Film | Nummer 527 - Mai 2018

AKT DER BEFREIUNG

Der legendäre argentinische Dokumentarfilm La Hora de los Hornos wird 50

1968, zur Hochzeit der ultrakonservativen Regierungen und Militärregimes in Lateinamerika, begann ein verbotener und verrufener Film, sich über den Kontinent zu verbreiten. La Hora de los Hornos („Die Stunde der Feuer“) [ursprünglich als „Die Stunde der Hochöfen“ übersetzt, Anm. der Red.] wurde in geheimen Aufführungen, in Stadtteilorganisationen, Gewerkschaften, Kirchengemeinden, Privathäusern, Schulen und Universitäten gezeigt.

Von Jorge Hoenig (Übersetzung: Dominik Zimmer)

1968, zur Hochzeit der ultrakonservativen Regierungen und Militärregimes in Lateinamerika, begann ein verbotener und verrufener Film, sich über den Kontinent zu verbreiten. La Hora de los Hornos („Die Stunde der Feuer“) [ursprünglich als „Die Stunde der Hochöfen“ übersetzt, Anm. der Red.] wurde in geheimen Aufführungen, in Stadtteilorganisationen, Gewerkschaften, Kirchengemeinden, Privathäusern, Schulen und Universitäten gezeigt. Jede Filmvorführung war ein Akt des Widerstandes, der sich an Aktivist*innen, Mediengruppen oder studentische und politische Führungspersönlichkeiten richtete. Sie kamen zusammen, um den Film zu sehen und dabei über künftige Strategien zu diskutieren. Nicht nur die Vorführenden, sondern auch die Teilnehmenden setzten sich der Gefahr aus, festgenommen und wegen subversiver Aktivitäten angeklagt zu werden. Die Filmrollen wurden in Kellern, Lagern oder Garagen versteckt. Während die staatliche Repression umgangen werden musste, perfektionierte sich der Vertrieb. In den ersten fünf Jahren sahen schätzungsweise mehr als 250.000 Zuschauer*innen den Film. In diesem alternativen Vorführungssystem mit rund 50 zirkulierenden Kopien von La Hora de los Hornos wurden auch andere Produktionen des revolutionären lateinamerikanischen Kinos gezeigt. Erst im Jahr 1973 konnte der Film in Kinosälen vorgeführt werden.

Doch die Aufhebung des Verbots war nur von kurzer Dauer. Nach dem argentinischen Militärputsch von 1976 konnte La Hora de los Hornos erneut nur unter großer Gefahr im Untergrund in geheimen und verbotenen Aufführungen gezeigt werden. Die Mitglieder der Gruppe Cine Liberación (Befreiungskino), die den Film gedreht und produziert hatten, mussten ins Exil. Viele verschwanden gewaltsam aufgrund der entfesselten staatlichen Repression dieser Jahre. Erst 1989, 20 Jahre nach seiner Fertigstellung, kehrte der Film in die argentinischen Kinosäle zurück.

La Hora de los Hornos ist eine vierstündige Trilogie aus voneinander unabhängigen Filmen, die aber ein Leitmotiv zusammenhält: Abhängigkeit und Freiheit. Es geht um die soziale und politische Situation Argentiniens in den Jahren 1945 bis 1968, verbunden mit einem Aufruf zur Aktion und zum Kampf gegen den Neoliberalismus. Versatzstücke aus Literatur, Aufrufe zum Kampf, Filmaufnahmen der gesellschaftlichen Realität der unteren Klassen, historische Einordnungen und Archivmaterial von Fidel Castro, Che Guevara, Mao Zedong und Juán Perón wurden zu einer Collage montiert. Die häufig eingeblendeten Zitate und Überschriften erzeugen einen atemlosen Rhythmus. Der Film ist zugleich theoretischer Essay, stilistisches Avantgardewerk und revolutionäres Propagandamaterial. Von Anfang an war ein offenes Werk beabsichtigt, in das nachträglich neue Sequenzen eingebunden werden konnten. Das war schon dem historisch unvollendeten Charakter der Thematik geschuldet. So war es – selbst als der Film eigentlich schon fertig produziert war – möglich, weitere Interviews und Reportagen einzufügen. Aus diesem Grund sprachen die Macher von La Hora de los Hornos auch nicht von einem Film, sondern von einem „Akt“ – einem Akt der Befreiung.

Die Arbeit an der revolutionären Filmfront war aber nicht nur gefährlich, sondern auch extrem aufwändig. Eine Produktionsfirma war in Zeiten der Staatszensur ebenso unmöglich aufzutreiben wie ein professioneller Vertrieb. Das machte die Filmproduktion zu einem langwierigen und arbeitsintensiven Vollzeitjob, der nur mit extremem Idealismus und Learning-by-Doing umzusetzen war. Der Dreh von La Hora de los Hornos erforderte drei Jahre Arbeit. Seine Macher, Fernando „Pino“ Solanas und Octavio Getino, reisten dafür mehr als 18.000 Kilometer durch das Land und nahmen 180 Stunden Material auf. Außerdem durchforsteten sie Filmarchive, Museen, Kinematheken, stellten Statistiken staatlicher und privater Organisationen zusammen und recherchierten Hintergründe in aktuellen lokalen und internationalen Medien. Solanas selbst sagt heute, er könne diese Arbeitsweise niemals mehr in dieser Form durchhalten. Gedreht wurde größtenteils auf 16-Millimeter mit Kameras von Bolex oder Beaulieu. In den Laboratorios Alex in Buenos Aires wurde der Film geschnitten und auf 35 Millimeter erweitert, für die Überspielung mussten die Filmrollen jedoch außer Landes – nach Rom – geschmuggelt werden. Bei Ager Film, der Produktionsfirma des Regisseurs Valentino Orsini und der Brüder Taviani, die später mit ihren Filmen Preise auf den großen Festivals in Cannes und Berlin gewinnen sollten.

Einmal exportiert und fertiggestellt, ließ der Erfolg von La Hora de los Hornos nicht lange auf sich warten. Die erste öffentliche Aufführung fand am 2. Juni 1968 auf dem Filmfestival Mostra Internazionale del Nuovo Cinema in Pesaro (Italien) statt, wo er erstmals einen Preis gewann. Es folgten weitere Preise auf zahlreichen Filmfestivals. Heute zählt ihn die internationale Kritik zu den Klassikern des politischen Dokumentarfilms; unter anderem wird er mit dem legendären russischen Stummfilm Panzerkreuzer Potemkin verglichen. La Hora de los Hornos wurde in 70 Ländern von schätzungsweise 40 Millionen Zuschauer*innen gesehen. Der Film wurde auf der ganzen Welt zu einem Symbol für den Kampf der Generation der 1960er und 1970er Jahre. Und er bleibt aktuell: Im Mai ist Solanas in Cannes eingeladen, um den Film auf dem dortigen Festival in der Sektion „Retrospektiven“ erneut zu zeigen; zusammen mit Werken von Bergman, Welles, Kubrick, Hitchcock und anderen, die in Cannes entdeckt wurden und heute zu den Klassikern des Weltkinos gehören.

Das internationale Interesse verschaffte La Hora de los Hornos erneut eine große Bekanntheit in Argentinien, wo der Film verboten und verleumdet worden war. Er rückte wieder ins Bewusstsein eines großen Teils der Aktivist*innen und politischen Kämpfer*innen, die begannen, neue Vorführungen zu organisieren, und dies bis heute tun. Dass La Hora de los Hornos immer wieder veröffentlicht, verboten und wieder gezeigt wurde, ist kein Zufall. Denn er ist nicht als abgeschlossenes Kunstwerk, sondern als Prozess zu begreifen. Oder, um es mit den Worten von Solanas auszudrücken: „Der Film ist durchaus noch nicht beendet, wenn man bedenkt, dass ein aktuell-geschichtlicher Film kein Ende haben kann. Er wird erst enden, wenn wir die Macht haben, wenn die Revolution stattgefunden hat.“

 

Tercer Cine (Drittes Kino) nannte sich eine Bewegung, die Anfang der 1970er Jahre den revolutionären Kampf vor allem Lateinamerikas auf die Kinoleinwand brachte. Besonders das argentinische und chilenische Kino dieser Zeit, aber auch Bewegungen in Brasilien, Bolivien und später im frankophonen Afrika entwickelten eine neue Art des Filmemachens. Seine Vertreter*innen verstanden sich dezidiert als politisch und richteten sich gegen rechte Militärregimes, Neokolonialismus und das kapitalistische System. Agitation und Interaktion mit dem Publikum waren Stilmittel des Tercer Cine, das sich schon im Namen sowohl von der kommerziellen Verwertungsmaschine Hollywoods (Erstes Kino), als auch vom europäischen Autor*innenkino (Zweites Kino) abgrenzte. Den Stein ins Rollen brachte der argentinische Film La Hora de los Hornos der argentinischen Filmemacher und Aktivisten Fernando Solanas und Octavio Getino, die mit dem Manifest Hacia un Tercer Cine (Für ein Drittes Kino) auch die wichtigste theoretische Grundlage des Dritten Kinos schufen. Im Juni jährt sich die Uraufführung von La Hora de los Hornos zum 50. Mal.

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