Alte Wunden, neue Konflikte
Perus Regierung erntet Widerstand auf ihrem „Modernisierungs“-Kurs
Es gibt Jahrestage, an die erinnern mitunter diejenigen, die sich an ihnen stoßen. Am 28. August jährte sich zum fünften Mal die Übergabe des Abschlussberichtes der Wahrheits- und Versöhnungskommission (CVR) über die Verbrechen des Bürgerkriegs in Peru (1980-2000). Der Bericht identifierte den von Abimael Guzmán angeführten Sendero Luminoso sowie staatliche Militär- und Polizeikräfte als Hauptschuldige an den 69.280 Toten des Krieges. Von der Kanzel der Kathedrale in Lima wetterte Kardinal Juan Luis Cipriani erneut gegen den Bericht der CVR, der die institutionelle Verantwortung der Militärkräfte des Landes für Menschenrechtsverletzungen in dieser Zeit klar benennt. Mit Menschenrechten kann der dem Opus Dei angehörende Cipriani nicht viel anfangen. Schon der Bericht der CVR beschreibt, wie zu der Zeit, als er Bischof in Ayacucho war, am Eingang seiner Residenz ein Schild hing mit der Aufschrift: „Es werden keine Beschwerden in Menschenrechtsfragen entgegen genommen“. Aus der Region Ayacucho allein stammten 40 Prozent der Opfer des internen Krieges.
Bei Kritik am Militär halten die Eliten Perus nach wie vor zusammen. So sieht Verteidigungsminister Ántero Flores-Aráoz es als einen Kniefall des peruanischen Staates, sollte sich das Miltär für die Gewaltexzesse an der Bevölkerung bei der Bekämpfung der terroristischen Guerilla Leuchtender Pfad auch nur entschuldigen. Aldo Mariategui, Chefkolumnist und oberster Sinnverdreher des auflagenstarken rechtskonservativen Boulevardblattes Correo aus Lima, zweifelt noch heute die von der CVR ermittelte Anzahl der ermordeten Menschen an. Kritik übte auch die Kongressabgeordenete Keiko Fujimori, Tochter von Expräsident Alberto Fujimori, in dessen Amtszeit (1990-2000) von Militärs verübte Menschenrechtsverletzungen fallen. Für sie würdige der CVR-Bericht die Opfer unter den Militärs nicht genügend. So rechtfertigt sie es, wenn AnhängerInnen Fujimoris – wie in diesen Tagen geschehen – Gedenkfeiern von Angehörigen Ermorderter am Mahnmal „El Ojo que Llora“ („Das weinende Auge“) in Lima stören.
Dabei bleibt es nicht bei Kritik an der CVR. Die Nationale Menschenrechtskoordination (CNDDHH) wies jüngst in ihrem aktuellen Bericht „Fünf Jahre nach dem Abschlussbericht der CVR“ erneut darauf hin, wie sehr das peruanische Militär die weitere Aufarbeitung von Massakern behindert. So zeigt das Verteidigungsministerium keinerlei Interesse daran, den Fall Putis aufzuarbeiten. Bei der Militärbasis Putis richteten Militärkräfte 1984 dutzende Menschen aus verschiedenen Ortschaften hin, denen zuvor versichert worden war, sie fänden dort Schutz vor dem Leuchtenden Pfad. Im Mai dieses Jahres wurden in der Gemeinde Putis Gräber ausgehoben, in denen man die Reste von circa 70 Personen fand, darunter auch Kinder, die zum Zeitpunkt der Ermordung nicht älter als sechs Jahre waren. Insgesamt präsentierte die CVR der peruanischen Justiz 52 Fälle zur weiteren Verfolgung. Erst in acht von ihnen wurde ein Urteil gesprochen. Die CNDDHH beklagt, dass insbesondere in den letzten zwei Jahren der Prozess der juristischen Aufarbeitung ins Stocken gekommen sei. Dieser Zeitraum fällt wohl nicht zufällig mit dem Beginn der zweiten Amtsperiode von Präsident Alan García zusammen. In Garcías erste Regierungszeit von 1985-1990 fallen zahlreiche Massaker an gefangenen Guerriller@s und der Zivilbevölkerung. García selbst und sein aktueller Vizepräsident Luis Giampetri müssen im Fall des Gefängnismassakers von El Frontón weiterhin fürchten, sich irgendwann vor Gericht verantworten zu müssen (siehe LN 401).
So überrascht es nicht, dass Menschenrechte in der Rede von Alan García zum Nationalfeiertag am 28. Juli keine Rolle spielten. Am häufigsten tauchte das Wort „Millionen“ auf. García legte vor allem Rechenschaft ab über verausgabte Mittel für soziale Programme und gebaute Straßenkilometer und stellte sich als großer Modernisierer dar. Die Tageszeitung La República titelte tags darauf: „Viele Zahlen, wenig Wandel“. Kaum umhin kam García, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung angesichts stark gestiegener Preise für Lebensmittel und Treibstoff anzusprechen. Immer wieder treiben diese Probleme die Menschen zum Protest auf die Straße. Bereits Anfang Juli gab es einen mehrtägigen landesweiten Streik, der das Land zwar nicht komplett lahm legte, aber doch ein sehr deutlicher Ausdruck der Stimmung in der Bevölkerung war. Heftige Auseinandersetzungen gab es in der südlichen Region Madre de Dios, wo das Gebäude der Regionalregierung gestürmt und in Flammen gesetzt wurde. Die Staatsregierung tat zuvor einiges, um den Streik und die OrganisatorInnen zu diskreditieren. So verunglimpfte sie die OrganisatorInnen mit einem Videospot, in dem sie perfiderweise Filmmaterial aus den Gerichtsprozessen gegen Vladimiro Montesinos, den ehemaligen Geheimdienstchef unter Alberto Fujimori, verwendete. Jedoch haben Montesinos Aussagen nichts mit den aktuellen Protesten zu tun. Für die Streiktage beorderte die Regierung zudem per Resolution das Militär auf die Straßen, um die aus ihrer Sicht gefährdete öffentliche Sicherheit zu wahren.
Präsident García kann noch so lange auf jährliche Wachstumsraten der Wirtschaft von 9 Prozent und auf ausländische Investitionen verweisen, deren Wert in US-Dollar sich im zweistelligen Milliardenbereich bewegen. Von diesen makroökonomischen Zahlen haben die Menschen nichts. Dafür spüren sie unmittelbar die gestiegenen Lebenshaltungskosten. Und die werden García mittlerweile persönlich zur Bürde. Die Zustimmungswerte, die er aus der Bevölkerung erhält, sind auf einen neuen Tiefpunkt gesunken. Nur noch 24 Prozent sind mit seiner Regierungsführung einverstanden. Und seinem Verweis, die steigende Inflation sei eine ‚importierte‘ Inflation, widersprach indirekt die Zentralbank des Landes. Diese schrieb in einem Bericht, dass knapp 90 Prozent der beobachtbaren Inflation im Inland produziert werden.
Angesichts der bestehenden Situation versprach García in seiner Rede vom 28. Juli, dass die Regierung weiterhin dafür arbeiten werde, die Armut zu senken, soziale Programme besser zu koordinieren und den Reichtum besser zu verteilen. Nur zum wie äußerte er sich nicht. Und der Blick auf das Haushaltsbudget für 2009 verheißt nichts Gutes. Der Ökonom Elmer Cuba sagte gegenüber La República dazu, dass Peru bisher kein System zugunsten der armen Bevölkerungsschichten habe, und auch das Budget für 2009 diesbezüglich nichts neues biete.
Dann ist da noch der Freihandelsvertrag mit den USA. Vom vorgeblichen Kritiker im Jahr 2006 wandelte sich García rasch zu einem straffen Befürworter des Freihandelsvertrages, der unter seinem Vorgänger Toledo unterzeichnet wurde. Im Dezember 2007 unterschrieb der Präsident in Washington den bilateralen Umsetzungsvertrag mit George W. Bush [siehe LN 404]. Noch im gleichen Monat wurde die Regierung vom peruanischen Kongress bevollmächtigt, für 180 Tage direkt Gesetze zu verfassen, um die letzten Hürden zu beseitigen, bevor der Freihandelsvertrag endgültig in Kraft treten kann. Bis Ende Juni sollten auf diese Weise 102 Dekrete entstehen. Nach einer von Oxfam America beauftragten Studie hat die Regierung die ihr erteilten Vollmachten teilweise regelrecht missbraucht. Es entstanden Dekrete, die über das erteilte Mandat und die Reichweite des Freihandelsvertrages hinausgehen. Und es gibt Dekrete, die schlichtweg als verfassungswidrig eingestuft werden könnten. Bereits im Mai reichte daher die Nationale Ombudsdstelle vor dem Verfassungsgericht des Landes Klage gegen zwei Dekrete ein, mit denen der Landverkauf von bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften im Hochland und im Amazonasgebiet vereinfacht werden sollte. Anstelle der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit der eingetragenen Mitglieder der Gemeinschaften würde es demnach reichen, wenn im Rahmen einer einberufenen Versammlung der Gemeinde eine Mehrheit von 50 Prozent plus eine Stimme dies befürworten würde. Für die Regierung geht es ganz klar um Investitionen. Dafür nimmt sie Konflikte mit den betroffenen Gemeinden in Kauf. Der Druck auf die Gemeinden und deren Land würde steigen. Das Land wird bereits jetzt von meist transnationalen Unternehmen begehrt für die Ausbeutung von Rohstoffen wie Erdöl, Erzen oder Holz.
Nachdem Gesprächsangebote seitens AIDESEP als Interessenvertretung der indigenen Gemeinden an die Regierung nicht fruchteten, wurde am 9. August im Amazonasgebiet ein unbegrenzter Streik ausgerufen. In der Folge wurden Ölförderstationen und Wasserkraftwerke besetzt sowie Straßen blockiert. Nachdem erste Vermittlungsversuche durch den neuen Umweltminister Antonio Brack scheiterten, erklärte die Regierung am 18. August den Ausnahmezustand für vier Provinzen in den Regionen Amazonas, Loreto und Cusco. Die Proteste blieben jedoch weitgehend friedlich, der Streik sowie die Blockaden gingen weiter. Am 20. August gab es dann nach weiteren Gesprächen eine überraschende Entwicklung, als Parlamentspräsident Javier Velásquez Quesquén und Alberto Pizango (AIDESEP) sich darauf einigten, dass der Kongress ein Rücknahmegesetz über die beiden zur Diskussion stehenden Dekrete diskutieren und abstimmen würde. Dieses Gesetz wurde mit einer Mehrheit von 66 Stimmen angenommen. Alan García sprach daraufhin von einem „historischen Fehler“. Jetzt versucht er die beiden Dekrete schmackhaft zu machen, indem er nicht mehr von Verkauf, sondern von „Vermieten“ oder Konzessionen spricht. Und er hat die Möglichkeit, das Rücknahmegesetz abzulehnen. Alberto Pizango sagt dazu nur, dass in so einem Fall weitere Streiks drohen werden.
García bleibt ein unerschütterlicher Optimist und sieht sich als Modernisierer. Die aktuellen Probleme seien zwar eine kritische aber nur temporäre Phase. Im November erwartet man in Lima das Treffen von 21 Anrainerstaaten des Asiatisch-Pazifischen Raumes – den APEC-Gipfel. Es wird um Investitionen und die Stärkung des Freihandels gehen. Mit dem Verteidigungsministerium in Lima steht ein passender Tagungsort bereits fest. Die APEC-Runde muss nur mächtig hoffen, dass die Stromversorgung funktioniert. Peru steckt momentan in erheblichen energetischen Versorgungsengpässen. Und selbst in Lima geht ab und zu ungeplant das Licht aus.