„Alle sagen, dass sein Programm Wahnsinn ist”
Der argentinische Aktivist Dario Farcy im Interview über den Beginn der Präsidentschaft von Milei
Seitdem Präsident Javier Milei am 10. Dezember 2023 sein Amt angetreten hat, überschlagen sich die Ereignisse. Gegen seine eilig eingebrachten Dekrete und Gesetzesvorhaben wächst der Widerstand. Du bist in Buenos Aires vor Ort. Kannst du uns erklären, warum Milei die Leute auf die Straße treibt?
Dazu muss ich kurz darauf eingehen, wie Milei die Macht erlangen konnte. Die vergangenen vier Jahre wurde Argentinien von einem peronistischen Zweckbündnis unter Präsident Alberto Fernández und Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner regiert. Dieses hatte sich gebildet, um dem Neoliberalismus von Mauricio Macri etwas entgegenzusetzen. Vor dem Hintergrund einer Pandemie und der Neuverhandlung der Schulden mit dem Internationalen Währungsfonds war die Regierung quasi handlungsunfähig und in einer Sackgasse.
Während linke Bewegungen mit der Pandemie von der Straße verschwunden waren, gewann die Rechte in den sozialen Netzwerken und Medien an Aufschwung. Erst das schaffte die Voraussetzungen, einen Kandidaten wie Milei etablieren zu können. Oft wird Milei mit Bolsonaro verglichen, aber ich finde das nicht zutreffend. Milei hat sich nicht in der Konfrontation von Progressiven und Liberalen inszeniert, er baute stattdessen auf die Wut der Menschen, die sich gegen Parteien und die Politiker im Allgemeinen richtete. Er versprach ein Ende dieses Systems und die Neugründung des Staates.
Wie lassen sich die Unterstützer*innen von Milei einordnen?
Die meisten Menschen, die Milei unterstützen, sind keine Faschisten. Ich habe viel mit compañeros aus Deutschland darüber diskutiert, ob der Faschismus in Argentinien zunimmt. Aber die Wahl von Milei war eine aus der Wut heraus, keine ideologische. Viele seiner Wähler sind nicht einmal mit seinem Programm einverstanden. Umfragen zufolge stimmen sie nur etwa 30 Prozent der Aussagen zu. Und egal, wen du heute auf der Straße fragst, alle sagen, dass sein Programm Wahnsinn ist. Auch die, die ihn gewählt haben.
Als Milei in der Stichwahl als Kandidat der Rechten übrigblieb, vereinte er die Unterstützung der konservativen Kräfte auf sich: neben der US-amerikanischen Investmentgesellschaft Blackrock, die sich von Anfang an zu ihm bekannt hatte, nun auch mittelständische Sektoren der Industrie und Agrarunternehmen. Es lässt sich mit einem Regierungsbündnis von CDU und AfD vergleichen: Traditionellere Strömungen vereinen sich mit einer neuen Rechten, um mitzuregieren. Und das prägt auch den Widerstand.
Wie sieht dieser Widerstand aus?
Die ersten, die gegen Milei auf die Straße gegangen sind, gehörten zur organisierten Linken. Zehn Tage nach der Amtseinführung, am 20. Dezember gibt es die ersten größeren Proteste. Der 20. Dezember ist der Gedenktag an den Aufstand von 2001, der die Regierung von Fernando de la Rúa von der zentristischen Radikalen Bürgerunion stürzte. In der Rede zum Amtsantritt hatte sich Milei bereits an die aktivistische Linke gewandt und mit erbarmungsloser Verfolgung und Verhaftung gedroht. Deshalb trauten sich viele gesellschaftliche Sektoren erstmal nicht auf die Straße. Dennoch war die Mobilisierung groß genug, dass die neue repressive Linie der Regierung, das „Protokoll zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ der neuen Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, nicht angewendet werden konnte. Dass die Menschen trotz der Drohungen auf die Straße gingen, zeigte die Schwäche der Regierung und stellte die Reputation der radikalen Linken wieder her, die zur Enthaltung bei der Stichwahl aufgerufen hatten. Dies bereitete den Weg für die Proteste der Mittelschicht, die sich von den Dekreten auch betroffen sah. Sie schloss sich den Protesten mit cacerolazos an mehreren Orten Argentiniens an. Diese erste Mobilisierung mit 30.000 Personen führte bereits dazu, dass das Notstandsdekret DNU an diesem Tag erst wesentlich später als geplant präsentiert werden konnte.
Haben sich auch Personen an den Protesten beteiligt, die für Milei gestimmt hatten?
Viele, die mit der Vorgängerregierung nicht einverstanden gewesen waren und Milei gewählt hatten, sahen sich nun mit einem Projekt der Staatsneugründung konfrontiert, das so niemand erwartet hätte. Milei ist immer sehr vage geblieben, was sein Programm betrifft. Klar gesagt hat er nur, dass alles, was öffentlich ist, verkauft werden muss, es einen freien Markt für Organhandel geben soll. Sein Notstandsdekret umfasst 700 Seiten und reformiert 366 Gesetze. Dabei ist es oft total widersprüchlich. Ganz so, als hätten sie einfach Unternehmer angerufen und gefragt, was willst du? Schick mir ein PDF und ich füge es hinzu.
Und wie verhalten sich die Gewerkschaften?
Als der Inhalt des Dekrets DNU bekannt wird, mobilisiert sich die organisierte Arbeiterschaft. Denn das Dekret zielt auf dessen Organisierung und die Zerstörung jeglicher gewerkschaftlicher Aktivität. Der größte Gewerkschaftsdachverband CGT handelt sehr schnell und legt Verfassungsbeschwerde ein. Zunächst soll nur zu einer Mobilisierung von Delegierten aufgerufen werden, doch da sind bereits 60.000 Personen auf der Straße. Die Regierung weitet ihre Repressionsdrohungen auf die organisierte Arbeiterbewegung aus. Infolgedessen rief die CGT zu einem Generalstreik am 24. Januar auf. Auch dies ist historisch: Das erste Mal, dass eine Regierung bereits 45 Tage nach Amtsantritt bereits mit einem Generalstreik konfrontiert ist. Dabei ist die CGT die konservativste Gewerkschaft, vereint sie doch die bestbezahltesten Arbeiter.
Besonders ist hierbei auch, dass die CGT, die Linke und die Mittelklasse gemeinsam auf der Straße sind. Der Kirchnerismus und der Peronismus hingegen mobilisieren nicht, sondern rufen dazu auf, abzuwarten und den Streit im Parlament auszutragen. Eine sehr gefährliche Herangehensweise, denn gemeinsam mit den Abgeordneten von Macri und denen kleinerer Parteien ist es gut möglich, dass Milei Mehrheiten für seine Gesetzesvorhaben findet. Sergio Massa hatte sogar die CGT gebeten, den Generalstreik abzusagen und dies später nicht einmal abgestritten.
Was macht die feministische Bewegung?
Das ist eine sehr große Bewegung, die bisher relativ passiv geblieben ist. Die Regierung greift die historischen Forderungen der feministischen Bewegung wie das Recht auf freie und kostenlose Abtreibung bisher nicht an und scheint also Angst vor dem Mobilisierungspotential des Feminismus zu haben. Organisierte Teile der Bewegung, Ni una Menos etwa, haben sich am Generalstreik beteiligt. Aber der nicht organisierte Teil der Bewegung, die zwei Millionen Frauen auf der Straße 2015, sind bisher nicht besonders präsent.
Was macht der informelle Sektor angesichts der Repressionsdrohungen der Regierung?
Der ist bisher kaum präsent. Diese wollten am 24. Januar auf die Straße, versuchen jedoch mit der Regierung zu verhandeln und sind deshalb bisher weniger sichtbar. Ihnen wurden einige Zugeständnisse gemacht: Die Hilfen für nicht und informell Beschäftigte wurden erhöht, ebenso die asignación universal por hijo, das argentinische Kindergeld. Sie wurden damit bedroht, ihre Sozialleistungen zu verlieren, sobald sie bei einer Demonstration identifiziert werden.
Was gibt es denn für selbstorganisierte solidarische Strukturen, spielen die eine große Rolle?
Diese Strukturen hat es in Argentinien schon immer gegeben. Das ist die sogenannte economía popular. Diese nutzen oft Hilfen des Staates, um solidarische und kooperative Strukturen aufzubauen, etwa Einkaufsgenossenschaften, um Preise zu senken. Heute sind ungefähr 50 Prozent der Argentinier arm, eine Quote, die seit 2013, 2014 steigt. Diese Netze sind essenziell, sie sind der gesellschaftliche Kitt, der alles zusammenhält. In Zeiten des Neoliberalismus, besonders unter dem Macrismus, war der Widerstand dieser Gruppen extrem wichtig. Aber darüber könnten wir ein eigenes Interview machen.
Wie wichtig ist internationale Solidarität?
Da können wir uns ein Beispiel an den brasilianischen compañeros nehmen. Ihnen ist es gelungen, der Welt deutlich zu machen, wer Bolsonaro ist, und sie haben zur weltweiten Ablehnung von Bolsonaro beigetragen. Aber, wenn wir ehrlich sind, hat Bolsonaro weder die Wirtschaftspolitik noch die Verfassung Brasiliens geändert. Milei hingegen will alles grundlegend verändern. Ich denke, dass eine solidarische Bewegung, die das denunziert und sichtbar macht, sehr wichtig ist. Und die Botschaft muss sein, dass wenn dieses Projekt, dieses Experiment in Argentinien erfolgreich ist, wir es in Deutschland, in den Vereinigten Staaten wiederholt sehen werden. Eine der ersten Personen, die Milei gratulierten, war Donald Trump, mit dem Tweet: „Make Argentina Great Again“.
Argentinien soll neuorganisiert werden, so wie Chile 1973 nach dem Putsch gegen Allende. Dort hat die organisierte gewerkschaftliche Bewegung seitdem keine Macht mehr, die Linke im politischen Alltagsgeschehen nichts mehr zu sagen, staatliche Eingriffe in den Markt sind minimal und es gibt kaum soziale Rechte. Das haben die Militärdiktatur und die rechten Regierungen auch in Argentinien versucht, aber sie sind bisher gescheitert.
Falls Milei erfolgreich ist, bedeutet das auch eine neue Präsidentschaft von Bolsonaro in Brasilien. Die Auseinandersetzung ist eine globale und deshalb ist die Sichtbarkeit in Deutschland und Europa sehr wichtig. Am 24. Januar waren weltweit in vielen verschiedenen Städten cacerolazos angekündigt. In Berlin gibt es die Initiative Argentina no se vende, die auch sehr unterstützenswert ist. Es ist auch wichtig, die deutschen Autoritäten auf die Situation aufmerksam zu machen, auf diesen De-facto-Staatsstreich, der dort stattfindet.
DARIO FARCY
Abschluss in Politikwissenschaften von der Universität von Buenos Aires. Dario war in der Selbstverwaltungs- und Genossenschaftsbewegung in Argentinien aktiv und hat an Abendschulen für Erwachsene in Buenos Aires unterrichtet. In Deutschland machte er verschiedene Erfahrungen in der politischen Bildung und Organisierung.
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