Der Irrsinn nimmt seinen Lauf
Zwischen Hilflosigkeit und Scheinheiligkeit: Die internationale Gemeinschaft und Haiti
Die Dramaturgie wiederholt sich: Der UNO-Generalsekretär Boutros Ghali unternimmt einen “letzten Versuch”, die Haiti-Krise auf diplomatischem Wege zu lösen. Zu diesem Zweck wird ein schwedischer UN-Emissär auf die Insel geschickt, um die technischen Absprachen für ein erneutes Treffen zwischen dem OAS-Vermittler Dante Caputo und den Militärs vorzunehmen. Während dieser vergeblich auf einen Gesprächstermin mit der de-facto-Regierung wartet, strecken MG-Salven einen engen Freund Aristides, den Priester Jean Marie Vincent, vor seinem Ordenshaus nieder. Wer denkt bei dem Attentat auf Vincent nicht an die ungesühnten Morde an Antoine Izméry und Guy Malary, die vor knapp einem Jahr, als die Rückkehr Aristides unmittelbar bevorstand, unter den Augen der UNO-Beobachter begangen wurden? Mit Vincent wurde eine weitere wichtige Stütze für den demokratischen Wiederaufbau des Landes ausgeschaltet. Der UN-Gesandte kehrte unverrichteter Dinge wieder nach New York zurück. Was soll noch alles passieren, damit dieses entwürdigende Schauspiel endlich ein Ende hat?
Da sitzt ein mit überwältigender Mehrheit gewählter Präsident, überzeugter Katholik und konsequenter Pazifist, seit Jahren in den USA – also gewissermaßen in der Höhle des Löwen – und muß mitansehen, wie dieser in aller Seelenruhe seine Krallen wetzt, um dem haitianischen Regime einen Hieb zu versetzen. Dieses hält den US-Löwen offenbar eher für einen kläffenden Hund, der bekanntlich nicht beißt, und zeigt sich daher relativ unbeeindruckt von den offiziellen Verlautbarungen aus dem Weißen Haus oder dem UN-Hauptquartier.
Mörderbuben als Hätschelkinder des Heiligen Vatis
Und dennoch, die Zeit der Junta scheint endgültig abgelaufen. Die mit päpstlichen Weihen ausgestatteten haitianischen Narko-Gorillas haben länger als genug zu erkennen gegeben, daß sie dem völlig verwüsteten, wirtschaftlich heruntergekommenen Land auch nicht den Schimmer einer Perspektive zu bieten vermögen. Die Militärs und ihre mittlerweile dritte zivile Marionettenregierung sind seit drei Jahren von allen offiziellen politischen und wirtschaftlichen Handelskanälen abgeschnitten, bis auf einen, den zum Vatikan. Der Heilige Vati kann es sich immer noch leisten, intime Beziehungen zu weltweit kompromittierten Mörderbuben zu pflegen, ohne daß ein Aufschrei durch seine internationale Fan-Gemeinde geht. Haiti ist hierfür jedoch nicht das einzige Beispiel. Zu Pinochet in Chile bestanden und bestehen ebenfalls sehr herzliche Beziehungen. Der apostolische Nuntius in Mexiko betreibt offene Hetze gegen den äußerst populären Bischof Samuel Ruiz und empfängt gleichzeitig zwei der meistgesuchtesten Drogenkartell-Häuptlinge, um ihnen die Absolution zu erteilen beziehungsweise diplomatischen Schutz zu gewähren.
Eine Politik des Vatikans, die weniger auf das Wohl seiner Schafe, als vielmehr auf das seiner Hirten und Oberhirten bedacht ist, hat besonders in Lateinamerika eine lange Tradition. Im Falle Haitis jedoch hat sie Formen angenommen, die jeglichen, wenn auch noch so dürftigen Rechtfertigungsversuchen bitter Hohn sprechen. Die von Rom protegierten Militärs gehen sogar so weit, sich die internationalen UN-Hilfsgüter – Treibstoff, Lebensmittel, Medikamente – unter den Nagel zu reißen, mit denen die verheerenden Auswirkungen des “totalen” Handelsembargos zumindest für einen Teil der Bevölkerung abgefedert werden sollten.
Die Schmerzgrenze für die Gottesmänner in Rom dürfte aber nun überschritten sein, da selbst vor einem geweihten Priester nicht Halt gemacht wurde. Der kaltblütige Mord an dem Ordenspriester und ehemaligen Caritas-Repräsentanten von Cap Haitien, Jean Marie Vincent, ist ein Indiz dafür, daß die Machthaber entweder im Begriff sind, eine neue Stufe der Repression zu beschreiten, oder daß sie die Kontrolle über ihre selbstgeschaffenen Mordwerkzeuge verloren haben. Beides wiegt gleich schwer. Jegliche Beileidsgeste von Seiten des Papstes oder auch der haitianischen Bischofskonferenz – deren Vorsitzender der frühere Vorgesetzte von Vincent im Caritas-Verband ist – wirkt eher wie eine heuchlerische Pflichtveranstaltung denn als aufrichtig gemeinte Äußerung der Betroffenheit.
Nach drei Jahren Schweigen zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat die katholische Amtskirche jeglichen Kredit beim haitianischen Volk verspielt.
Die internationalen “Freunde” haben ihren Kredit verpokert
Aber gibt es überhaupt noch irgendeine Instanz, die der Bevölkerung gegenüber kreditwürdig ist? Die UNO etwa, die als säkuläre Repräsentanz der internationalen Gläubiger-Gemeinschaft seit drei Jahren ihren unerschütterlichen Willen und ihre Entschlossenheit bekundet, mit dem Unrechtsregime aufzuräumen und die legitime, demokratisch gewählte Regierung Aristide wieder in ihr Recht zu setzen? Oder gar ihr kontinentaler Ableger, die OAS, die seit ihrem Bestehen nichts als Machtlosigkeit dokumentiert? Die, wenn überhaupt, nur als Feigenblatt-Organismus für nordamerikanische Interessen in Erscheinung tritt? Die “vier Freunde” etwa – USA, Kanada, Frankreich, Venezuela – von denen die drei Letztgenannten nur so lange etwas zu sagen haben, wie sie nicht mit eigener Stimme sprechen? Niemand spricht mehr von diesem Kreis. Und was ist mit den USA, dem angeblich allergrößten Freund?
Wer traut dem unaufhörlich grinsenden US-Präsidenten Clinton noch die Fähigkeit zu, einen überzeugenden Plan anzubieten, um zumindest sein Gesicht zu wahren? Clinton scheint rettungslos überfordert in seinem Amt, weiß angesichts der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen aus Haiti und Kuba weder ein noch aus. Innenpolitisch gerät er zunehmend unter Handlungsdruck – schließlich sind bald Halbzeitwahlen in den USA.
Überhaupt scheint in Washington ein wildes Durcheinander zu herrschen: Stellungnahmen verschiedener Regierungsfunktionäre widersprechen sich teilweise diametral, von dem Haiti-Sonderbeauftragten William Gray ist seit Wochen nichts mehr zu hören. Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im Repräsentantenhaus, der Demokrat Lee Hamilton, sagt, das Parlament folge den Plänen der Entsendung einer 10.000 Mann starken Invasionstruppe nur sehr widerwillig und skeptisch. Der republikanische Senator Richard Lugar bezeichnet ein bewaffnetes Eingreifen als einen “historischen Irrtum”. – Der “historische Irrtum” kann doch allenfalls darin liegen, Mr. Lugar, daß die von US-Streitkräften ausgebildeten haitianischen Militärs überhaupt jemals so viel Macht und Einfluß erhalten haben. – Vielleicht dient das ganze wortreiche Geplänkel in den Vereinigten Staaten auch nur dazu, von ganz anderen gesamtkaribischen Überlegungen – Stichwort Kuba – abzulenken?
Aristide: kompromißbereit bis zur Selbstaufgabe?
Und wie steht es um Aristide selbst? Ist es politisch, moralisch, ethisch noch zu rechtfertigen, daß an seiner Wiedereinsetzung mit allen Mitteln festgehalten wird? Wie kann er mit den jahrelangen Demütigungen, den permanenten Vertrags- und Vertrauensbrüchen von so vielen Seiten zurechtkommen? Welche Spuren in seiner Seele hinterlassen die täglichen Morde an Menschen, deren einziges Verbrechen es ist, als Sympathisanten seiner Politik zu gelten? Wie wirken Zeitungsmeldungen wie jene aus jüngster Zeit, wonach Ex-Präsident Bush in Buenos Aires vor argentinischen Bankern heftig gegen eine militärische Invasion zu Felde zog, mit der Begründung, der vor drei Jahren gestürzte Aristide sei total unzuverlässig und zu keinerlei Kompromissen bereit? Solche und ähnliche Ungeheuerlichkeiten werden ständig unwidersprochen in den Medien verbreitet, sowohl in den USA als auch anderswo.
Gleichzeitig erscheint Aristide bis zur Selbstaufgabe zu Kompromissen bereit zu sein, um seinem vom Volk erhaltenen Auftrag bis zum verfassungsmäßigen Ende seiner Amtszeit zu erfüllen. Aber entspricht seine derzeitige Rolle, außerhalb Haitis gegen die Diktatur zu protestieren, noch dem vom Volk erhaltenen Auftrag? Hätte Aristide nicht längst – spätestens im Dezember ’93, nach dem offenkundigen Scheitern des Abkommens von Governors Island – zum militanten Widerstand des Volkes gegen seine Mörder aufrufen beziehungsweise für dessen Bewaffnung sorgen müssen? Gibt es nicht auch ein christliches Widerstandsrecht?
Vielleicht kommt es letztendlich doch zu dem unwürdigen Moment, daß Aristide auf den Flügeln einer ausländischen Militärmaschine nach Port-au-Prince segelt. Selbst wenn dies geschehen sollte, wird inzwischen so viel Zeit ins Land gegangen sein, daß er es kaum mehr wiedererkennt. Die politische Klasse Haitis wird im Wesentlichen noch dieselbe sein, wogegen die Menschen aus Aristides früherem Umfeld entweder nicht mehr da sein oder mittlerweile mit großer Zurückhaltung auf seine Wiederkehr reagieren werden.
Dem politischem Projekt Lavalas sind so tiefe Wunden geschlagen worden, daß eine Neuauflage dieses basisdemokratischen, transparenten und gerechten Gesellschaftsmodells auf Jahre hin erschwert sein wird.
Das zarte Pflänzchen Hoffnung, das da vor fast vier Jahren mit der Wahl Aristides erste Wurzeln geschlagen hatte, wurde zu lange von der brutalen Dummheit der Macht und ihren militärischen Stiefeln zertreten, als daß es sich in dem ohnehin verdörrten haitianischen Boden schnell erholen könnte. Ob dies auch für seinen Ableger, die für einen historischen Moment lang wiedergewonnene Würde, gilt, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten erweisen. Zur Zeit hat es eher noch den Anschein, als modere diese in den stinkenden Pfützen von Cité Soleil vor sich hin.