Basso-Tribunal verurteilt Asylpolitik der europäischen Staaten
“Von dreißig Möglichkeiten, einer Gefahr zu entkommen, ist Wegrennen die beste” – wenn es einen Zufluchtsort gibt
Die internationale Jury, der unter anderem der türkische Schriftsteller Aziz Nesin, die israelische Rechstanwältin Felicia Langer, die malawische Menschenrechtlerin Vera M. Chirwa und Günther Wallraff angehörten, sprach die europäischen Staaten schuldig, “durch ihre Asylpolitik die Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen (…) systematisch und wiederholt verletzt zu haben”. Dieses Urteil war die konsequente Schlußfolgerung und der dramaturgische Abschluß der viertägigen umfassenden Auseinandersetzung mit der europäischen Asylpolitik.
Daß eine Kritik an der offiziellen Asylpolitik nicht erwünscht ist, war im Vorfeld des Tribunals deutlich geworden. Ähnlich wie das Bundesinnenministerium lehnten auch das Bundesjustizministerium, mehrere Länderinnenministerien, die EU-Kommission und die Parteien, die hinter der Grundgesetzänderung stehen, die Entsendung eines Verteidigers ab. Der konservative Asylrechtsexperte Kay Hailbronner ließ gar wissen, daß er für einen “Schauprozeß” à la Ostblock nicht zur Verfügung stehe.
Die Bundesregierung verhindert Unterstützung
Auch bei der Finanzierung durch den Grünen-nahen Stiftungsverband Regenbogen/Buntstift machte die Regierung von ihrem Vetorecht Gebrauch. Nachdem Buntstift am Jahresanfang bereits einen Zuschuß gewährt hatte, verhinderte das Auswärtige Amt (AA) eine weitere Förderung des Tribunals aus einem Finanztopf, dessen Mittelvergabe der Zustimmung des Ministeriums bedarf. Unter Hinweis auf 23 der Bundeshaushaltsordnung heißt es in einem Brief des AA vom 3.11.1994: “Es liegt nicht im Interesse des Bundes, eine Veranstaltung zu fördern, bei der die Bundesrepublik Deutschland und befreundete europäische Länder in einer auf große Öffentlichkeitswirkung angelegten, einseitigen (von einer Vorverurteilung ausgehenden) gespielten Gerichtsverhandlung wegen ihrer Asylpolitik auf die Anklagebank gesetzt werden.”
Der Ablauf des Tribunals zeigte dann, daß es keineswegs um eine pauschale und undifferenzierte Kritik der herrschenden Asylpolitik, sondern um eine umfassende und detaillierte Begutachtung der europäischen Asylpolitik ging. Von einer Vorverurteilung könne keine Rede sein, sagte die österreichische Publizistin Freda Meissner-Blau als Jury-Mitglied vor der Eröffnung des Tribunals. Allerdings sei “das Tribunal insoweit parteilich, daß es sich den Rechten von Flüchtlingen und einer humanen Asylpolitik verpflichtet” fühle, und nicht die Erwägungen von Regierungen übernehme, die eine Abschottungspolitik betreiben. Die britische Rechtsanwältin Frances Webber, die die Anklageseite vertrat, warf den europäischen Staaten vor, mit ihrer Abschottungspolitik die humanitären Ideale preiszugeben, die der Genfer Flüchtlingskonvention und der Allgemeinen Menschenrechtserklärung zugrundeliegen. Damit begingen sie “nicht nur Verrat an den Flüchtlingen, sondern auch an den Völkern Europas und der Welt – und an der Demokratie selbst”. Im Rahmen von Länderberichten (zu Frankreich, Spanien, Deutschland und der Schweiz) und den Aussagen von Betroffenen, die im Zuge ihres Asylverfahrens oder durch die Ablehnung ihres Asylantrags in ihren Rechten verletzt wurden, entstand auf dem Tribunal ein breites und facettenreiches Bild der vielfältigen Negativfolgen der europäischen Asylpolitik für Flüchtlinge. Neben den häufig unüberwindbaren Hürden, zu einem Asylverfahren Zugang zu bekommen und den oft menschenunwürdigen Bedingungen, denen Flüchtlinge in den europäischen Aufnahmeländern unterworfen sind, stand bei den Zeugenaussagen auch die Situation in den Herkunftsländern im Vordergrund.
In Spanien zusammengeschlagen
Die Lage in den lateinamerikanischen Staaten kam in den Aussagen der beiden ZeugInnen aus Spanien zur Sprache. Die kolumbianische Rechtsanwältin Clara Eugenia Valencia war in ihrem Heimatland für eine Menschenrechtsorganisation tätig, die sich um die Aufklärung des Schicksals politisch Verfolgter und “Verschwundener” kümmert. Aufgrund ihrer Arbeit erhielt sie Morddrohungen. 1989 verließ sie Kolumbien und beantragte in Spanien Asyl. Im Asylverfahren erfuhr sie die bürokratischen und rechtlichen Hürden der spanischen Asylpraxis, da von ihr verlangt wurde, ihre gesamte politische Arbeit und die erhaltenen Drohungen nachzuweisen. Der zweite spanische Zeuge, Miguel Inocente Rodas, war Angehöriger der peruanischen Streitkräfte. Er desertierte, nachdem er Drohungen von Sendero Luminoso erhielt und in seinem Stadtteil mehrere Regierungssoldaten von Sendero umgebracht wurden. Als Deserteur wurde er daraufhin von staatlicher Seite verfolgt und floh 1987 nach Spanien. Während sein Asylverfahren noch lief, wurde er gemeinsam mit seinem Bruder bei einer “routinemäßigen” Ausweiskontrolle von spanischen Polizisten zusammengeschlagen und festgenommen. Auf der Polizeiwache wurde er so schwer mißhandelt, daß er längere Zeit im Krankenhaus lag. Doch obwohl sein Fall von den spanischen Medien und von amnesty international aufgegriffen wurde, sind die Polizisten, die ihn mißhandelten, bis heute nicht verurteilt.
Fluchtursachen in den Herkunftsländern
In ihren Gutachten hatten der Ökonom Elmar Altvater ausführlich die ökonomischen und sozialen Fluchtursachen dargestellt, und der Soziologe Oskar Negt über die Einschränkung der sozialen Rechte von Flüchtlingen in den Aufnahmeländern und den Mißbrauch der Fremden als Sündenböcke für die gesellschaftlichen Probleme in Westeuropa kritisert. “Von dreißig Möglichkeiten, einer Gefahr zu entkommen, ist Wegrennen die beste”, zitierte der Sozialwissenschaftler Kum’a Ndumbe aus Kamerun, der über die Ursachen von Armutsflucht und Süd-Nord-Migration referierte, ein chinesisches Sprichwort. Dabei wies er darauf hin, daß von denen, die diesem Satz folgend beispielsweise aus Afrika “wegrennen”, nur die allerwenigsten in Westeuropa ankommen. Der größte Teil der Flüchtlinge blieben in den ärmeren Weltregionen. An den Ursachen der Flucht und an der Mitverantwortung der europäischen Staaten ändere indes die Abschottungspolitik Europas nichts.
Die Verteidiger im Rollenkonflikt
Der linke Kieler Rechtsanwalt Thomas Jung, der sich als Pflichtverteidiger zur Verfügung gestellt hatte, fand sich im Verlauf des Tribunals immer mehr in seine Rolle hinein. Während er anfangs immer wieder – entschuldigend – darauf hingewiesen hatte, daß er persönlich nicht die regierungsoffiziellen Positionen teile, gelang es ihm in seinem Abschlußplädoyer durchaus profiliert, die Argumentation der europäischen Staaten deutlich zu machen. Die nachgewiesenen Menschenrechtsverletzungen in den verschiedenen Bereichen der europäischen Asylpolitik bezeichnete er als Einzelfälle. Eine “systematische Verletzung von Menschenrechten” wollte er für seine Mandanten nicht gelten lassen. Die europäischen Staaten würden vielmehr die Verpflichtungen der Genfer Konvention bejahen. Gezielte Zugangsbeschränkungen bezeichnete er aus der Sicht der angeklagten Regierungen als notwendige Maßnahmen, “um politisch Verfolgten weiterhin Schutz gewähren zu können”.
Einundzwanzig Forderungen für eine humane Asylpolitik
Das Urteil wurde schließlich in zwei Nachtschichten fertiggestellt und am 12. Dezember 1994 im Schöneberger Rathaus verkündet. Es beschränkt sich nicht darauf, die europäischen Staaten für die Verletzung der Rechte der Flüchtlinge zu verurteilen, sondern macht die Regierungen auch für die Rechtsverletzungen durch nachgeordnete Behörden und Vollzugsorgane verantwortlich. Für die aus solchen Rechtsverletzungen entstandenen Schäden wird den Asylsuchenden und Flüchtlingen im Urteil ein Anspruch auf Entschädigung zuerkannt. Die 21 Forderungen für eine humane Asylpolitik reichen, so Wallraff, von ganz praktischen Forderungen bis hin zu utopischen Fernzielen. Beides ist für die österreichische Publizistin Freda Meissner-Blau von Bedeutung. Eine Beschränkung auf tagespolitische Nahziele lehnte sie in der abschließenden Pressekonferenz ab. “Die Utopie von heute” sagte sie, “wird hoffentlich die Realität von morgen sein”.
Johannes Zerger
Vorschläge und Forderungen des Basso-Tribunals zum Asylrecht in Europa
Vorbemerkung: Euphemistische Begriffe wie “Harmonisierung” sollen darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei der Asylpolitik der europäischen Staaten in Wirklichkeit um eine Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik handelt. Diese sogenannte “Harmonisierung” des Asylrechts auf europäischer Ebene führt zu einer Vereinheitlichung auf niedrigstem Niveau, d.h. die Gesetze des Landes, das am wenigsten Menschen aufnimmt und die strengsten Bestimmungen hat, werden Maßstab für die anderen. So verwandelt sich das Prinzip des “Schutzes für Flüchtlinge”, dem sich die demokratischen und reichen Staaten Europas verpflichtet haben, in das Prinzip des “Schutzes vor Flüchtlingen”. Begründet wird diese Politik der Abschreckung mit steigenden Flüchtlingszahlen. Verschwiegen wird, daß Europa nur einen Bruchteil der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, aufnimmt: nur ca. 5 Prozent von ca. 15-20 Millionen. Diese Flüchtlinge machen hier kaum das Elend sichtbar, das von den reichen Staaten in Vergangenheit (Kolonialismus, Zerstörung gewachsener Strukturen) und Gegenwart (Imperialismus, Unterstützung von Diktaturen) mitverursacht wurde. Der größte Teil der Flüchtlinge findet in den Nachbarstaaten ihrer Heimat Aufnahme, in Ländern, die nicht einmal die Ernährung ihrer eigenen Bevölkerung sicherstellen können. (Im Sudan etwa, einem der ärmsten Länder der Erde, haben über 2 Millionen Menschen Zuflucht gefunden.) Die Abkapselung Europas löst das Problem der weltweiten Fluchtbewegung nicht. Generelles Umdenken ist erforderlich. Statt die “Festung Europa” immer weiter auszubauen, müssen die wohlhabenden Staaten lernen, zu teilen, zu entschulden und sich damit auch zu entschuldigen.
Um den im Urteil festgestellten Rechtsverletzungen abzuhelfen und die Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen umfassend zu schützen, erhebt das Tribunal folgende Forderungen:
1. Fluchtursachen müssen ernsthaft bekämpft werden: Unabdingbar ist eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, die die internationale soziale Ungleichheit überwindet. Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Regimen, die Menschenrechte verletzen, dürfen deren Regierungen nicht unterstützen; insbesondere dürfen an solche Staaten wie den Iran, Irak oder die Türkei keine Waffen geliefert werden.
2. Die Bedingungen, Regelungen und Verfahren, welche von den Staaten Europas zur Erteilung des Asylrechts erlassen werden, müssen zur strikten Einhaltung internationaler Abkommen wie der Genfer Konvention und aller anderen internationalen Instrumente zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichten. Dasselbe gilt für Regelungen und Verfahren im Rahmen der Europäischen Union und der EFTA.
3. Der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention ist den (welt)politischen Entwicklungen anzupassen und muß ausgeweitet werden. Geschlechtsspezifische Fluchtgründe, Verfolgung wegen sexueller Orientierung müssen als Asylgründe gelten. Flucht vor nicht-staatlicher Verfolgung sowie aufgrund von Krieg und Bürgerkrieg müssen das Recht auf Asyl begründen. Flucht aufgrund von Armut, welche die in der Allgemeinen Erklärung zu den Menschenrechten festgeschriebenen Mindeststandards eines menschenwürdigen Lebens verletzt, muß als Asylgrund anerkannt werden.
4. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.
5. Die Länder Europas werden aufgefordert, Flüchtlinge und Asylsuchende vom Visumzwang zu befreien.
6. Beförderungsgesellschaften dürfen nicht mit Sanktionen bedroht werden, wenn sie Flüchtlinge ohne Visum transportieren.
7. Die sogenannte “Drittstaatenregelung” muß aufgehoben werden, um die “Kettenabschiebungen” zu beenden.
8. Jeder Staat hat für sorgfältige und faire Asylverfahren zu sorgen, mit dem Recht des Asylsuchenden auf Einspruch (Berufung), Überprüfung durch unabhängige Gerichte und der Garantie des vollständigen Rechtsschutzes. Die Asylsuchenden müssen ausreichend Zeit und Gelegenheit haben, ihre Einsprüche einzulegen. Diese müssen aufschiebende Wirkung haben.
9. Auch bei als “offensichtlich unbegründet” eingestuften Asylgesuchen müssen die Asylsuchenden ein Recht auf Einreise und einen Zugang zum Asylverfahren haben; wie vom Exekutivkomitee des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) empfohlen, dürfen lediglich die Rechtsmittelverfahren beschleunigt durchgeführt werden. Asylgesuche, die als “offensichtlich begründet” einzustufen sind, müssen in einem verkürzten Verfahren zur Asylgewährung führen.
10. Es ist zu gewährleisten, daß Asylsuchende über ihre Rechte in einer für sie verständlichen Sprache und Form unterrichtet werden. Es müssen ihnen Hilfsorganisationen genannt und Rechtsanwälte und Dolmetscher ihres Vertrauens zur Verfügung gestellt werden.
11. Asylverfahren müssen die besondere Situation von Frauen berücksichtigen und sicherstellen, daß Frauen ausschließlich von Frauen befragt werden.
12. Kein Staat darf Asylsuchende in Lagern festhalten. Ferner dürfen Asylsuchende nur in Fällen krimineller Vergehen inhaftiert werden. Minderjährige sind grundsätzlich nicht in Haft oder haftähnlichen Bedingungen festzuhalten. Insbesondere sind ‘exterritoriale Räume’ an den Ankunftsorten der Flüchtlinge und Asylsuchenden abzuschaffen.
13. Asylsuchende dürfen während des laufenden Asylverfahrens nicht abgeschoben werden. Es muß ihnen ein vorläufiges Aufenthaltsrecht für die Dauer des Verfahrens gewährt werden.
14. Ist ein Asylverfahren innerhalb eines Jahres nicht abgeschlossen, erhält der Asylsuchende aus humanitären Gründen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht.
15. Zentralregierungen haben den Regionalbehörden und Gemeindeverwaltungen die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um menschengerechte Wohnverhältnisse, Gesundheitsversorgung sowie Sprachkurse für Asylsuchende und Flüchtlinge zu ermöglichen.
16. Das Menschenrecht auf Familienleben und das Übereinkommen über die Rechte von Kindern (insbesondere das Recht auf den Besuch von Schulen und Kindergärten) müssen zu jeder Zeit gewahrt werden. Während des Asylverfahrens ist das Recht auf Arbeit und Freizügigkeit sicherzustellen.
17. Die Anerkennung als Flüchtling muß automatisch das Wohn- und Arbeitsrecht im Gastland einschließen.
18. Asylsuchende, deren Anträge abgelehnt werden und die seit Jahren in der Illegalität leben und Opfer moderner Formen von Sklavenarbeit wurden, sind durch eine Amnestie zu legalisieren.
19. Die erkennungsdienstliche Behandlung von Flüchtlingen darf nicht vorgenommen werden.
20. Der Datenschutz ist sicherzustellen; insbesondere darf es keinen Datenaustausch mit Verfolgerstaaten geben.
21. Eine Gesamtreform des europäischen Asyl- und Ausländerrechts im Sinne einer Rückbesinnung auf die völkerrechtlichen und humanitären Verpflichtungen Europas, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit, die uneingeschränkt auch für Flüchtlinge, Asylsuchende und Zuwanderer Gültigkeit haben müssen, ist überfällig.
Das Urteil des Basso-Tribunals kann bestellt werden bei: BASSO-Tribunal, c/o AStA TU Berlin, Marchstr. 6 10587 Berlin, tel.: 030/314-24437.
Eine ausführliche Dokumentation des Tribunals mit allen Redebeiträgen, dem Urteil und einem Überblick über das europäische Asylrecht wird derzeit erstellt. Die Publikation ist voraussichtlich ab April 1995 erhältlich bei: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V., Inlandreferat, Auguststr. 80, 10117 Berlin, Tel.: 030/2886-203.