Brasilien | Nummer 444 - Juni 2011

Außergewöhnliche Entscheidung

Der Oberste Gerichtshof in Brasilien verfügt die uneingeschränkte Anwendung des Gesetzes zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt

Fünf Jahre nach Einführung des sogenannten ,Maria da Penha‘-Gesetzes gegen Gewalt an Frauen sind die Zahlen von ermordeten und misshandelten Frauen in Brasilien noch immer erschreckend hoch. Zwar wurden vielen Frauen auf Basis des Gesetzes per Richterspruch Schutzmaßnahmen zugesprochen, aber der Justizapparat arbeitet langsam, verschleppt Prozesse oder verhängt nur geringe Strafen. Dank engagierter FrauenrechtlerInnen ist das Thema jedoch weiter in der Öffentlichkeit präsent und immer mehr Frauen trauen sich, Anzeige zu erstatten, wenn sie im häuslichen Umfeld Gewalt erfahren haben. Auch Brasiliens neue Präsidentin Dilma Rousseff will sich dem strukturellen Problem verstärkt widmen.

Christian Russau

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (STF) in Brasilien war mit Spannung erwartet worden. Am 24. März dieses Jahres sollte dieser abschließend darüber befinden, ob das sogenannte „Maria da Penha“-Gesetz uneingeschränkt gültig ist. Falls nicht, würden in Fällen mit vermeintlich minderer Schwere andere Gesetzesparagraphen wie Körperverletzung oder Bedrohung angewendet werden – Täter bekämen mildere Strafen und Frauen weniger Opferschutz. FrauenrechtlerInnen hatten gemeinsam mit AnwältInnen und Menschenrechtsgruppen in den Monaten vor der Entscheidung des STF mobilisiert und Kampagnen zur Aufklärung über die Bedeutung des Urteilsspruchs gestartet. Als das Oberste Gericht schließlich urteilte, dass das „Maria da Penha”-Gesetz uneingeschränkt anzuwenden sei, war deren Freude daher umso größer.
Die Statistiken und Zahlen über häusliche Gewalt gegen Frauen in Brasilien sind erschütternd. Laut einer Studie, die das Institut Sangari im Auftrag der brasilianischen Regierung erstellt hat, werden in Brasilien jeden Tag zwölf Frauen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt ermordet. Damit liegt die Mordrate bei 3,9 je 100.000 Frauen. Zum Vergleich: In El Salvador liegt sie bei 12,7, in den Niederlanden bei 0,6. Die brasilianische Zeitung Correio Braziliense spricht von 4.500 Frauen, die allein im Jahr 2010 ermordet wurden – 1996 waren es 3.600. Innerhalb von zehn Jahren gab es demnach einen Anstieg um nahezu 30 Prozent.
Ein Fünftel aller brasilianischen Frauen geben an, Gewalt durch Männer erlebt zu haben. Doch das Problem wird herunter gespielt, die Gesellschaft ist nach wie vor nicht ausreichend sensibilisiert. Und die Täter sind nicht unbekannt. In 70 Prozent der Fälle wird Gewalt gegen Frauen von den Ehemännern, Partnern oder anderen männlichen Familienangehörigen verübt. Und so wird Gewalt von Männern gegen Frauen zumeist verharmlost und heruntergespielt. Lediglich acht Prozent der Männer geben an, bereits eine Frau angegriffen zu haben.
Um den Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt zu verbessern, wurde 2006 von der Regierung des damaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva das sogenannte „Maria da Penha”-Gesetz eingeführt. Erlassen wurde es als Reaktion auf einen besonders emblematischen und schrecklichen Fall von häuslicher Gewalt im Bundesstaat Ceará: Die Apothekerin Maria da Penha wurde sechs Jahre lang täglich von ihrem Ehemann angegriffen und brutal verprügelt. Zwei Mal versuchte er, sie zu ermorden. Seit seinem ersten Mordversuch mit einer Schusswaffe ist da Penha querschnittsgelähmt. Später versuchte er, sie mit einem Stromschlag umzubringen und anschließend zu ertränken. Beide Male überlebte sie die Angriffe ihres Mannes. Nachdem sie ihn angezeigt hatte, wurde der Prozess achtzehn Jahre lang von der Justiz verschleppt. Letztlich saß er nur zwei Jahre in Haft.
Das große Interesse von Medien und Öffentlichkeit am Fall „Maria da Penha” zwang die Regierung Lula zum Handeln: 2006 verabschiedete sie das nach da Penha benannte Gesetz, das es ermöglicht, häusliche und familiäre Gewalt zukünftig als Straftat und nicht als Privatangelegenheit zu verfolgen. Flankiert wurde es durch die Einführung von effektiveren Instrumenten des Opfer- und Kinderschutzes sowie von der Einrichtung weiterer Polizeidienststellen speziell für Frauen. Seit 2008 werden die im „Maria da Penha”-Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zum Opferschutz vom Haushalt des „Nationalen Programms für Sicherheit und Bürgerrechte“ (PRONASCI) finanziert.
Gut fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes haben nun erste Auswertungen ergeben, dass bisher 70.574 Frauen auf der Basis des „Maria da Penha”-Gesetzes per Richterspruch Schutzmaßnahmen zugesprochen wurden. Diese geben den Frauen die Möglichkeit, aus der familiären Gefahrensituation zu entkommen. Dem Agressor wird meist die räumliche Annäherung an das Opfer sowie deren Angehörige verboten. „Das sind positive Zahlen“, kommentiert die Richterin Morgana Richa gegenüber der Tageszeitung Globo.
Doch die Erfolgsmeldungen werden umgehend getrübt: Denn die brasilianische Justiz zeichnet sich allgemein schon nicht durch Geschwindigkeit und Effizienz aus – noch langsamer als sonst scheinen die Mühlen der Justiz in Fällen von häuslicher Gewalt zu mahlen. Nicht alle Gerichte kooperieren mit den Erhebungen des Justizrates CNJ (Conselho Nacional de Justiça); manche stellen ihre Daten nicht oder nur unvollständig zur Verfügung. So geht der Justizrat davon aus, dass die Zahl der noch anhängigen Prozesse in Fällen von Gewalt gegen Frauen die bereits ergangenen Urteile um ein Vielfaches übersteigt. Laut den bekannten Zahlen sind landesweit derzeit noch 332.216 Prozesse anhängig, allein in Rio de Janeiro sind es 93.843.
Hinzu kommen von patriarchalischen Strukturen geprägte Macho-Richter, die zugunsten der angeklagten Männer urteilen. Ein Richter in Sete Lagos im Bundesstaat Minas Gerais beispielsweise weigerte sich rundheraus, das „Maria da Penha”-Gesetz anzuwenden. Seiner Meinung nach brächten dessen „teuflischen Regeln“ die Werte der Familie in Gefahr: „Das menschliche Unglück begann im Garten Eden – wegen der Frau, das wissen wir doch alle“, so der Richter. Immerhin wurde dieser daraufhin für zwei Jahre vom Dienst suspendiert.
Die Regierung scheint das strukturelle Problem im Justizwesen erkannt zu haben. Im Mai wurde ein Gesetz verabschiedet, das auch Zeugen von Gewalt gegen Frauen diese zur Anzeige bringen kann. Die frisch angetretene Präsidentin Dilma Rousseff erklärte dazu im März diesen Jahres, häusliche Gewalt sei inakzeptabel und der Kampf dagegen eine der ihr am meisten am Herzen liegenden Angelegenheiten. „Häusliche Gewalt muss sofort angezeigt werden. Sonst werden wir diese nicht stoppen können“, betonte die Präsidentin. Das betreffe vor allem Angestellte des Öffentlichen Dienstes: „Wer nicht anzeigt, dass er eine angegriffene, verletzte Frau behandelt hat, wird einem dienstaufsichtlichen Verfahren unterworfen werden und ihm droht eine Strafe.“
Bisher ist es vor allem engagierten FrauenrechtlerInnen und AnwältInnen zu verdanken, dass sich immer mehr Frauen trauen, Misshandlung und häusliche Gewalt überhaupt anzuzeigen. Allein 2010 wurde landesweit in 340.000 Fällen von häuslicher Gewalt Anzeige erstattet. In den vier Jahren zuvor waren es insgesamt 791.407 Fälle gewesen. 9.715 Männer sitzen derzeit wegen häuslicher Gewalt in brasilianischen Gefängnissen – verurteilt auf Basis des „Maria da Penha”-Gesetzes. In Fortaleza, der Hauptstadt des Bundeslandes Ceará, werden jeden Monat beispielsweise durchschnittlich 500 Fälle von häuslicher Gewalt zur Anzeige gebracht.
Gänzlich anders sieht es vor allem in ländlichen Gebieten aus. Die Menschenrechtsaktivistin Carmen Lorenzoni, die seit Jahren zum Thema Gewalt gegen Frauen arbeitet, weist auf die besonderen Schwierigkeiten hin, denen sich Frauen auf dem Land gegenüber sehen: „Hier gibt es keine solchen spezialisierten Strafkammern oder gesonderten Polizeidienststellen für Frauen“, betont sie. „Die Isolation der Frauen ist zudem weit größer. Frauenrechtsgruppen, Anwälte und Menschenrechtsorganisationen sind auf dem Land weniger präsent als in den Städten. Und oftmals gibt es keinen direkten Nachbarn, der die Schreie der Frau hören und vielleicht zu Hilfe eilen oder die Polizei rufen könnte.“ Lorenzoni fordert deshalb, dass die Staatsanwaltschaften in den Städten Strukturen schaffen müssen, die die Frauen auf dem Land erreichen. „Etwa eine Art mobile Einsatz- und Beratungsstelle oder die Schaffung von Frauenhäusern und Polizeidienststellen für Frauen in den ländlichen Gebieten. Aber dafür fehlt meistens das Geld – und vor allem der politische Wille“, kritisiert Lorenzoni.
Und politischer Wille bedeute neben mehr Mitteln eben auch verstärkte Koordinierung der verschiedenen Ebenen des Staates – Justiz, Regierung und Polizei – sowie die Ausbildung und Sensibilisierung der MitarbeiterInnen dieser Ebenen. „Leider ist es so, dass ein Großteil der Mitarbeiter dieser staatlichen Stellen niemals eine besondere Weiterbildung erhalten haben, was häusliche Gewalt bedeutet und wie sie auf die Frauen reagieren sollten“, erklärt Lorenzoni. „Dies führt dazu, dass in vielen Fällen die angegriffene Frau ein zweites Mal Opfer wird: anstatt Hilfe von den Behörden zu bekommen, stößt sie auf Vorurteile, Diskriminierung, Erniedrigung“. Der Staat habe mit dem „Maria da Penha”-Gesetz den Rechtsrahmen gesetzt, nun müsse er auch die durchgängige Umsetzung des Gesetzes angehen, meint Lorenzoni.
Auch Jandira Feghali sieht das so. Die Berichterstatterin über häusliche Gewalt und Kongressabgeordnete in Brasília fordert: „Das Gesetz ‚Maria da Penha‘ muss uneingeschränkt umgesetzt werden.“
Dies sah nun auch der Oberste Gerichtshof so. Seit dem 24. März sind zumindest juristisch die Lücken und Schleichwege aus dem Weg geräumt, mit denen das Gesetz bisher umgangen werden konnte. In Zukunft muss in Fällen häuslicher Gewalt im Rahmen des „Maria da Penha”-Gesetzes geurteilt werden. Iriny Lopes, Bundesministerin des Sondersekretariats für Frauen, nannte den 24. März 2011 daher einen „historischen Tag für die brasilianischen Frauen“ und bezeichnete die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes als „außergewöhnlich“.

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