Brasilien | Nummer 311 - Mai 2000

Großgrundbesitzer setzen auf Gentechnik

Millionen von Kleinbauern droht die Marginalisierung

Seit der Kolonialzeit ist der Großgrundbesitz die von den brasilianischen Eliten gewünschte Produktionseinheit. Jetzt wird der Großgrundbesitz neoliberal „modernisiert“ und im Rahmen der brasilianischen Agrarpolitik weltmarktfähig gemacht. Technologien wie die Gentechnik unterstützen diesen Prozess. Die Verlierer sind Millionen von Kleinbauern, die arbeitslos und damit von jeglicher Entwicklung und Partizipation ausgeschlossen werden.

Wolfgang Hees

Der Großgrundbesitz wird üblicherweise mit einer extensiven Bewirtschaftung, also wenig Kapital- oder Betriebsmitteleinsatz (das heißt Dünger, Pflanzenschutz, Pflegearbeiten und Bodenbearbeitung) und dementsprechend geringem Ertrag pro Flächeneinheit in Verbindung gebracht. Doch diese Charakterisierung ist im Wandel begriffen, da es zunehmend intensiv bewirtschafteten Großgrundbesitz gibt. Klassischer wie „moderner“ Großgrundbesitz dient neben der landwirtschaftlichen Produktion auch als Machtfaktor. Mit ihm werden Bodenpreisspekulationen ermöglicht und subventionierte Agrarkredite und Wirtschaftsbeihilfen erlangt.
Das brasilianische Kapital konzentrierte sich auf die Weiterverarbeitung von Agrarprodukten für den Export. Eine Käuferschicht im eigenen Lande wurde erst im Estado Novo von Getulio Vargas in den dreißiger Jahren interessant. Da jedoch die Agrareliten das Land als Basis ihrer Macht im Industrialisierungsprozess verteidigten, wich man im Rahmen der Importsubstitutionspolitik mit hohen Zöllen auf andere Käuferschichten ( z.B. im benachbarten Ausland) aus und schloss eine breite Masse der armen Bevölkerung aus, was eine Fortsetzung der Geschichte der Excluidos, der Ausgeschlossenen bedeutete. Sie hatte mit der Sklaverei begonnen, deren so genannte Befreiung 1888 nur durch den Druck Englands erreicht wurde. Dahinter stand das Kalkül, dass politisch „freie“ ArbeiterInnen preiswerter sind als leibeigene SklavInnen. Denn bei „freien“ ArbeiterInnen trägt die Arbeiterfamilie einen Teil der Reproduktionskosten. Das ländliche Proletariat barg immer ein gewisses Konfliktpotenzial, war jedoch schlecht organisiert und nur in wenigen Fällen kam es zu regionalen Aufständen.
Erst das Beispiel der kubanischen Revolution machte den Mächtigen, insbesondere aber deren Alliierten in den USA klar, wie weit solche Aufstände führen konnten. Daher genügte den USA die Installation von Militärdiktaturen wie 1964 in Brasilien nicht. Die Machtübernahme der Militärs war einerseits eine Konsequenz aus den Aufständen und der Sympathie von Präsident Janio Quadros gegenüber deren Forderungen. Andererseits passte sie in die Konjunktur des US-Geheimdienstes CIA, der zu dieser Zeit den „totalen Krieg gegen die Armen“ in ganz Lateinamerika ausbreitete und überall Militärdiktaturen an die Macht brachte. Da man sich in den sechziger Jahren über deren Stabilität noch nicht sicher war, wurden sie durch das Reformprogramm „Allianz für den Fortschritt“ unterstützt, das für kleine Strukturverbesserungen und eine Agrarmodernisierung stand. Durch die neuen Technologien sollten mehr Nahrungsmittel produziert werden, um Hungerrevolten auszuschließen. Außerdem diente das Programm als Exportförderung für die USA in Sachen Maschinen, Dünger oder Saatgut.
Die grüne Revolution und die Nahrungsmittelhilfe durch die USA (US-Aid) setzten dieses Reformpaket in den siebziger und achtziger Jahren fort. Ein interessanter Aspekt an der „Allianz für den Fortschritt“ ist, dass die progressive Agrarreformgesetzgebung des Estatuto da terra (Bodenrecht) aus der Zeit vor der Militärdiktatur nicht angetastet wurde und erst durch die neue Verfassung von 1988 verändert wurde.
Es wurde höchstens in Einzelfällen angewandt, wenn organisierte Bauernfamilien auf ihr Bodenrecht pochten, unproduktiven Großgrundbesitz besetzten und seine Freigabe (bei Entschädigung des Besitzers) durch den Staat verlangten.
Mit dieser Aktionsform der brasilianischen Landlosenbewegung MST geraten wir bereits in das Jahr 1975, als mit der Besetzung der fazenda Annoni in Rio Grande do Sul die Besetzungen des MST begannen. Mittlerweile haben über 400.000 Familien rund sechs Millionen Hektar auf diese Weise dem Staat abtrotzen können.
Weit entfernt von einer staatlichen Agrarreform oder gar einer Agrarrevolution spiegelt es nur eine Politik der Ansiedlung im Einzelfall wider – was beiden Seiten bewusst ist. Der Staat will sein Modell nicht ändern und gestaltet es im Einzelfall auf Druck sozialverträglich, während der MST nicht die Macht hat, das neoliberale Modell mit Macht- und Landkonzentration in der Hand von wenigen zu ändern.
Doch die Wahrheit über die Situation auf dem Lande ist noch wesentlich dramatischer: es werden nicht nur keine Bauern angesiedelt, sondern das gegenwärtige Agrarmodell vertreibt sogar noch Bauern vom Land.
Nach den neusten staatlichen Erhebungen sind es heute nicht mehr „nur“ 4,8 Millionen Kleinbauern (Zahl von 1995) und Landarbeiterfamilien, die auf der Suche nach einem Stück Land zum Leben und Arbeiten durch Brasilien herumirren, sondern mittlerweile über fünf Millionen Familien! Das bedeutet nicht weniger als 20 Millionen Menschen.
Gleichzeitig ist die Zahl der kleinbäuerlichen Betriebe im letzten Jahrzehnt von 5,8 Millionen auf 4,8 Millionen gesunken, d.h. eine Million Familien haben ihren Betrieb aufgeben müssen, hunderttausend landwirtschaftliche Arbeitskräfte wurden entlassen.
Doch die Studie zeigt noch mehr: 8 bis 14 Millionen BrasilianerInnen wollen den ländlichen Raum verlassen. Kein Wunder, schließlich sind die ländlichen Einkommen in den letzten Jahren stark gefallen: nach der aktuellen Studie produzieren Betriebe bis zu 80 Hektar im monatlichen Durchschnitt nicht mehr als 50 Reais (was 60 DM oder einem Drittel eines brasilianischen Mindestlohnes entspricht).
Die UN-Organisation für Lateinamerika CEPAL bewies durch ihre Studien schon Mitte der neunziger Jahre, dass eine Agrarreform das wirksamste Mittel für eine Sozialpolitik sei. Ein ländlicher Arbeitsplatz kostet den Bruchteil eines industriellen Arbeitsplatzes – braucht aber eine entsprechende Agrarpolitik, um nachhaltig zu sein. Und damit gelangt man wieder zum Agrarmodell, welches nach der Definition des brasilianischen Präsidenten Cardoso nur das neoliberale Modell einer „modernen“ Landwirtschaft sein kann, die mit Agrarexporten die Handelsbilanz unterstützt und zudem den Binnenmarkt versorgt.

Mit Gentech am Markt

Hierfür soll die Landwirtschaft weltmarktfähig modernisiert werden, und dabei setzt Brasilien auf die Bio- und Gentechnologie der Agrarmultis. In weniger als drei Jahren genehmigte die „Nationale Technikkommission für biologische Sicherheit“ bereits 636 Freisetzungen genetisch veränderter Organismen. Insgesamt sind 176 Sorten betroffen, unter anderem auch so wichtige Kulturen wie Reis, Mais, Kartoffel, Baumwolle, Zuckerrohr und Soja. Fast 90 Prozent dieser Sorten sind dabei von nur sechs multinationalen Unternehmen patentiert. Darunter befindet sich z.B. auch die Genehmigung für die Roundup Ready Sojabohnen (RRS) des Chemiemultis Monsanto. RRS ist genetisch so verändert, dass die Pflanzen gegen den Wirkstoff Glyphosat (enthalten im firmeneigenen Totalherbizid Roundup) resistent sind. Da der Patentschutz für Roundup in diesem Jahr abläuft, ist das Saatgut für Monsanto nun besonders wichtig: nur wer einen Lizenzvertrag beim Kauf von RRS unterzeichnet, bekommt das Saatgut überhaupt. Im Vertrag verpflichtet er sich, ausschließlich Roundup von Monsanto einzusetzen, stimmt jederzeitigen Kontrollen durch Monsanto zu und verzichtet unter Androhung hoher Strafen auf den Nachbau (Verwendung von Teilen der eigenen Ernte als Saatgut im Folgejahr). Schon 1997 wurden 20 Prozent der US-amerikanischen Sojaflächen, also 5 Millionen Hektar, mit RRS angebaut. In Argentinien waren es rund 2 Prozent der Anbaufläche.
Brasilien ist mit rund 12 Millionen Hektar Sojaanbaufläche nach den USA (ca. 25 Mio. ha) der zweitgrößte Produzent von Soja und weltweit der größte Exporteur von Sojaschrot und -öl, gefolgt vom Nachbarstaat Argentinien. Hauptabnehmerin ist die Europäische Union: sie importiert 80 Prozent der brasilianischen und 78 Prozent der argentinischen Bohnen, sowie 80 Prozent beziehungsweise 60 Prozent der Sojaschrotexporte.

Europäischen Widerstand brechen

Als bedeutende Welthandelsfrucht mit einer weltweiten Anbaufläche von 62,4 Millionen Hektar wurde die Sojabohne schon frühzeitig für die Gentechnik interessant. Dabei ging es vor allem um zwei Aspekte: die landwirtschaftliche Produktion (Herbizid-, Insektizid und Soja-Mosaikvirusresistenz) und die industrielle Verwertbarkeit (höherer Methioningehalt des Eiweiß und höherer Öl- bzw. Linolsäuregehalt).
In Brasilien verhinderte der Einspruch von Verbraucherorganisationen und UmweltschützerInnen, dass es zur Genehmigung von RRS in Brasilien kam. Für Monsanto ein Problem, denn dadurch ist es möglich, dass Europa, wo die Ablehnung gentechnisch manipulierter Nahrungsmittel rund 80 Prozent ausmacht, weiterhin mit gentechnikfreiem Soja versorgt werden kann und dies unter dem einfachen Herkunftsnachweis.
Nichtsdestotrotz wird in der Praxis ein florierender Handel mit dem gentechnisch veränderten Saatgut getrieben. In unserer Ernährung finden sich heute 20.– 30.000 Sojaprodukte, so dass ein Einzelnachweis gar nicht in allen Fällen möglich wäre. Eine ausreichende Kennzeichnung genmanipulierter Nahrungsmittel und -zusätze ist in der EU noch nicht in Sicht. Würde nun „durch die Macht des Faktischen“ der Widerstand der europäischen Bevölkerung gegen genmanipulierte Nahrungsmittel am Beispiel Soja gebrochen, wäre der Weg frei für weitere Produkte aus den Labors der Chemiekonzerne. Und diese nehmen beständig zu: Monsanto hat nicht nur in der nördlichen Hemisphäre Saatgutfirmen aufgekauft, sondern auch in Brasilien unliebsame Konkurrenz einfach übernommen. Die Ziele von Monsanto und allgemein in Gentechnik investierender Chemiefirmen liegen klar auf der Hand: Den Bauern bleibt keine Alternative zum Anbau mit gentechnisch manipuliertem Saatgut. Sie müssen das Saatgut und die Pestizide als Gesamtpaket kaufen und dürfen keinen Nachbau betreiben, müssen also jährlich neu einkaufen. Die Konsumenten bekommen keine gentechnikfreien Lebensmittel mehr und geben ihren Widerstand aus Mangel an Ersatz und unzureichender Kennzeichnung auf.
Auch die Zielgruppe ist eindeutig. Monsanto wendet sich nicht an den Kleinbauer, der schwer kontrollierbar ist, sondern an die Großbetriebe, die für den Weltmarkt produzieren. In deren Produktionsweise mit Minimalbodenbearbeitung unter starkem Herbizideinsatz können die gentechnisch veränderten Pflanzen ihr Potenzial am ehesten entfalten und nur bei ihnen können die hohen Kosten für das Saatgut-Pestizid-Package mit der schon bisher teuren, da input-orientierten Produktion konkurrieren.
Die verbesserte industrielle Verwertbarkeit der Gentec-Produkte wiederum führt nur dann zu höheren Auszahlungen durch die Verarbeitungsindustrie, wenn entsprechend große und uniforme Chargen geliefert werden. Dafür wieder eignen sich am besten großflächige industrialisierte Agrarunternehmen, die mit Lieferverträgen oder direkt im Vertragsanbau die gewünschten Mengen liefern, die dann die Auslastung der Verarbeitungsbetriebe garantieren. Der moderne Großgrundbesitz bleibt somit Dank seiner economies of scale unter den Bedingungen der neoliberalen Agrarpolitik im Verbund mit der Agrarchemie und den Gentec-Firmen „zukunftsfähig“. Millionen von Bauernfamilien und noch unabschätzbare Gefahren für die Umwelt sind das sprichwörtliche „Bauernopfer“ auf diesem Weg.

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