Mexiko | Nummer 492 - Juni 2015

Auf der Suche nach dem kleinsten Übel

Korruption, Gewalt gegen Kandidat*innen und Parteienverdrossenheit prägen den Wahlkampf in Mexiko

Kurz vor den Parlaments- und Regionalwahlen am 7. Juni eskaliert die Gewalt in Mexiko. Schwache Institutionen, Korruptionsvorwürfe und die ausufernde Gewalt gegen Kandidat*innen und Wahlkämpfer*innen überschatteten bereits den gesamten Wahlkampf. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen diskutieren schon längst nicht mehr, für wen, sondern ob sie überhaupt eine gültige Stimme abgeben sollen.

Eva Bräth, Caroline Schroeder

Es ist Halbzeit. Nach den ersten drei Jahren Amtszeit des Präsidenten Enrique Peña Nieto finden am 7. Juni Wahlen statt. Gewählt werden 500 Abgeordnete der nationalen Abgeordnetenkammer sowie die Gouverneur*innen in den neun Bundesstaaten Baja California Sur, Sonora, Nuevo León, San Luis Potosí, Querétaro, Colima, Michoacán, Guerrero und Campeche. Zudem werden 643 Landtagsabgeordnete in 16 Bundesstaaten sowie 809 Bürgermeister*innen und Stadt- und Gemeinderät*innen in zehn Bundesstaaten bestimmt. Mit insgesamt 15.832 Mandaten, die zur Abstimmung stehen, ist es die umfangreichste Wahl in der Geschichte des Landes. Bei Redaktionsschluss standen die Ergebnisse noch nicht fest.
Die Wahl gilt als Test für Enrique Peña Nieto, der seit seinem Amtsantritt 2012 kontinuierlich in der Wählergunst gesunken ist. Nicht nur, weil das ersehnte Wirtschaftswachstum trotz Strukturreformen ausblieb und Korruptionsskandale über ihn aufgedeckt wurden. Die Gesellschaft prangert vor allem an, dass staatliche Akteure eine Vielzahl schwerwiegender Menschenrechtsverbrechen begangen haben – besonders das gewaltsame Verschwindenlassen der 43 Studierenden im September 2014 in Ayotzinapa ist Gegenstand von Protesten. Im Wahljahr werfen bereits drei große Massaker in Apatzingán, Ecuadureo und Villa Purificación, von der Regierung als Auseinandersetzung zwischen Sicherheitskräften und Organisierter Kriminalität deklariert, Fragen auf. Mittlerweile erzielt Peña Nieto die geringsten Popularitätswerte seit Präsident Ernesto Zedillo in der Wirtschaftskrise 1995. Wenn seine Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) die bisherige Mehrheit nicht erhalten kann, dürfte es ihm schwer fallen, Reformen im Tempo der ersten drei Amtsjahre durchzusetzen.
Wie bereits vor den Präsidentschaftswahlen 2012 sind die Prognosen der Meinungsforschungsinstitute eher verwirrend als deutlich. Auf nationaler Ebene wird ein knapper Wahlsieg der PRI vor der rechtskonservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) prognostiziert. Die sozialdemokratische Partei der Demokratischen Revoultion (PRD) wird als drittstärkste Partei gehandelt. Sie hat nicht nur aufgrund innerer Spaltungsprozesse Anhänger*innen verloren. Zudem macht ihr das Verbrechen in Ayotzinapa zu schaffen: Der PRD-Bürgermeister José Luís Abarca und seine Frau wuden inzwischen als mutmaßliche Drahtzieher festgenommen. Bis 2013 wurde die Partei von dem zweimaligen Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador angeführt. Nach der Niederlage 2012 verließ er die PRD, um die 2011 gegründete Bewegung der Nationalen Erneuerung (MORENA) anzuführen. 2014 als Partei zugelassen tritt sie nun erstmals bei Wahlen an. MORENA zählt viele ehemalige Mitglieder der PRD und der Arbeiterpartei (PT) in ihren Reihen und macht damit der PRD die führende Position im linken Spektrum streitig. Dies ist besonders in der Hauptstadt des Landes zu spüren – seit 1996 eine PRD-Bastion. An vierter Stelle folgt die Grün-Ökologische Partei (PVM), die stets in Allianz mit der PRI auftritt und dieser zur Stimmenmehrheit verhilft. Der Ausgang der Gouverneurswahlen ist in sieben von neun Bundesstaaten noch unklar. Sicher scheint der Triumph der PRI im südlichen Golfküstenstaat Campeche zu sein. Demgegenüber hat in Baja California Sur die PAN die Nase vorn. Ansonsten gibt es laut Mexican Institute ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen PAN und PRI, wobei letztere knapp in Führung ist. Überraschung ruft hervor, dass der unabhängige Kandidat für den Gouverneursposten in Nuevo León, Jaime Rodríguez, ernsthafte Chancen auf einen Wahlsieg hat. El Bronco („der Anschnauzer“), wie er von den Medien genannt wird, hat jedoch erst im vergangenen Jahr die PRI verlassen – die Netzwerke und Ressourcen aus seiner Parteikarriere haben sicherlich nicht geschadet, um die ca. 780.000 Unterschriften zu erhalten, die für eine unabhängige Kandidatur erforderlich sind.
Die Bevölkerung wurde monatelang in Radio, Fernsehen, Kino, auf der Straße sowie in der Metro mit Wahlwerbung beschallt. Die Parteien versuchten darin nicht, durch Inhalte zu punkten, sondern konzentrierten sich auf Korruptionsvorwürfe gegenüber der Konkurrenz. Besonders in den Werbespots von PRI und PAN warfen sich die beiden Parteien Korruptionsfälle und illegale Parteifinanzierung vor. Einige Spots wurden aufgrund von Beleidigungen vom Nationalen Wahlinstitut INE aus dem Verkehr gezogen. Auch das Verteilen aufwendiger Wahlgeschenke durch alle Parteien war wie in der Vergangenheit an der Tagesordnung, Die PRD versprach den Bewohner*innen eines Distrikts in Mexiko-Stadt Rabatte bei Gaskosten und Lebensmitteln. Die PRI zog durch das Verteilen von Plasmabildschirmen die Aufmerksamkeit auf sich; die PVEM versuchte mit Küchengeräten und grün bedruckte Schulutensilien für sich zu werben. Die PVEM ist wohl die Gewinnerin, was die Ausgaben für die Kampagne angeht. Sie wurde in diesem Wahlkampf aufgrund von unerlaubtem Einsatz von Wahlkampfmitteln und dem Verstoß gegen die Finanzierungsgesetze mehrmals zu Geldstrafen von über 300 Millionen Pesos (ca. 17 Millionen Euro) verurteilt. Um diese zu bezahlen, musste sie inzwischen einen Kredit aufnehmen. Akademiker*innen wie Sergio Aguayo und Denise Dresser fordern deshalb, der Organisation die Rechtspersönlichkeit zu entziehen. Sie sammelten die Unterschriften von über 140.000 Unterstützer*innen in Change.org, die sie dem INE vorlegten – jedoch erfolglos.
Obgleich es auch in der Vergangenheit Korruptionsfälle und Klientelismus gab, fällt es schwer, bei diesen Wahlen von Normalität zu sprechen. Der Wahlkampf war durchgängig von der Gewalt gegen Kandidat*innen aller politischen Parteien überschattet. 19 Kandidat*innen, Parteifunktionär*innen und Wahlkampfhelfer*innen sind seit dem offiziellem Beginn des Wahlkampfs im März ermordet worden. Die meisten am helllichten Tag und im öffentlichen Raum, wie zuletzt am 2. Juni der PRD-Kandidat Miguel Ángel Luna Munguía in seinem Büro im Bundesstaat Mexiko. Enrique Hernández, Bürgermeisterkandidat für MORENA in Michoacán, wurde am 14. Mai während einer Versammlung erschossen. Dahinter steckten Auftragsmörder einer lokalen Verbrecherbande, denen der Gründer einer Bürgerwehr offensichtlich ein Dorn im Auge war. Auf dem Weg zum nächsten Wahltermin hatte am 1. Mai den Priísta Ulises Fabian Quiroz ein ähnliches Schicksal ereilt: Ein bewaffnetes Kommando tötete den Bürgermeisterkandidaten für Chilapa, Guerrero, mit 13 Schüssen. Als besonders grausam in Erinnerung geblieben ist die Entführung und Ermordung der PRD-Politikerin Aidé Nava González in der gleichen Region. Am 10. März war ihr enthaupteter Leichnam aufgefunden worden. Bei ihrer Leiche hatte die kriminelle Organisation Los Rojos eine unmissverständliche Nachricht hinterlassen: „Das wird allen Scheißpolitikern passieren, die aus der Reihe tanzen!” Die Tageszeitung La Jornada berichtet darüber hinaus von 70 gewaltsamen Angriffen, die von Brandstoffanschlägen auf Wahleinrichtungen, über Entführungen, Schlägereien bis hin zu Bedrohungen der Kandidat*innen gehen. So manche*r Parteivertreter*in hat es verständlicherweise vorgezogen, das Handtuch zu werfen. Die, die weitermachen, sehen sich gezwungen, ihre Wahlkampfaktivitäten einzuschränken und kämpfen mit der Angst. Jorge Camacho, PAN-Kandidat für Chilapa, räumte gegenüber mexikanischen Zeitungen ein: „Natürlich habe ich Angst! Jeden Tag, wenn ich das Haus verlasse, bete ich zu Gott, dass ich zurückkomme.“ Drohungen, Entführungen und Morde sind zwar nicht unbedingt neu im Vorfeld von Wahlen in Mexiko, das aktuelle Ausmaß jedoch schon. Bei den Wahlen, die im Zeitraum 2008-2013 stattfanden, erhob das Forschungsinstitut Integralia insgesamt 77 Gewalttaten gegen Mitarbeiter*innen von Wahlbehörden und Kandidat*innen, darunter 24 Morde. Bislang stellten der Wahlkampf 2011/2012 den Rekord dar.
Es ist erstaunlich, dass das Wahlinstitut INE Probleme bei der Durchführung der Wahlen weiterhin bestreitet. „In bestimmten Regionen hemmt die Präsenz der Organisierten Kriminalität die Stimmabgabe“, gestand der Leiter der Behörde Lorenzo Cordóva im Gespräch mit der spanischen Zeitung El Pais ein. Aber die Erfahrung der vergangenen fünf Jahre habe gezeigt, dass eine ordnungsgemäße Wahl trotzdem möglich sei, so Cordóva. Noch am 20. Mai vertrat er den Standpunkt, dass im ganzen Land Wahllokale geöffnet werden können, auch in den „komplizierten Regionen“ wie Guerrero, Michoacán und Oaxaca. Drei Tage vor der Wahl räumt er demgegenüber ein, dass „nur“ die Einrichtung von vier der 149.000 Wahllokalen in Oaxaca, Guerrero und Chiapas nicht garantiert werden könne.
Offiziell lehnt die Behörde weiterhin eine Militärüberwachung der Stimmabgabe ab. Die Realität scheint vielerorts längst eine andere zu sein. Laut offiziellen Quellen haben in den Regionen, in denen die Sicherheitslage als besonders heikel gilt, mehr als 12.000 Polizist*innen, Militärs und Marinemitglieder der Bundesregierung während des Wahlkampfs Aufgaben übernommen, so La Jornada. Mehr als 40 Kandidat*innen standen zudem unter dem Schutz der Sicherheitskräfte der Bundesstaaten. In Chilapa, wo nach einem bewaffneten Aufstand von Bürger*innen Mitte Mai 30 Personen verschwunden sind, berichten deren Angehörige, dass eine Woche vor der Wahl gepanzerte Truppen und Krankenwagen des Militärs stationiert worden seien.
Hindernis für die Durchführung der Wahl in einigen Distrikten sind laut der Behörde die zunehmenden Proteste, allen voran die der Lehrergewerkschaft Coordinadora Nacional de Trabajadores de la Educación (CNTE). Deren Mobilisierungen richten sich gegen die Umsetzung der Bildungsreform und geplante Entlassungen. Am 1. Juni sind die in der CNTE organisierten Lehrer*innen in einen unbefristeten Streik getreten. Sie fordern die Aufhebung der Reform und drohen andernfalls mit Wahlboykott in mindestens zehn Bundestaaten. Bei den Demonstrationen in Oaxaca beschädigten rund 84.000 Demonstrierenden Wahllokale und verbrannten die Wahlunterlagen in elf Bezirken, zudem mussten wegen der Besetzung des Flughafens Flüge gestrichen werden. Auch in Chiapas, wo die Gewerkschaft Sindicato Nacional de Trabajadores de la Educación (SNTE) die Proteste anführt, und Michoacán kam es zu Besetzungen. Zwei Tage vor der Wahl haben das Innenministerium und Vertreter*innen der CNTE ein Abkommen geschlossen, das die Abschaffung der kritisierten Evaluierungen von Pädagog*innen beinhaltet.Eine endgültige Aufhebung des Boykottaufrufs stand zu diesem Zeitpunkt dennoch aus.
Gleichzeitig riefen in Guerreo auch Mitglieder der Gemeindeversammlung Tixtla sowie Eltern und Lehrer*innen der 43 verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa zum Boykott auf und blockierten die Autobahn. Wer wähle, der wähle „Narco-Politiker“. Unterstützt wurden sie von der Lehrer*innengewerkschaft CETEG, policías comunitarias (Gemeindepolizei) sowie Kleinbauern und -bäuerinnen, die sich im Movimiento Popular de Guerrero (MPG) organisieren. Ihre Forderung findet jedoch auch darüber hinaus Unterstützung. Bekannte Persönlichkeiten wie Javier Sicilia, Gründer der Bewegung für den Frieden, Gerechtigkeit und Würde, ruft ebenfalls dazu auf. Sein Vorschlag ist, ein „Bürger*innenkomitee zur nationalen Rettung“ zu gründen, um das Land von Grund auf neu und demokratisch aufzubauen. Die Priester und Menschenrechtler Alejandro Solalinde und Raúl Vera tun es ihm gleich.
Vor dem Hintergrund der politischen Krise wird mit einer hohen Wahlabstinenz gerechnet. Eine Umfrage des INE ermittelte im März 2015 eine mögliche Wahlbeteiligung von nur 37 Prozent. Auch die Debatte in den kritischen Medien dreht sich seit Monaten um die Frage der ungültigen Stimmabgabe, dem voto nulo. Von vielen wird er kritisiert, weil er die großen Parteien mit einer starken Stammwählerschaft begünstigt. Die Kommentarist*innen Sergio Aguayo und Denise Dresser bewerten den voto nulo demgegenüber als legitime Option, um die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse auszudrücken. Es sei ein Instrument, um Reformen zu erzwingen, die die Parteien bisher nicht durchführen wollten, so Dresser. Sie weist dabei auf die Wahlen 2009 hin, als 1.8 Millionen Bürger*innen, insgesamt 5,4 Prozent landesweit und 10 Prozent in der Hauptstadt, ungültige Stimmen abgaben, wodurch Reform­en wie die Einführung unabhängiger Kandidat*innen ermöglicht wurden. Dennoch ist sie skeptischer als vor sechs Jahren, als sie zum voto nulo aufrief. Schließlich seien die Auswirkungen der Reformen beschränkt geblieben und die politische Klasse habe den Unmut, den die Bevölkerung täglich zeigt, bislang ignoriert. Doch welches andere Instrument noch bleibt, um die Dynamiken der Parteien zu durchbrechen, fragt sich Dresser ebenso wie Millionen anderer Wähler*innen.

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