Literatur | Nummer 366 - Dezember 2004

Zerrissenes Haiti

In Yanick Lahens’ Roman Tanz der Ahnen bleibt die Verständigung utopisch

200 Jahre nachdem sich auf Haiti die Sklaven befreit haben, begeht die UNO 2004 das Jahr der Sklaverei. Auch für Haiti ist dies kein rein historisches Thema, wie die haitianische Autorin Yanick Lahens deutlich macht. In ihrem Roman Tanz der Ahnen, der Mitte des 20. Jahrhunderts spielt, zeigt sie eine Gesellschaft, in der afrikanische Traditionen ausgegrenzt werden.

Valentin Schönherr

Am 21. August 1934 verlassen die US-amerikanischen Truppen Haiti. Auf der Karibikinsel herrscht Volksfeststimmung, Redner beschwören feierlich den Widerstand und das haitianische Selbstbewusstsein. Nach neunzehn Jahren Besatzung scheint plötzlich alles möglich. Aber wohin will sich das Land wenden? Zur französischen „Zivilisation”, zur westlich-industrialisierten Moderne? Oder zu den schwarzen, letzten Endes afrikanischen Wurzeln?
Die 1953 in Port-au-Prince geborene und dort lebende Schriftstellerin Yanick Lahens schickt in ihrem Roman Tanz der Ahnen ein kleines Mädchen in die Debatten jener 30er und 40er Jahre hinein: Alice Bienaimé, in deren Elternhaus sich alle Strömungen treffen und imposante Wellen schlagen. Da ist der Vater, der sich am kreolischen Bildungsideal der Oberschicht orientiert, aber selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammt und das nicht vergessen hat. Da ist die vermögende Großmutter, die nie verwinden konnte, dass ihre Tochter nicht dem Sozialstatus entsprechend verheiratet ist. Héraclès, der Onkel, ist zutiefst inspiriert von den linken Idealen der Zeit, von der stürmischen Selbsterforschung der Schwarzen und der Hoffnung auf tatsächliche, auch geistig-kulturelle Unabhängigkeit. Alice sitzt abwechselnd bei den Erwachsenen auf dem Schoß und hört zu. Sie erlebt, wie verschiedene Meinungen frei diskutiert werden können, aber auch wie das offene Gespräch doch nicht davor schützt, dass die hoffnungsfrohe Stimmung im Land, unbeeindruckt von allen Ideen, gewaltsam umschlägt. Das Massaker der dominikanischen Mestizen an zwanzigtausend Haitianern macht viele Hoffnungen zunichte und fordert die heranwachsende Alice zugleich auf, sich selbst zu orientieren und sich für einen eigenen Weg zu entscheiden. Nachdem es im Januar 1946 zu innerhaitianischen Unruhen kommt und sich erneut eine diktatorische Herrschaft ankündigt, verlässt sie die Insel in Richtung New York.
Besonders reizt Alice der verpönt-verbotene Vaudou. Oft fälschlich nur mit nadelbespickten Püppchen und eruptiver Gewalt assoziiert, erscheint er in diesem Roman als eine beeindruckend vielfältige, verbreitete und alltägliche Religion, die sich eine große Lebendigkeit bewahrt hat, obwohl sie von den politischen Eliten abwechselnd diskriminiert oder instrumentalisiert wird. Seien es die Glasfläschchen unter dem Bett der Haushälterin Man Bo, seien es die heimlichen Besuche bei Vaudou-Ritualen mit Onkel Héraclès, sei es der noch geheimere Tanzunterricht, von dem sich Alice inspirieren lässt – auch für ein Kind der Oberschicht ist der Vaudou eine reale Option. Zumal wenn die europäische Erziehung so grau, grausam und langweilig aussieht wie bei den katholischen Schwestern, die Alice traktieren.
Tanz der Ahnen ist geschrieben aus der Perspektive der älter gewordenen Alice, die ihre Kindertage noch einmal an sich vorbeiziehen lässt. Intelligent und einfühlsam erzählt sie Szene um Szene, dabei etwas distanziert wie auf einer Theaterbühne, vor der ein durchsichtiger Vorhang angebracht ist, der Vorhang der Jahre. Nur wenige direkte Dialoge unterbrechen den Erzählfluss; um so genauer versetzt sie sich in die kleine, in die heranwachsende Alice hinein, voller Humor, voller Achtung. Yanick Lahens verfügt über eine intensive, sprachlich klare (und überzeugend übersetzte!) erzählerische Kraft. Bei Alices erster Liebe etwa, die sich zart und langsam entfaltet, oder bei der Schilderung, wie ein Bananendieb von „einer Lumpenparade durstiger Männer und Frauen” gelyncht wird – da bekommt man das Gefühl, etwas poetisch Wahres zu lesen, ein Stück großer Literatur.
Nur bei einem Thema tut sich eine Lücke auf: dem Tanz, durch den Alice ihren Weg findet. Neben dem klassischen Tanzunterricht entdeckt sie für sich die traditionellen Vaudou-Rhythmen, Spuren „aus den fernen Königreichen Afrikas, die über die Ozeane und Generationen von Seelen hinweg zu uns gefunden haben”. Aber so einfach ist es nicht, denn nach den Jahrhunderten der Überformung und Anpassung sind die echten Spuren nicht mehr auszumachen, geschweige denn dass auf der alten Fährte weitergegangen werden könnte. Dieser Unvereinbarkeit entspricht, dass an diesen Passagen die Sprache unbestimmt bleibt und die Bezüge der Metaphern verschwimmen. „Ich nutzte den Tanz sehr schnell, um das Leben auf meine Weise herauszufordern, seine düstersten Ecken auszuleuchten und deutliche Worte zu Gott zu sprechen.” Das klingt nach mehr als es ist, denn über diese Ecken, diese Worte ist nichts Näheres zu erfahren. Wenn im Motiv des Tanzens der Roman eine Brücke bauen will zwischen der traditionellen und der modernen Welt, dann ist das sprachliche Fundament dieser Brücke etwas wackelig.
Aber das spiegelt im Grunde nur das Problem wider, vor dem Alice tatsächlich steht: Lassen sich die widerstreitenden Interessen in Haiti integrieren? Zumindest in der Erinnerung? Im Original lautet der Romantitel “Dans la maison du père”, Im Haus des Vaters. Solange Haiti nach Abzug der US-Marines eine gewisse Offenheit bewahren konnte, findet die Integration wenigstens dort, im Haus von Alices Vater, statt. Aber im Epilog des Romans, nach dem erneuten gesellschaftlichen Zerwürfnis, geht jede der Figuren ihrer Wege.

Yanick Lahens: Tanz der Ahnen. Aus dem Französischen von Jutta Himmelreich. Rotpunktverlag, Zürich 2004, 160 Seiten, 17 Euro.

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