Alamor Drei Tage
Christoph Kellers neuester Roman lädt ein zu einem kaleidoskopartigen Streifzug durch Peru
Lima kurz vor der Jahrtausendwende, niemals weichen wollender grauer Wolkendunst liegt monatelang als Schleier über der Hauptstadt Perus. Hier lebt Angel Andrade, der Erzähler von Alamor Drei Tage. Er ist Wortfälscher und Geschichtenerträumer, ein augenzwinkernder Ghostwriter, der um die Macht der Sprache weiß sowie die Wünsche und Ziele seiner Kunden auf das Genauste kennt. Als Meister dieser Kunst verwandelt er gegen Bezahlung ohne Skrupel jegliche Perspektive seiner Auftraggeber zur verschriftlichten Realität. Heute ein geschätzter Redeschreiber, Nachrufverfasser und Biograph, welcher unter seiner Feder „jede kokaingetränkte Tunte aus der hiesigen Oligarchie als ehrenwerten Familienvater im Zweireiher auferstehen lässt“, begann er seine Karriere im Lima der sechziger Jahre als handwerklich genialer Fälscher präinkaischer Keramik. Diese verkaufte er in Nacht und Nebel an die reichen gringas – jene ihres luxuriösen Lebens übersatten, gelangweilten Gattinnen europäischer Diplomaten, Direktoren und Ingenieure. Um den einfältigen, neureichen Käuferinnen keinen Anlass zum Zweifel an der Echtheit der scheinbar Jahrhunderte alten Tonkrüge, Schalen und Stoffe zu geben, erfand er Geschichten und Legenden, zauberhaft und verrucht anmutende bunte Bilder zur Herkunft der vermeintlichen Schätze. Der seine Vergangenheit als König der kriminellen Kunstfälscher schon hinter sich gelassen habende Andrade ist nun Hochstapler auf Abruf und produziert für die high society Limas fingierte Unantastbarkeiten en masse.
Ein absurder Auftrag
Die eigentliche Geschichte des Buches setzt ein, als Angel Andrade den wohl ungewöhnlichsten Auftrag seines Lebens erhält: Alex Kaltbrunner, der Sohn Barbara Kaltbrunners, Direktorengattin und ehemals eine seiner besten Kundinnen, will von ihm sieben Jahre nach dem Tod seiner Mutter die Wahrheit über die drei wohl geheimnisvollsten Tage in derem Leben erfahren. Am Tag des Militärputsches im Jahr 1968, so munkelt man, verschwindet die unglückliche, in der Starre ihres unerfüllten Alltags gefangene alkohol- und schmerzmittelsüchtige Fünfunddreißigjährige plötzlich mit dem General Francisco Gagliano de Mendoza, um ihn auf einer verrückten Flucht nach Alamor in Ecuador zu begleiten. So unmöglich ihm dieser Auftrag als eigentlich nicht Vertrautem der Señora Kaltbrunner erscheint – Angel kann ihn nicht ablehnen, da ihn der Sohn seiner Klientin mit dem Wissen um die dunklen Seiten seiner Vergangenheit erpresst. Also macht sich der Wortkünstler daran, aus verschiedenen Puzzlesteinen die Lebensgeschichte Barbara Kaltbrunners zu rekonstruieren. Aus der Schweiz wird ein Paket nach dem anderen mit Briefen, Fotos, Korrespondenz und alltäglichen Gegenständen der Verstorbenen eingeflogen, und in Lima versammelt Andrade die erreichbaren Schlüsselfiguren aus der betreffenden Zeit um sich – klassischerweise vor allem das ehemalige Dienstpersonal des Direktorenhauses. Man trifft sich in der Casa Azúl, einem Edelbordell, dessen Besitzerin Conchita das ehemalige Haus- und Kindermädchen der Señora ist. Es werden Geschichten und Anekdoten aus dem Leben Barbara Kaltbrunners zum Besten gegeben und Stück für Stück erschließt sich das Profil einer vielschichtigen, widersprüchlichen und kranken Frau, die im Verlauf ihres Lebens unter ständiger Kapitulation vor Konventionen und Zwängen vor allem zwei Dinge verloren hat: ihre Träume und sich selbst.
Die Wahrheit? Unauffindbar…
Was Alex Kaltbrunner und somit schließlich auch der Leser im Verlauf von Christoph Kellers Roman „Alamor Drei Tage“ aus der Erzählung des Meisters der Worte über das Leben der Señora erfährt, mutet so abenteuerlich wie phantastisch an – denn wenn es Angel Andrade als primäre Erzählinstanz mit einer Sache auf dieser Welt nicht ganz so genau nimmt, dann ist das die Wahrheit. So springt die Erzählung in den Jahren vor und zurück, Anekdoten wechseln sich ab mit Schicksalsschlägen, und all das wird gebrochen durch die subjektiv gefärbten unterschiedlichen Standpunkte der restlichen Protagonisten, welche über Barbara Kaltbrunner reflektieren.
Die Lektüre des dieses Jahr im Limmat Verlag erschienen Buches des achtundvierzigjährigen Schweizer Autors lädt zum Einlassen auf abstruse Ereignisse und ungewöhnliche Begebenheiten aus dem bezeichnenden Leben einer europäischen Frau in Lateinamerika ein – ohne deren farbenfrohe und streckenweise sehr poetische Einbettung in die peruanische Lebenswelt zu Zeiten der Machtübernahme durch die Militärjunta zu vernachlässigen. Keller spielt, nicht immer gekonnt, aber trotzdem äußerst lesenswert, mit Perspektiven, Erzählstilen und Erzählebenen, und zeichnet so ein teilweise schon fast zu scharf und konkret pointiertes Panorama Limas. Der Leser wird dem Autor, überzeugt durch den kaleidoskopartigen und durchgängig interessanten Plot sowie die ausdrucks- und eindrucksstarke Sprache, einige wenige Patzer und Ungenauigkeiten in Bezug auf die historische Realität verzeihen. Und auch das zu weit ins Phantastische abrutschende Ende des Romans trübt nicht den Eindruck, beim Schließen des Buches mit einem Lächeln auf den Lippen von einer Reise zurückzukehren – einer Reise durch ein Menschenschicksal, einer Reise durch Peru, einer Reise in eine andere Welt,.