Brasilien | Nummer 455 - Mai 2012

Das „Frankenstein-Projekt“

Waldgesetz verabschiedet – wird die Präsidentin ihr Veto einlegen?

Mit ihrer Mehrheit im Kongress hat die Agrobusiness-Fraktion am 26. April das neue Waldschutzgesetz verabschiedet. Nun hoffen sie auf eine ungebremste Ausweitung der Anbauflächen. Umweltschützer_innen gehen auf die Barrikaden und warnen vor den katastrophalen Folgen. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff steht vor der bislang größten Feuerprobe ihrer Amtszeit.

Gerhard Dilger

Wieder einmal durfte das brasilianische Agrobusiness jubeln: Mit 274 zu 184 stimmte das Abgeordnetenhaus in Brasília Ende April für eine Novelle des Waldgesetzes, die noch weit über das hinausgeht, was der Senat im Dezember verabschiedet hatte (siehe LN 451). Das Gesetz ist ein Freibrief für den Raubbau – schon die einjährige Debatte hat die Waldzerstörung deutlich beschleunigt, da viele Farmer vollendete Tatsachen schaffen wollten. „Meine Regierung ist für die Umwelt, aber auch für die Bauern, für die Viehzüchter”, tönte Henrique Eduardo Alves, der Fraktionschef der mächtigen Zentrumspartei PMDB, die Mitglied der breiten Regierungs-Allianz verschiedenster Parteien in Brasília ist. Anders aber als die meisten Koalitionspartner_innen lehnte die Arbeiterpartei PT von Präsidentin Dilma Rousseff den jüngsten Entwurf fast geschlossen ab.
Mit der Novelle würden bislang vorgeschriebene Schutzzonen verkleinert und Landbesitzer_innen von den bisher gesetzlich vorgeschriebenen Verpflichtungen zur Wiederaufforstung befreit. Nur eine einzige Vorschrift konnte die Regierung wegen eines Verfahrensfehlers retten: Nach Rodungen müssten Landbesitzer_innen zerstörte Ufer bei bis zu zehn Meter breiten Flüssen jeweils 15 Meter wiederaufforsten. An 20 Punkten wurde der Senatsentwurf verwässert, etwa zugunsten von Krabbenzüchtern. Weitere „Flexibilisierungen“, etwa bei breiteren Flüssen, sollen in die Zuständigkeit der meist konservativ regierten und agrobusinessfreundlichen Bundesstaaten übertragen werden.
Die Großfarmer_innen und die Agroindustrie, die in der sogenannten bancada ruralista („Landfraktion“) im Parlament organisiert sind, dominieren den Kongress und drängen auf eine ungebremste Ausweitung der Anbauflächen, auch in Quellgebieten, an Berghängen und -kuppen. Schon jetzt kommt es bei heftigen Regenfällen in dicht besiedelten Gebieten regelmäßig zu großen Erdrutschen, die zahlreiche Todesopfer fordern.
„Ein Frankenstein-Projekt“, schimpfte Sarney Filho von der grünen Partido Verde (PV). Sein Parteikollege Alfredo Sirkis beklagte eine „Offensive von Bodenspekulanten und Großgrundbesitzern“. Andere Parlamentarier_innen forderten Rousseff auf Schildern zum vollständigen Veto gegen das Gesetz auf, wie es auch die Umweltbewegung seit Monaten tut. Auf unzähligen Plakaten im ganzen Land wird die bancada ruralista als Inkarnation des profitgierigen Waldhassers dargestellt – beliebte Insignien sind dabei die Kettensäge und der Caterpillar.
Beobachter_innen hoffen nun, dass die Großfarmer_innen diesmal den Bogen überspannt haben. Umweltministerin Izabella Teixeira deutete an, wie die Regierungschefin das nun verabschiedete Gesetz sieht. Teixeira sagte, das von den Abgeordneten verabschiedete Gesetz gewährleiste weder Rechtssicherheit noch „das Gleichgewicht zwischen Umwelt und Produktion“. Beobachter_innen vermuten, dass Staatschefin Rousseff den Parlamentsbeschluss nicht hinnehmen wird – bedeutet er doch eine herbe Niederlage für ihre Regierung, die im Juni Gastgeberin des in Brasilien als prestigeträchtig angesehenen UN-Umweltgipfels Rio+20 sein wird. Am Tag nach der von lauten Protesten von Waldschützer_innen vor dem Kongressgebäude begleiteten Abstimmung ließ Rousseff dann auch von Vertrauten verbreiten, Straffreiheit für Waldzerstörer_innen werde sie nicht zulassen. Die Präsidentin werde das Gesetz „mit kühlem Kopf analysieren“ und in spätestens 14 Tagen ihre Entscheidung fällen.
„Dilma Rousseff wird entscheiden müssen, welches Entwicklungsmodell sie für Brasilien will“, schrieb die frühere Umweltministerin Marina Silva in der Tageszeitung Folha de São Paulo. Die Präsidentin müsse gegen die gesamte Novelle ihr Veto einlegen, anstatt faule Kompromisse mit der Kettensägen-Lobby auszuhandeln.
Angesichts von Rousseffs bisheriger Umweltbilanz ist allerdings Skepsis angebracht. Klammheimlich werden Naturschutzgebiete zugunsten von immer weiteren Staudämmen in Amazonien umgewidmet, als Kontrollinstanz ist das Umweltministerium praktisch abgemeldet, die Waldzerstörung nimmt wieder deutlich zu. Wachstum durch Monokulturen, Megaprojekte und Rohstoffexport, das scheint das Motto der vormaligen Energie- und Bergbauministerin zu sein.
Den Preis bezahlen Kleinbäuerinnen und -bauern, Fischer_innen, Indigene und die lokalen Anwohner_innen der gesamten Palette an umstrittenen Großprojekten, über die Brasília zentral entscheidet und die Menschen vor Ort mit den Konsequenzen leben müssen. In Brasilien zeichnet sich vor diesem Hintergrund ein umweltpolitisches Rollback von gigantischen Ausmaßen ab. Bisher gibt es auch keinerlei Anzeichen, dass Brasilien seine Gastgeber_innenrolle beim Umweltgipfel Rio+20 dazu nutzen könnte, um sich als grüne Supermacht zu positionieren. Dennoch: Das üble Vorgehen der Agrarlobby böte Dilma Rousseff die Chance, ein eigenes, modernes Waldgesetz vorzulegen, das Umweltschutz und rechtsstaatliche Standards über das Profitstreben und die Wildwestmethoden des Agrobusiness stellt. Es ist die bislang größte Feuerprobe ihrer Amtszeit.

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