Meer für alle
Die Bewohner*innen der Vila Brandão wehren sich gegen die Verdrängung durch einen Yachtclub. Dabei vernetzen sie sich mit anderen armen Gemeinden
Verträumt blickt Aleyson zum Horizont. Das Wasser glitzert in der Abendsonne. Boote schaukeln sanft in den Wellen. „Ich komme fast jeden Tag hierher. Ich könnte niemals weit weg vom Meer leben“, sagt er, erhebt sich und balanciert blitzschnell auf den glatten Steinen zum Ufer. Während der Jugendliche auf das offene Meer hinauskrault, senkt sich die Sonne immer weiter und hüllt die Küste und die anliegenden Backsteinhäuschen in ein tiefes Rot.
Die Vila Brandão liegt an der Allerheiligenbucht, der Baía de Todos os Santos, in der Millionenstadt Salvador da Bahia im Nordosten Brasiliens. Die Gemeinde, oft als Favela bezeichnet, ist eines der letzten Wohngebiete für Hausangestellte, Bauarbeiter*innen und andere Geringverdiener*innen im Zentrum der Küstenmetropole. Weniger als eine halbe Stunde sind es zum weltbekannten historischen Viertel Pelourinho und wenige Minuten ins touristische Barra. Luxusapartments säumen hier die Küstenstraße. In den noblen Wohnungen mit Panoramablick wohnen die „Reichen und Schönen“ der Stadt. Die Eingänge der gläsernen Wohntürme sind wie Festungen abgeriegelt.
Zwischen einer McDonalds-Filiale und einer weißen Kirche liegt der Vitoria-Platz. Eine schmale Straße führt vom Platz zu einer Treppe, das rote Graffiti „Gemeinde Vila Brandão“ markiert den Eingang zur Siedlung. Ein steiler Betonweg schlängelt sich vorbei an Backsteinhäusern und Wäscheleinen hinunter zu einem kleinen Platz. Die Aussicht auf die Bucht ist atemberaubend. Mehrere Bewohner*innen sitzen in den Eingängen ihrer Häuser, während eine Gruppe von Kindern in der prallen Mittagssonne Fußball spielt. Katzen liegen träge im Schatten. Im Hintergrund läuft ein Fernseher. Aus einem Haus ertönt brasilianische Popmusik. In der Mitte des Platzes prangt an einer Wand das gesprühte Porträt eines alten Mannes mit Schirmmütze. Das Graffiti ehrt den Gründer der Gemeinde, Seu Antonio. Er siedelte sich mit seiner Familie vor über 75 Jahren auf dem damals noch wertlosen Hügel an, es folgten Migrant*innen aus dem Landesinneren, die Familien wuchsen. So entstand die Vila Brandão, heute eine der ältesten Siedlungen im Zentrum Salvadors. Im Jahre 2004 verstarb Seu Antonio, im Alter von 103 Jahren. Nachkommen des Candomblé-Priesters leben jedoch bis heute in der kleinen Gemeinde mit Meerblick.
In den Backsteinhäusern zu Füßen der Elite wohnen rund 300 Menschen. Die meisten der Frauen und einige der älteren Männer arbeiten regulär in der näheren Umgebung oder verdienen ihr Geld als Straßenverkäufer*innen. Viele der Männer sind im Baubetrieb beschäftigt. Andere leben immer noch vom Fischfang. Nur die jüngeren Männer verbringen größtenteils ihre Tage am Platz, den Wellen nachschauend. Ein kleiner Steinstrand befindet sich unterhalb einer dichtbewachsenen Grünfläche, unweit vom staubigen Fußballplatz. Weitere Häuser dürfen hier nicht gebaut werden, darauf haben sich die Bewohner*innen geeinigt, um die Natur zu schützen.
Das freundliche Klima und die paradiesische Lage ziehen seit vielen Jahren Künstler*innen, Student*innen und sozial engagierte Ausländer*innen an, die für einige Zeit in der Vila Brandão leben oder sich an kulturellen Aktivitäten beteiligen. Die Siedlung gilt als „Vorzeigefavela“. Seit einigen Jahren setzt sich Casa Matria, eine von einem österreichischen Verein getragene Initiative, für die Umsetzung von Ökoprojekten und kulturellen Initiativen wie Tanz und Theater für die Kinder ein. Die große Mehrheit der Einwohner*innen ist schwarz, fast alle bekennen sich zur afrobrasilianischen Religion Candomblé. Bis zum Tod von Seu Antonio, dem Gründer, existierte ein aktives Terreiro, ein Candomblé-Kultplatz, in der Vila Brandão.
Die Gemeinde weist eine der niedrigsten Kriminalitätsraten in Salvador auf. Doch die Infrastruktur ist auch hier prekär: Öffentliche Beleuchtung sowie Müllabfuhr fehlen, der Zugang zur Gemeinde ist nur zu Fuß möglich und vor allem fehlt die Anerkennung der Boden- und Besitzrechte. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch und trotz der Offenheit der Gemeinde schauen die reichen Nachbar*innen nie vorbei. Zu groß ist das Stigma gegenüber den „favelad@s“, auf die sie aus ihren Luxusapartments sinnbildlich herunterblicken. Rechte Medien und konservative Politiker*innen heizen den Diskurs von Favelas als „Orte der Gewalt“ noch an.
In einem kleinen Haus im Herzen der Gemeinde wohnt Aleyson Leite Perreira. Mit seinen Eltern und neun Geschwistern teilt er sich die einfache Unterkunft. „Ich liebe meine Gemeinde, denn hier haben wir Frieden und Ruhe“, sagt der 18-jährige mit dem freundlichen Lächeln und den leuchtend grünen Augen. Aufmerksam hört er zu und antwortet höflich in knappen Sätzen. Immer wieder blickt Aleyson schüchtern auf sein Smartphone. Als er anfängt über seine Leidenschaft zu sprechen, taut er immer mehr auf und berichtet irgendwann mit voller Begeisterung.
Schon als kleiner Knirps sei er jeden Tag am Strand der Gemeinde gewesen. Dort habe er das Schwimmen gelernt. Mit seinem Vater, einem ehemaligen Fischer, fuhr er regelmäßig raus auf das Meer. Als er älter wurde, hing er mit den Jungs aus der Nachbarschaft auf der Straße herum, kam auf dumme Gedanken, kippte in Gewalt- und Drogenkontexte. Das Schwimmen hat Aleyson jedoch nie aufgeben. Eines Tages sichtete ihn der Talentscout eines Schwimmvereins und lud ihn zu einem Probetraining ein. Aleyson wusste schnell zu überzeugen und wurde in das Team aufgenommen. Mittlerweile trainiert er mehrmals in der Woche in einer schicken Schwimmhalle. Am liebsten gehe er jedoch weiterhin alleine an „seinem Strand“ schwimmen. Für das teure Training und die Ausrüstung muss er nicht zahlen. „Ich bin der einzige Arme in meinem Team. Die anderen kommen alle aus reichen Familien“, berichtet der muskulöse Jugendliche, dem das tägliche Training anzusehen ist. Lange Zeit musste Aleyson sich Sprüche seiner Teamkollegen anhören. „Die da drüben haben sehr große Vorurteile gegen uns“, sagt er und zeigt auf ein naheliegendes, wellenförmiges Hochhaus mit gläserner Fassade. Erst nachdem Aleyson Preise bei Wettkämpfen abräumte, wurde er von den anderen akzeptiert. Stolz erzählt der „Champion der Brandão“, dass er in diesem Jahr Wettkämpfe in ganz Brasilien bestreiten wird. Ein Riesenschritt für den Teenager, der Salvador noch nie verlassen hat.
Sport sei „der beste Weg um nicht auf dumme Gedanken zu kommen“. Aus diesem Grund will Aleyson ein Schwimmprojekt für die Kinder seiner Gemeinde aufbauen. „Wir müssen den Kindern Alternativen bieten, sonst kommen sie auf die schiefe Bahn und versauen ihr Leben“, erklärt der ehrgeizige Schwimmer, der selbst bald Vater wird. Die Kids sollen selbstverständlich am Strand der Vila Brandão unterrichtet werden. Einen Namen für das Projekt hat er auch schon: Das Grüne Augen Team. „Es ist ja schließlich auch mein Team“, sagt Aleyson und lächelt.
Jedoch könnte den Plänen des jungen Sportlers schon bald ein Strich durch die Rechnung gemacht werden. Dem angrenzenden Yacht Club ist die Vila Brandão schon lange ein Dorn im Auge. Immer weiter hat sich der reiche Nachbar in den letzten Jahren illegal ausgebreitet und sich Stück für Stück der Gemeinde angenähert. Die Mauern des exklusiven Clubs ragen mittlerweile weit hinein in das Gemeindeland. Jedes Jahr wird der Strand ein paar Meter kleiner. Neben den einfachen Holzbooten der Fischer liegen inzwischen weiße Luxusyachten in der Bucht. Die Bewohner der Vila Brandão blicken auf das schicke Club-Gelände, inklusive Swimmingpool und Cocktailbar.
Ende 2011 holte der Yachtclub zum letzten, großen Schlag aus: Etwas voreilig kündigten sie ihren Mitgliedern an, dass bald die gesamte Bucht dem Yachtclub zur Verfügung stehen würde, mit neuen Tennisplätzen, Sportanlagen und vor allem einer vergrößerten, dreistöckigen Werft direkt am Ufer. Seitdem wird der Plan umgesetzt. Anfang des Jahres konnte der Yacht Club einen zweifelhaften Vertrag aushandeln. Darin erklärt sich die Bewohner*innenvereinigung der Vila Brandão bereit, einer nahegelegenen Kirche die Vormundschaft über die Gemeinde zu übergeben, um den Meereszugang und die angrenzende Grünfläche an den Yachtclub abzutreten. Im Gegenzug soll der Fußballplatz der Gemeinde betoniert und mit Flutlicht ausgestattet werden. Angeblich habe die Mehrheit der Bewohner*innen zugestimmt. Doch auf Nachfrage fühlen sich die meisten von ihnen hintergangen. Niemand hatte bis zur Unterzeichnung den Vertrag gesehen, die Verhandlungen wurden mit Einzelnen geführt. Die Casa Matria, ein Kulturzentrum in der Gemeinde, nennt den Vertrag daher eine „Anleitung, Arme zu betrügen.“
Trotz der Kritik haben die Bauarbeiten bereits Anfang März begonnen. Damit würde nicht nur der Meereszugang der Vila Brandão verschwinden, sondern auch die letzte freie Grünfläche in der Region verloren gehen. „Das Projekt ist eine Katastrophe für uns. Sie wollen doch nur wieder versuchen, uns zu vertreiben“, stellt auch Aleyson frustriert fest. Die aktuellen Auseinandersetzungen sind nicht die ersten dieser Art. Im Jahr 2009 begann der damalige Bürgermeister João Henrique, evangelikaler Hardliner und Spross einer elitären Politikerfamilie, damit, die Stadt neu zu gestalten und startete einen Kreuzzug gegen arme Gemeinden. Vor allem küstennahe Siedlungen sollten den Bauprojekten einheimischer und internationaler Immobilienmagnaten weichen. Die Vila Brandão erhielt noch im gleichen Jahr ein Landenteignungsdekret und der portugiesische Baumulti Imocom beanspruchte das Gebiet für sich. Luxushotels sollten darauf entstehen und die Bewohner*innen in die Peripherie abgeschoben werden. Kurzerhand wurde sogar die Bebauungsverordnung verändert und das Verbot von Gebäuden über vier Stockwerken am Meer gekippt. Jedes Mittel schien Recht, um sich endlich der letzten armen Insel in der wohlhabenden Allerheiligenbucht zu entledigen.
So wurde versucht, den Drogenhandel in der Vila Brandão zu etablieren und die Gemeinde durch inneren Unfrieden zu zersetzen. Immobilienfirmen versuchten hartnäckig den Bewohner*innen ihre Grundstücke privat abzukaufen. Sogar die Kinder der Gemeinde wurden mit Stofftieren geködert.
Die Bewohner*innen wehrten sich jedoch auf vielfältige Weise. Hilfe bekamen sie dabei von Universitäten, internationalen Nichtregierungsorganisationen, Künstler*innen und großen Teilen der linken Zivilgesellschaft Salvadors. Sogar Ex-Präsident Lula da Silva besuchte die Gemeinde und sicherte seine Unterstützung zu. Der angekündigte Räumungsversuch scheiterte vorerst, auch aufgrund von Korruptionsskandalen der beteiligten Baufirmen.
Doch im Großraum Salvador steht nicht nur die Vila Brandão im Fokus einer aggressiven Immobilienspekulation. Auch nach der Fußballweltmeisterschaft boomen die Bauprojekte und bedrohen im gesamten Stadtgebiet die Existenz von armen und traditionellen Gemeinden. Die kleine Küstensiedlung Gamboa kämpft seit Jahren erbittert gegen Räumungsversuche. Der Quilombo dos Macacos, eine afrobrasilianische Gemeinde außerhalb der Stadt, liefert sich einen blutigen Konflikt mit der Armee um einen Marine-Stützpunkt auf ihrem Gebiet. Auch in innerstädtischen Bezirken schreiten die Gentrifizierungsprozesse ungebremst voran. Viele Bewohner*innen des historischen Zentrums befürchten in ihrem Stadtteil eine ähnliche Entwicklung wie in Pelourinho, dem UNESCO-Weltkulturerbe und Aushängeschild der Touristenstadt. Die Anfang der 1990er Jahre eingeleitete „Revitalisierung“ des Viertels vertrieb einen Großteil der ansässigen Bewohner*innenschaft. Heute ist das Gebiet mit seinen imposanten Kolonialbauten, Märkten und seiner Musik- und Kunstszene die touristische Hauptattraktion Salvadors. Nun soll der angrenzende Stadtteil Dois de Julho nach dem Pelourinho-Prinzip aufgewertet werden. Mit „Santa Teresa“, eine Anlehnung an das Künstler*innenviertel in Rio de Janeiro, hat der Stadtteil sogar bereits einen neuen Namen. Der Versuch, das Viertel in ein Luxusquartier umzugestalten, bedroht nicht nur die ärmsten Anwohner*innen, sondern auch die zahlreichen Orte schwarzer Kultur.
Jedoch formiert sich auch hier breiter Widerstand. Eine von den Bewohner*innen, Künstler*innen und Studiernden getragene Bürgerinitiative trifft sich jede Woche und plant Aktionen gegen die Umgestaltung ihres Viertels. Seit kurzem existiert zudem ein stadtteilübergreifender Zusammenschluss von allen betroffenen Gemeinden. „Wir müssen unsere Kräfte vereinigen, denn wir kämpfen für die gleiche Sache“, sagt Ana Nicole. Die kleine, energiegeladene Frau mit der Zahnspange ist Vertreterin der Gemeinde Gamboa. Rund 20 Bewohner*innen aus bedrohten Gemeinden sowie Vertreter*innen von städtischen sozialen Bewegungen sind an diesem heißen Abend zu dem Bündnistreffen auf den Hof eines Vereins im Herzen des Stadtteils Dois de Julho gekommen. Fast drei Stunden berichten die Teilnehmer*innen, die meisten sind Frauen, im Stuhlkreis von ihren Erfahrungen und diskutieren über Strategien. Alle sind sich einig, dass der Kampf gegen den übermächtig erscheinenden Gegner offensiv geführt werden muss.
Auch die Vila Brandão will nun wieder den Kampf aufnehmen, diesmal gegen den Yachtclub. Die jüngsten Pläne deuten viele in der Gemeinde als erneuten Versuch sie zu vertreiben. Mal wieder steht die kleine Gemeinde Immobilienspekulant*innen und korrupten Politiker*innen im Weg. Meerblick für Arme? Eine Verschwendung. So denken viele Reiche. Dagegen will die Vila Brandão kämpfen. Aleyson schmerzt vor allem der Gedanke, seinen geliebten Strand zu verlieren: „Wie soll ich ohne den Meereszugang meinen Schwimmunterricht für die Kinder aus der Vila Brandão organisieren?“, fragt er und blickt traurig auf die Bucht. „Für uns ist das Meer wichtiger als alles andere“.