Nummer 361/362 - Juli/August 2004 | Öffentliche Güter

Bildung in einer Zweiklassengesellschaft

In Nicaragua ist der Schulbesuch oft eine Frage des Einkommens

Eines der wichtigsten Ziele der sandinistischen Regierung nach der Revolution war es, allen NicaraguanerInnen Zugang zu Bildung zu verschaffen. Alle Menschen sollten zur Schule gehen können – unabhängig von Herkunft und Einkommen. Heute, 25 Jahre später, ist dieses Ziel in weite Ferne gerückt. Bürgerkrieg, neoliberale Politiken der konservativen Folgeregierungen und wirtschaftliche Auflagen internationaler Organisationen verhinderten einen Ausbau des Bildungssystems. Wer heute zur Schule gehen will, muss dafür bezahlen.

Anna Schulte

Am 23. April 1980 begann in Nicaragua der „Kreuzzug gegen den Analphabetismus“. 100.000 brigadistas zogen für fünf Monate in die Armenviertel und ländlichen Regionen des Landes, um dort gemeinsam mit der Bevölkerung Programme zur Alphabetisierung und zur Verbesserung der Lebensverhältnisse zu entwickeln. Zwischen April und August 1980 sank die AnalphabetInnenrate von 51 Prozent auf knapp 13 Prozent. Bildung war von Beginn an ein zentraler Bestandteil des sandinistischen Regierungsprogrammes. Auch in der 1987 erlassenen und 1995 reformierten Verfassung Nicaraguas ist Bildung als „elementare Aufgabe“ des Staates festgeschrieben, die es zu verbessern und auszuweiten gilt. Doch schaut man sich die aktuelle Situation an, wird sehr schnell klar, dass in der Praxis Bildung längst nicht allen Menschen Nicaraguas zugänglich ist. Vielmehr teilt das System das Land in wenige, die sich Bildung finanziell leisten können und viele, die dies nicht oder nur in geringem Maße können. Der Großteil der Bevölkerung besucht gerade einmal die Grundschule (Primaria) und das meist auch nur für wenige Jahre. Von 100 SchulanfängerInnen schließen nicht einmal 29 die Primaria nach sechs Jahren erfolgreich ab. Davon gehen 23 im Anschluss daran noch auf eine weiterführende Schule (Secundaria). Die Zahlen zeigen, dass der Zugang zur Grundschule extrem wichtig ist. Jede Änderung daran hat unmittelbare Auswirkungen auf den Bildungsstand des Großteils der Bevölkerung.
Das nicaraguanische Menschenrechtszentrum CENIDH (siehe auch Interview mit Vilma Nuñez in diesem Heft) geht davon aus, dass zum heutigen Zeitpunkt ungefähr 600.000 Kinder keine Schule mehr besuchen. Damit hat jedes vierte nicaraguanische Kind keinen Zugang mehr zur Primarbildung. In manchen Fällen liegt dies daran, dass es in bestimmten Landkreisen keine Schule mehr gibt oder noch nie gab. Meistens jedoch ist der Grund, dass sich die Eltern die Schulgebühren nicht leisten können oder die Kinder zum Lebensunterhalt der Familie beitragen müssen.
Doch selbst die Kinder, deren Familien das Schulgeld aufbringen können, lernen an staatlichen Schulen vielerorts unter äußerst schlechten Bedingungen. Laut Angaben der LehrerInnengewerkschaft ANDEN (Asociación Nacional de Educadores de Nicaragua) gibt es an 3.000 Schulen Nicaraguas weder Strom noch Wasser. Die Instandhaltung der Infrastruktur kommt fast überall zu kurz und die Klassengrößen liegen bei fünfzig, mancherorts bei bis zu siebzig SchülerInnen pro Klasse.

Wenig Geld für Bildung
Begibt man sich auf die Suche nach den Gründen für die momentane Situation im nicaraguanischen Bildungssektor, stellt man fest, dass es bereits während der zehnjährigen sandinistischen Regierungszeit nicht geschafft wurde, allen Menschen im Land Zugang zu Bildung zu verschaffen. Ein Großteil des ohnehin geringen Staatshaushaltes wurde bereits wenige Jahre nach dem Sturz der Diktatur wieder dafür ausgegeben, Kriegshandlungen zu finanzieren. Der Bürgerkrieg gegen die „Contras“ kostete nicht nur viele Menschenleben, er verhinderte gleichzeitig einen weiteren Aufbau des Landes – auch im Bildungsbereich. Laut einer Studie der Weltbank gab er nicaraguanische Staat 1989 knapp 10 Pozent des Gesamthaushaltes für Bildung aus, während ganze 41 Prozent in den Verteidigungsapparat flossen. Der von den USA ausgeübte Druck auf die sandinistische Regierung erschwerte es dieser somit, ihre Ziele in der Bildungspolitik wirklich umzusetzen.
Doch auch nach Beendigung des Bürgerkrieges verbesserte sich die Bildungssituation des Landes nicht. Nach der Wahlniederlage der SandinistInnen begannen die konservativ-liberalen Regierungen mit der Umsetzung ihrer neoliberalen Politiken. Bereits Mitte der 90er Jahre ließ sich beobachten, wie sich der nicaraguanische Staat schrittweise aus der Finanzierung des Bildungssektors zurückzog. In Absprache mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank begann die neugewählte Regierung unter Violeta Chamorro 1993 mit dem Projekt „Schulische Autonomie“. Hinter dem progressiv klingenden Begriff verbarg sich eine zunehmende Abwälzung der Kosten für Bildung auf die einzelnen Einrichtungen – und damit auf die Eltern und SchülerInnen. Staatliche Mittel wurden reduziert und die Schulen mussten plötzlich die notwendigen Mittel für Ausstattung und andere Kosten selber organisieren. Das führte dazu, dass Schulgebühren erhoben wurden. In einer Gesellschaft, in der ein bedeutender Teil der Bevölkerung mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen muss, sind die Folgen leicht zu erahnen.

Unterbezahlte maestros
Ein weiterer Bestandteil der von IWF und Weltbank mit vorangetriebenen Reformen des Bildungssystems war das Projekt zur Förderung der grundlegenden Schulbildung (APRENDE). Kernstücke dessen sind bis heute die Förderung und der Ausbau von kommunalen Vorschulen, mit dem Ziel, die staatlichen Vorschulen zu substituieren. Die kommunalen Einrichtungen unterscheiden sich von den staatlichen vor allem durch Einsparungen bei Gehältern und Infrastruktur. Die so genannten maestros voluntarios an kommunalen Vorschulen, zumeist Familienangehörige der Kinder, benötigen für eine Lehrerlaubnis lediglich den Grundschul-Abschluss. Ihr Gehalt liegt gerade einmal bei einem Drittel des normalen Einkommens eines Lehrers und macht damit ungefähr 0,70 US-Dollar pro Tag aus. Das sandinistische Konzept der „Freiwilligkeit“ wirkt hier verkehrt in ein reaktionäres Modell der neoliberal agierenden Regierung, das dazu dient, Kosten zu sparen.
Dabei kam es besonders bezüglich der LehrerInnengehälter in den vergangenen Jahren immer wieder zu Protesten. Momentan liegt das Gehalt für GrundschullehrerInnen gerade einmal bei 53 US-Dollar pro Monat, an einer weiterführenden Schule bei 64 US-Dollar. Um eine Familie zu ernähren benötigt man in Nicaragua heutzutage jedoch monatlich ungefähr 200 US-Dollar. Viele LehrerInnen sind deshalb gezwungen, Doppelschichten zu unterrichten oder anderen Nebentätigkeiten nachzugehen, worunter letztendlich die Unterrichtsqualität leidet. Anfang 2003 hatte die Regierung Bolaños den LehrerInnen 25 Prozent Gehaltserhöhung versprochen und die zusätzliche Einstellung von 1.000 LeherInnen zugesagt. Diese Versprechen wurden nicht eingehalten – unter anderem weil der IWF sich dagegen aussprach. LehrerInnendemonstrationen und die Drohung der Gewerkschaft ANDEN, landesweit zu streiken und das Schuljahr 2004 auszusetzen, veranlassten die Regierung erst kürzlich dazu, die versprochene Lohnerhöhung von 14 US-Dollar pro Monat erneut zuzusagen. Diese soll nun rückwirkend ab April ausgezahlt werden.

Bildung als öffentlich-privates Gut
Doch selbst die überfälligen Lohnerhöhungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Situation des Bildungssektors in Nicaragua heute in erster Linie geprägt ist von neoliberalen Politiken. Der Zugang zu Bildung wird an wirtschaftliche Faktoren gekoppelt, was ihn zu einer Zweiklassenangelegenheit werden lässt.
Während die AnalphabetInnenrate in Nicaragua landesweit bei über 19 Prozent liegt, können innerhalb der ärmsten Bevölkerungsschichten sogar mehr als 41 Prozent der über Zehnjährigen weder lesen noch schreiben.
José Antonio Zepeda von der nicaraguanischen LehrerInnengewerkschaft ANDEN spricht in diesem Zusammenhang von zwei Arten öffentlicher Güter: „öffentlich-private“ und „öffentlich-staatliche“.
Die ersten unterscheiden sich laut ihm von den zweiten insofern, als dass man in einem öffentlich-privaten Bildungsmodell für die Teilnahme an der grundsätzlich für alle zugänglichen Wissensvermittlung bezahlen muss. In einem öffentlich-staatlichen System hingegen trägt der Staat alle Kosten. Folgt man dieser Definition, so muss Bildung in Nicaragua heute wohl klar als ein öffentlich-privates Gut gesehen werden.
Und so sind heute auch bereits 13 Prozent aller Vorschulen, 17 Prozent aller Grundschulen und gar 54 Prozent aller weiterführenden Schulen in Nicaragua nicht mehr staatlich sondern privat. In den allermeisten Fällen sind sie damit kostenpflichtig – und das in einem Maße, das die an staatlichen Schulen erhobenen Schulgebühren weit übersteigt.
Und obwohl die Mehrzahl der nicaraguanischen StudentInnen noch an einer der vier staatlichen Universitäten studiert, gibt es neben diesen immerhin 29 Privatuniversitäten im Land. Private Bildungsträger haben sich vor allem in den Einrichtungen etabliert, die hauptsächlich von Kindern gehobener Schichten besucht werden.
Zugang zu Bildung ist in Nicaragua vor allem eine soziale Frage: Während ein Kind aus den reichsten 10 Prozent der Bevölkerung durchschnittlich neun Jahre eine Bildungseinrichtung besucht, geht ein Kind aus den ärmsten 30 Prozent der Bevölkerung nur knapp drei Jahre zur Schule.
Um heutzutage das einstige Ziel der SandinistInnen zu erreichen und allen Menschen im Land Zugang zu einem funktionierenden Bildungssystem zu ermöglichen, müsste zuallererst die soziale Situation der Bevölkerung verbessert werden. Mit den jetzigen Reformen hat man eher das Gegenteil bewirkt.

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