Alternative Medien | Chile | Dossier | Dossier 19 - Aufruhr auf den Straßen | Nummer 569/570 - November/Dezember 2021

AUS DEM HERZEN DER REVOLTE

Über die Arbeit des Radio Plaza de la Dignidad aus Chile

Die Plaza de la Dignidad war und ist zentraler Ort der Proteste in Chile seit Oktober 2019. Gegen den Strom der Mainstreammedien in Chile (siehe Kasten) hat sich das Radio Plaza de la Dignidad den Forderungen der Protestierenden ange-schlossen und sie mit Musik und Live-Konzerten darin bestärkt. Hier berichten die Macher*innen des Radios selbst von dessen Entstehung vor zwei Jahren und ihrer Arbeit heute.

Vom Team von Radio Plaza de la Dignidad (Übersetzung & Bearbeitung: Susanne Brust)

Fotos: Ute Löhning

Wenn wir über das Radio Plaza de la Dignidad und seine Entwicklung als Medium von unten sprechen wollen, müssen wir bei der Bewegung breiter Teile der Gesellschaft anfangen, die sich im Oktober 2019 gegen die kapitalistische Herrschaft erhoben hat. Die vergangenen zwei Jahre über hat Chile diese Bewegung in all ihren Facetten erlebt.

Als Teil dieser Bewegung hat das Radio seine eigene Entwicklung durchlaufen. Dabei haben wir immer wieder abgewogen, was unsere gemeinsamen politischen und strategischen Ansichten sind. Die Redaktionslinie des Radios lässt sich heute als Summe der unterschiedlichen politisch-revolutionären Projekte verstehen, als Kollektiv gesellschaftlicher Kämpfer*innen, die in diesem Raum einen Kanal gefunden haben, über den sie ihre Vorstellungen einer neuen Gesellschaft ausdrücken können.

Um den Versuch einer Definition des Radios Plaza de la Dignidad zu wagen, müssen wir zunächst betonen, dass das Radio kein Kommunikationsmedium im traditionellen Sinne ist. Denn wir erkennen unsere Parteilichkeit und Subjektivität gegenüber des Kapitalismus und seiner kolonialen Institutionen an und machen sie transparent. Unser Ziel ist es, revolutionäre Teile der Gesellschaft zu unterstützen. Das tun wir, indem wir den Menschen im Rahmen unserer Möglichkeiten erklären, warum wir vom Kapitalismus wegkommen und eine neue Gesellschaft aufbauen müssen. Eine Gesellschaft, die ihre Wurzeln im Kommunitarismus, in der Brüderlichkeit, der Solidarität und dem harmonischen Nebeneinander von Menschen unterschiedlicher Herkünfte hat. Eine respektvolle Gesellschaft in Verbindung mit der Natur, in der wir die Wissenssammlungen unserer indigenen Völker nutzen und das Buen Vivir ermöglichen.

Wie viele Projekte der letzten Jahre hat das Radio Plaza de la Dignidad seinen Ursprung im Oktober 2019. Damals beschlossen zwei Menschen, aus dem sechsten Stock eines Hochhauses Musik in Richtung der Plaza de la Dignidad zu spielen. Die Musik sollte den Kampf auf der Straße beleben. Wir wollen eine der Stimmen für die prekärsten, radikalen und antiinstitutionellen Bereiche der Gesellschaft und Bewegung sein. Mit Debatten, Weisungen und theoretischen Vorschlägen wollen wir gemeinsam mit Basisorganisationen und -aktivist*innen dazu beitragen, dass die prekarisierten Teile dieser Gesellschaft sich selbst zum politischen Objekt machen.

Zur Definition unserer Arbeit gehört auch das, was der Historiker Gabriel Salazar im September 2020 zu uns in einem Interview gesagt hat: „Ich bin dankbar für die Einladung, an diesen Debatten teilnehmen zu dürfen, die ihr vorantreibt, aufnehmt und weiterverbreitet und gegenüber der Bewegung einordnet. Für mich ist es eine Ehre, Teil einer Gruppe zu sein, die vom sechsten Stock mit Blick auf die Plaza de la Dignidad aus wusste, sich an der Bewegung zu beteiligen: Das zu nehmen, was von dort kommt und es den Menschen vor Ort zurückzugeben – all das, was dort gedacht, diskutiert und zur Bewegung beigetragen wird.“

Vielleicht ist das auch eine der Erfahrungen, die uns am meisten erfreut hat: Die Möglichkeit, Impulse aufzunehmen und sie in Radiosendungen, audiovisuellen Produktionen, Live-Schalten, Aufrufen, Interviews, Diskussionsrunden, Konzerten und Dokumentationen der Kämpfe auf der Straße und in den Vierteln zurückzugeben. Wir könnten auch sagen: Die Menschen versorgen uns. Und wir versuchen, sie zu unterstützen.

Im Jahr 2019 haben wir im sechsten Stock eines Bürogebäudes an der Plaza de la Dignidad zwei Lautsprecher aufgestellt. Wir wollten die Mobilisierungen gegen die Repression mit der historischen Musik der sozialen Bewegungen untermalen. Dazu spielten wir auch neue Stücke von Bands, die schon vor und während der Revolte die Anliegen der Protestierenden unterstützt hatten – wir nennen das die Kulturelle Revolte.

Schon bald stellte sich der große Erfolg dieser kleinen und spontanen Initiative ein: Die Protestierenden begannen, die Musik aus den Fenstern einzufordern. Oft riefen die Leute schon, wenn wir die Lautsprecher auch nur etwas zu spät herausstellten. Wenn dann eine weibliche Stimme die Übertragung eröffnete, war die Begeisterung groß. „Achtung, Achtung, Menschen aus Chile, wir übertragen Radio Plaza de la Dignidad!“, hieß es dann. Mit diesen Worten wollten wir auch die Besetzungen von Radiostationen während der Diktatur würdigen und wiederbeleben.

Ging es anfangs nur darum, während der Demos Musik zu spielen, führte die Entwicklung der Revolte bald dazu, dass wir unsere Arbeitsweise verändert haben. Wir erstellten ein Konto, mit dem wir 24 Stunden am Tag revolutionäre Musik online auf die Handys streamen konnten. Seitdem haben sich unzählige bekannte Künstler*innen bei uns gemeldet, die mit uns zusammenarbeiten oder ihre Songs auf die Playlists für die Streams setzen wollten. Auch jetzt, nach über zwei Jahren, bekommen wir noch solche Anfragen. Deswegen produzieren wir bis heute neue Programme. Irgendwann entstand dann auch eine Facebook-Seite, die viel Zuspruch erhielt: Jetzt haben wir mehr als 92.000 Follower, viele Beiträge werden über eine Million Mal gesehen.

Die Revolte ist überall präsent Straßenkunst im Zentrum von Santiago de Chile

Je bekannter unsere Arbeit wurde, desto stärker stiegen auch die Erwartungen. Deshalb stellten Freund*innen von uns ein Team von Reporter*innen zusammen, die Live-Übertragungen von den Demos organisierten. Diese und andere Gruppen spielten eine fundamentale Rolle beim Sichtbarmachen der Kämpfe auf den Straßen. Teilweise hat ihre Arbeit sogar bewirkt, dass die Sicherheitskräfte den Demonstrierenden weniger aggressiv begegneten, weil sie sich beobachtet fühlten. Die Reporter*innen dieser Basismedien sind heute zusammen mit Menschenrechtsorganisationen und den Brigaden von Sanitäter*innen Elemente der Revolte, die man nicht wegdenken kann. Es vergeht kein Protesttag, an dem man sie nicht auf den Straßen sieht – sowohl um den Protestierenden Mut zu machen als auch um die Repression des neoliberalen Staates anzuprangern.

Mit der steigenden Sichtbarkeit in der Revolte gab es immer mehr Menschen, die sich am Radio beteiligen wollten und wir bekamen unzählige Anfragen von Künstler*innen, die an den Freitagen von den Fenstern aus für die Proteste singen wollten. Die Umsetzung dieser Projekte bedeutete für uns vor allem eine Herausforderung in Sachen Technik und Infrastruktur, denn sonst hätte man die Künstler*innen unten auf der Straße gar nicht gehört. Wir stellten also ein Team von Tontechniker*innen zusammen und kauften neues Equipment. Unter den vielen Künstler*innen, die dort gespielt haben, sind Anita Tijoux, Santiago Rebelde, Evelyn Cornejo und La Bersuit Vergarabat. Ihre Konzerte haben auch dazu geführt, dass zahlreiche nationale und internationale Medien über uns berichteten, zum Beispiel der Rolling Stone, El Mundo aus Spanien oder die argentinische La Nación.

Was ursprünglich als einfache Idee zur Unterstützung der Proteste entstanden war, hat sich inzwischen zu einem viel größeren Projekt entwickelt. Das bedeutet, dass nicht nur mehr Arbeit und Hingabe nötig ist, sondern auch mehr Koordinationsarbeit, um die unterschiedlichen Arbeitsbereiche aufeinander abzustimmen. So entstanden weitere Initiativen. Wir erstellten audiovisuelle Produktionen wie El Vaso de Leche, ein Konzert für die Gefangenen der Revolte, eines gegen das Freihandelsabkommen TPP-11 und eines, bei dem Poesie aus der Revolte rezitiert wurde.

Die so entstandenen Programme übertragen wir wöchentlich aus unseren Räumen, die wir inzwischen in ein Studio umgewandelt haben, über Facebook. Dazu gehört das Programm Cancha Revuelta, das über verschiedene nicht-kommerzielle Fußballprojekte berichtet. Oder El Cancionero de la Revuelta, mit dem wir Live-Konzerte von Bands und Künstler*innen übertragen. Eines unserer wichtigsten Projekte im Rahmen der Kulturellen Revolte war zweifellos die Produktion der „Vinyl der Revolte“. Das war nicht einfach, aber dafür gibt es jetzt eine Platte mit den wichtigsten Songs der sozialen Bewegungen dieser Zeit.

Die chilenische Medienlandschaft und die Revolte
Auch die großen chilenischen Medien sind Teil des neoliberalen Systems, gegen das sich die Protestierenden seit Oktober 2019 richten. Ein noch aus der Pinochet-Diktatur stammendes Subventionssystem verschafft den großen Zeitungsunternehmen El Mercurio und Copesa bis heute Marktvorteile. Auch die wichtigsten TV-Sender wie Chilevisión, Mega und Canal 13 sind privatisiert. Der Sender Canal 13 etwa gehört seit einigen Jahren zu 100 Prozent dem Milliardär Andrónico Luksic, dessen Familie mit Forst- und Kupferunternehmen sowie Bankgeschäften ihr Geld gemacht hat. Kaum besser sieht es bei den chilenischen Radiosendern aus: Der spanische Medienkonzern Prisa bestreitet ganze 60 Prozent des Marktes, freie oder Basisradios haben es immer schwieriger. Auch Reporter ohne Grenzen beobachtet diese Entwicklungen. Im jährlichen Ranking der Organisation rutschte Chile im vergangenen Jahr um drei Ränge auf Platz 54 ab. So heißt es, es fehle an Pluralismus: „In den vergangenen Jahren sind mehrere Radiostationen geschlossen worden. Communitymedien sehen sich großen Problemen gegenübergestellt – all das beschränkt die demokratische Debatte im Land besonders stark.“ Seit Beginn der Revolte zählen viele Demonstrierende daher auf unabhängige Journalist*innen, Communitymedien wie das Radio Plaza de la Dignidad und die sozialen Netzwerke, über die sich sowohl Demonstrationen als auch gewaltvolle Polizei- und Militäreinsätze sekundenschnell dokumentieren und international verbreiteten lassen.

// Susanne Brust

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