer, als sich um die Sicherheit der Millionen Habenichtse und Tunichtgute dieser Welt zu sorgen.
Millionen werden die Untersuchungen und Expertisen über die Unfallursachen auf der Rennbahn von Imola verschlingen. Das kann im günstigsten Fall dazu führen, daß der nächste schwere Unfall nicht bei 314, sondern erst bei 330 Stundenkilometern passiert. Als Nebenprodukt wird dem/der normalen AutofahrerIn vielleicht auch mehr Sicherheit hinter dem Lenker geboten werden können. Damit unsere Freiheit noch größer wird. Über die strukturellen Bedingungen, das heißt den ganzen Schwachsinn der prämierten Raserei (gar nicht zu reden von der Ökologie), denkt kaum jemand nach. Und hier endlich findet sich eine Gemeinsamkeit von Senna mit seinen vielen ermordeten Landsleuten: Das offizielle Brasilien beschränkt sich auf Proteste, Diskussionen und parlamentarische Untersuchungen. Über die Ursachen und das Funktionieren der strukturellen Gewalt wird dabei nicht nachgedacht.