Dossier | Dossier 19 - Aufruhr auf den Straßen | Kuba | Nummer 569/570 - November/Dezember 2021

NICHT NUR BLOCKADE

Kubas Jugend verlangt Teilhabe und Freiräume und wendet sich gegen verkrustete Strukturen

Seit dem Beginn der Proteste am 27. November 2020 kommt Kuba nicht mehr zur Ruhe. Inzwischen geht es nicht mehr allein um die Forderung nach mehr Bürger*innenrechten oder um die katastrophale Versorgungslage, sondern auch um die Freilassung politischer Gefangener und die Beilegung des gesellschaftlichen Dissenses.

Von Andreas Knobloch

Für die, die kämpfen und Widerstand leisten Straße bei Candelaria (Foto:Frans Persoon via Flickr CC BY-NC-ND 2.0)

Die Gruppe Archipiélago (Archipel) um den jungen Theaterdramaturgen Yunior García stellte einen Antrag an lokale Regierungsbehörden, eine Reihe von Demonstrationen in mehreren Städten Kubas am 20. November 2021 zu genehmigen, so auch in der Hauptstadt Havanna. Die Organisator*innen begründeten ihren Aufruf mit dem Protest für die Freilassung politischer Gefangener und die Beilegung von Differenzen mit demokratischen und friedlichen Mitteln. Dabei beriefen sie sich auf ihre verbrieften Freiheitsrechte.

Die Regierung kündigte zunächst für den 18. bis 20. November dreitägige Militärübungen an. Daraufhin zogen die Organisator*innen den Marsch auf den 15. November vor. Mitte Oktober verweigerten die Behörden der Demonstration in Havanna die Genehmigung. Sie argumentieren, dass ein verfassungsmäßiges Recht „nicht gegen die anderen Rechte, Garantien und wesentlichen Postulate der Verfassung selbst ausgeübt werden kann“. Den Organisator*innen des Marsches werfen sie vor, „Verbindungen zu subversiven Organisationen oder von der US-Regierung finanzierten Einrichtungen“ zu haben, die einen Wechsel des politischen Systems in Kuba und eine militärische Intervention auf der Insel anstreben. Die geplanten Märsche stellten demnach Provokationen im Rahmen einer Regime-Change Strategie dar, heißt es in der zweiseitigen Verbotsbegründung.

Am 21. Oktober warnte die Staatsanwaltschaft der Provinz Havanna, dass sich die Organisator*innen, sollten sie ihren Plan weiterverfolgen, der Straftatbestände des Ungehorsams, der illegalen Demonstration sowie der Anstiftung zu Straftaten schuldig machen würden, die mit Strafzahlungen und Haftstrafen von bis zu einem Jahr geahndet werden könnten. Die Vizechefin der Behörde, Yahimara Angulo, erklärte gegenüber der Presse, dass sich die Warnung auf Artikel 156 der Verfassung stützt, der die Aufgabe der Staatsanwaltschaft darin sieht, „die strikte Einhaltung der Magna Carta zu gewährleisten“.

Yunior García erklärte, an dem Aufruf festhalten zu wollen. Gegenüber ausländischen Journalist*innen verwies er darauf, dass in dem Antrag für den Marsch, „nirgends von einer Veränderung des Sozialismus die Rede ist“. „Die kubanische Zukunftsagenda muss ein kollektives Konstrukt sein, sie muss gemeinsam geschrieben werden, sie muss das Ergebnis eines Konsenses zwischen verschiedenen Agenden und verschiedenen Ideen sein“, sagte García. Der 38-Jährige ist Teil der Gruppe Archipiélago, die den Protest Mitte November anschiebt. Die Gruppe war im August 2021 gegründet worden und hat nach eigenen Angaben rund 20.000 Mitglieder, von denen viele außerhalb des Landes leben. Sie will eine Plattform für eine Debatte über ein zukünftiges Kuba sein.

Die beispiellosen Proteste vom 11. Juli haben Kuba aufgewühlt. In mehreren Städten des Landes waren Tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Lebensmittel- und Medikamentenknappheit zu protestieren und politische Veränderungen zu fordern. Es waren die größten Proteste auf der Insel seit dem so genannten Maleconazo, als im August 1994, auf dem Höhepunkt der „Spezialperiode“ genannten Wirtschaftskrise, Hunderte Menschen auf Havannas Uferpromenade demonstrierten.

Im Gegensatz zu 1994 hatten die Proteste dieses Mal – nicht zuletzt aufgrund der sozialen Netzwerke – eine nationale Dimension, die die Behörden überraschte. Schnell machten in den sozialen Netzwerken Videos von Straßenprotesten in verschiedenen kubanischen Großstädten die Runde. Ein solcher Ausbruch sozialer Unzufriedenheit ist ungewöhnlich für den Karibikstaat und rief viel internationale Aufmerksamkeit hervor. Aus Miami kamen schnell Solidaritätsbekundungen und Rufe nach einer „Intervention“.

Ausgelöst wurden die Proteste im Sommer durch die schwere Wirtschafts- und Versorgungskrise in Kuba. Der Einbruch des Tourismus infolge der Coronapandemie, die sich im Vorfeld der Proteste verschärft hatte, hat das Land von wichtigen Deviseneinnahmen abgeschnitten und den Spielraum der Regierung eingeschränkt. Hinzu kommt die Verschärfung der US-Blockade. Die Währungsanpassung Anfang des Jahres, in deren Folge der konvertible Peso abgeschafft wurde, begleitet von einer Abwertung des kubanischen Pesos sowie einer Preis- und Lohnreform, hat zu einer massiven Preissteigerung geführt. Viele Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs sind nur noch in Devisenläden oder auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Die Menschen stehen jeden Tag stundenlang Schlange, um Grundnahrungsmittel zu kaufen. Außerhalb Havannas kommt es zu zum Teil stundenlangen Stromausfällen.

„Die Demonstrationen sollten keine Überraschung sein“, sagt Carlos Alzugaray, kubanischer Ex-Diplomat und unabhängiger politischer Analyst aus Havanna. Die Ursachen seien vielfältig: „Die Anstachelung über soziale Netzwerke von außen, die zu einem großen Teil durch die US-Blockade verursachte erhebliche Verschlechterung der sozialen Lage, vor allem in marginalisierten Vierteln, die zunehmenden Schwierigkeiten beim Erwerb von Lebensmitteln, das Gefühl, die Regierung handhabe die Pandemie nicht effizient, und eine ineffiziente Kommunikationsstrategie der Regierung.“

Unter #SOSCuba war in den Wochen vor den Protesten der Eindruck erweckt worden, der Regierung entgleite die Kontrolle über die Pandemie. Recherchen des spanischen Social Media-Analysten Julián Macías Tovar zeigten, dass der Hashtag auf Twitter von automatischen Bots weiterverbreitet wurde. Laut Tovar steckten Vertreter der rechten argentinischen Stiftung Fundación Libertad dahinter, die schon bei Umsturzversuchen in anderen lateinamerikanischen Ländern mitgewirkt hat.

Die Regierung reagierte auf die Proteste mit dem rigorosen Einsatz der Polizei. In den sozialen Netzwerken kursierten Bilder und Videos von Verhaftungen, Zusammenstößen und exzessiver Polizeigewalt. Oft war allerdings nicht klar, wann und unter welchen Umständen sie gedreht wurden; andere waren offensichtlich nicht aus Kuba. Laut staatlichen Behörden gab es einen Toten; Hunderte Menschen wurden verhaftet. Im Anschluss wurden Dutzende in Schnellverfahren zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt; in einzelnen Fällen zu mehreren Jahren.

Kubas Regierung machte die Vereinigten Staaten und ihre Blockadepolitik für die wirtschaftliche Situation und für die Anstachelung der Proteste verantwortlich. Es stimme zwar, dass Influencer Geld von der US-Regierung erhielten, sagt Carlos Alzugaray. Aber es sei schwer zu glauben, dass die US-Regierung soziale Instabilität bis hin zur Provokation unkontrollierter Gewalt fördern wolle. „Ich denke, die kubanische Regierung macht einen Fehler, wenn sie das Ausmaß ihrer eigenen Handlungen oder Versäumnisse unterschätzt, die die Unzufriedenheit hervorgerufen haben.“

Es geht um eine gesellschaftliche Vision für ein zukünftiges Kuba

„Die Proteste vom 11. Juli in Kuba wurden weder von Künstlern ausgerufen noch von Intellektuellen angeführt. Es handelte sich um Demonstrationen des Volkes, Ausdruck einer extremen Situation, die von politischer Unbeweglichkeit, wirtschaftlicher Ineffizienz, der Pandemie, wachsender Ungleichheit, fehlenden Freiheiten und dem US-Embargo geprägt ist“, schreibt der in Barcelona lebende kubanische Essayist Iván de la Nuez, in der spanischen Tageszeitung El País.

Trotzdem spielen Kulturschaffende eine wichtige Rolle, wie García und Archipiélago zeigen. Schon beim ersten größeren öffentlichen Protest, am 27. November 2020 versammelten sich vor dem Kulturministerium in Havanna mehrere Hundert vornehmlich junge Kulturschaffende zu einem friedlichen Sit-in. Sie protestierten für Kunst- und Meinungsfreiheit, ein Ende von Zensur und gegen die Räumung des Sitzes des Kollektivs Movimiento San Isidro (MSI) im gleichnamigen Altstadtbezirk am Vorabend durch die Polizei. Dort waren seit dem 18. November mehrere Aktivist*innen um den Performance-Künstler Luís Manuel Otero Alcántara im Hungerstreik. Otero gilt als Kopf des MSI. Entstanden ist das Kollektiv vor drei Jahren, als Künstler*innen und Intellektuelle auf Kuba gegen das Dekret 349 mobilisierten, das es laut Kritiker*innen dem Staat erlaube, Kulturschaffende zu drangsalieren. Mit dem Hungerstreik sollte die Freilassung des Rappers Denis Solís, Mitglied des MSI, erreicht werden, der wegen Beamtenbeleidigung zu acht Monaten Haft verurteilt worden war. Die staatliche Presse nannte die Aktion eine „von den USA unterstützte konterrevolutionäre Show“. Die Gruppe soll Geld aus Florida erhalten haben. Der mehrtägige Hungerstreik fand großes Echo in den sozialen Medien auf der Insel und führte zu der Solidarisierungsaktion vor dem Kulturministerium. Daraus wurde in Anlehnung an den 27. November, den Tag des Protestes, die Bewegung 27N. Diese ist dabei nicht identisch mit eher regierungsfeindlichen Gruppen wie dem Instituto de Artivismo Hannah Arendt (Instar) oder dem Movimiento San Isidro (MSI). Sie wendet sich gegen Polizeiwillkür und Zensur und tritt für Meinungs- und künstlerische Freiheit ein.

Durch Kubas verstärkte Einbindung in die globale Wirtschaft und Kommunikation sowie die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, darunter die Ausweitung des Privatsektors, treten die sozialen Unterschiede auf der Insel offener zutage. Die kubanische Gesellschaft ist heute fragmentierter und diverser; junge Leute treten für Tierrechte oder LBGTIQ*-Belange ein, verlangen Teilhabe und Räume für Dissens. Die Jungen von heute sind mit den vielzitierten Errungenschaften der Revolution aufgewachsen, vor allem aber auch mit einer kontinuierlichen wirtschaftlichen Krise. Ein Teil von ihnen traut der Regierung die Lösung der Probleme nicht mehr zu. Es geht dabei nicht um eine von den USA gestützte Konterrevolution versus Revolution, sondern um eine gesellschaftliche Vision für ein zukünftiges Kuba, in der sich auch die Jungen wiederfinden.

Oder wie der Liedermacher Silvio Rodríguez Ende Juli nach einem Treffen mit Yunior García schrieb: „Es muss mehr Brücken geben, es muss mehr Dialog geben, es muss weniger Vorurteile geben, weniger Lust am Schlagen und mehr Lust an der Lösung des Berges anstehender wirtschaftlicher und politischer Fragen; weniger Gewohnheit, denen zuzuhören, die mit denselben Worten das Gleiche sagen, Jahrzehnt für Jahrzehnt, als ob die [nachfolgenden] Generationen nicht auch mit ihren eigenen Worten und Illusionen angetreten wären.“

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