Lateinamerika | Nummer 378 - Dezember 2005

Streit um ein anderes Amerika

Der Gipfel in Mar del Plata endet ohne konkrete Ergebnisse

Die US-Pläne zur Errichtung der gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA haben einen weiteren Dämpfer erhalten. Eine endgültige Entscheidung über das neoliberale Projekt steht somit noch aus. Stattdessen werden von Néstor Kirchner und Hugo Chávez Alternativpläne ins Spiel gebracht.

Jürgen Vogt

Am Ende stand es 29 zu fünf. Mar del Plata wurde nicht zur Grabstätte von ALCA, wie Venezuelas Präsident Hugo Chávez noch vor dem Amerikagipfel der 34 Staats- und Regierungschefs verkündet hatte. 29 Staaten, darunter die USA, Kanada, Mexiko und Chile, sehen die Möglichkeit, den seit zwei Jahren ruhenden Verhandlungsprozess über die Freihandelszone ALCA 2006 wieder aufzunehmen. Die vier Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay sowie Venezuela sind unter den gegenwärtigen Bedingungen dagegen. Da das Konsensprinzip galt, wurden die unterschiedlichen Positionen in der Abschlusserklärung festgeschrieben.
Zugespitzt hatte sich die Lage mit dem Streit um die US-amerikanischen Subventionen und Handelsbeschränkungen im Agrarsektor. Erst wenn hier eine Lösung erzielt werde, könne wieder über eine Freihandelszone verhandelt werden, so die Position der Mercosur-Staaten. Diese Frage wird die so genannte Doha-Runde im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO weiter beschäftigen, deren nächstes entscheidendes Treffen für Mitte Dezember vorgesehen ist.
Das Ergebnis von Mar del Plata ist nicht mehr als eine Momentaufnahme der gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnisse. Alle Länder haben sich in der Abschlusserklärung für die weitere Integration der Staaten des amerikanischen Kontinents ausgesprochen. Aber der Süden möchte sich die Bedingungen dafür von Washington nicht diktieren lassen. Der Hinterhof der USA ist kleiner geworden. Néstor Kirchner hat den internationalen Finanzinstitutionen in seiner Eröffnungsrede deutlich die Leviten gelesen und ihnen die Mitverantwortung für die große Armut in der Region zugeschrieben. Die Politik des IWF gegenüber Argentinien bezeichnete er vor den 33 Staats- und Regierungschefs als „pervers“. Er rief dazu auf, eine “neue Entwicklungsstrategie für die Region” zu finden und kritisierte damit indirekt die von den USA favorisierte Freihandelshandelzone ALCA.
Der Süden drängt auf die Berücksichtigung der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus. Aus argentinischen Regierungskreisen wird immer wieder das Vorbild des Integrationsprozesses der Europäischen Union ins Spiel gebracht: intensive Verhandlungen über den Eingliederungsprozess; finanzielle Beihilfen und Schutzklauseln für die kleinen und schwächeren Volkswirtschaften. Doch das ist eine Horrorvision für die US-Administration.
Das Abschlussdokument lässt zu, dass die 29 Befürworterstaaten 2006 über eine ALCA „Light“-Version verhandeln können. Aber die Länder, die gegen ALCA stimmten, produzieren immerhin 75 Prozent des Bruttoinlandsproduktes von Lateinamerika. Die USA setzen deshalb weiter auf ihre bilaterale Verhandlungsstrategie, mit deren Hilfe sie Keile in die Allianzen treiben will. Kaum traf Bush aus Mar del Plata kommend zum Staatsbesuch in Brasilien ein, da lobte er seinen „Freund“ Lula „für die Führungsrolle in der ganzen Welt und auf dem amerikanischen Kontinent.“
Von der Allianz Mercosur-Venezuela ist auch keine große Umwälzung zu erwarten. Hugo Chávez’ Vorschlag einer Alternativa Boliviariana de las Americas (ALBA) ist in den beiden großen Mercosurstaaten Brasilien und Argentinien nicht durchzusetzen. Da stehen die Regierungen Lula und Kirchner gegen die Macht und den Einfluss der multinationalen Firmen und Banken in ihren Ländern.
Chávez arbeitete jedoch weiter an seiner Führungsrolle bei den sozialen Protestbewegungen. Als einziger Regierungschef trat er sowohl auf dem Regierungsgipfel als auch auf den Protestveranstaltungen auf. „Ich werde jetzt zum anderen Gipfel gehen und dort eure Stimme vertreten,” versprach er nach seiner knapp dreistündigen Rede den 30.000 Menschen im Weltstadion von Mar del Plata. Und seinen nächsten großen Auftritt hat er auch schon sicher: im Januar 2006 auf dem 6. Weltsozialforum in seiner Hauptstadt Caracas.
Chávez wurde auf dem 3. Gipfel der Völker, dem Gegengipfel zum Amerika-Gipfel, als Hoffnungsträger gefeiert. Rund 12.000 Menschen nahmen an der dreitägigen Veranstaltung teil. Unter dem Motto „Ein anderes Amerika ist möglich” diskutierten rund 150 Foren unterschiedliche Themen. In der Abschlusserklärung wurde ein alternativer Integrationsprozess in Anlehnung an die Alternativa Bolivariana de las Americas (ALBA) vorgeschlagen.
Als 15.000 DemonstrantInnen unter der Losung: „Nein zu ALCA – Nein zu Bush” friedlich durch Mar del Plata zogen, war an der Spitze noch ein anderer Hoffnungsträger mit dabei: der bolivianische Präsidentschaftskandidat und Bauernführer Evo Morales. Eine Straßenschlacht lieferten sich dagegen einige hundert DemonstrantInnen am Nachmittag mit den Sicherheitskräften an den Absperrungen der Sicherheitszone. AntiimperialistInnen und VertreterInnen des kompromisslosen Teils der Piquetero-Bewegung hatten die Aktionen zuvor angekündigt.

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