Haiti | Nummer 439 - Januar 2011

Bittere Pille für Sweet Micky

Streit und Unruhen rund um ein zweifelhaftes Wahlergebnis

Haiti ist weiter auf der Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin für Präsident René Préval. Die erste Wahlrunde am 28. November in dem krisengeplagten Karibikstaat endete unter dubiosen Umständen mit einem dubiosen Ergebnis. Eine Neuauszählung soll Klarheit bringen, welche KandidatInnen bei der Stichwahl am 16. Januar aufeinandertreffen. Im Rennen sind noch drei Personen: Mirlande Manigat, Jude Célestin und der populäre Sänger Michel Martelly.

Hans-Ulrich Dillmann

Haiti ist weiter auf der Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin für Präsident René Préval. Die erste Wahlrunde am 28. November in dem krisengeplagten Karibikstaat endete unter dubiosen Umständen mit einem dubiosen Ergebnis. Eine Neuauszählung soll Klarheit bringen, welche KandidatInnen bei der Stichwahl am 16. Januar aufeinandertreffen. Im Rennen sind noch drei Personen: Mirlande Manigat, Jude Célestin und der populäre Sänger Michel Martelly.

Das Feld in Haitis Präsidentschaftsrennen hat sich gelichtet, doch von Klarheit kann keine Rede sein. 19 BewerberInnen waren angetreten, um im ersten Wahlgang als Minimalziel zwei KandidatInnen für die Stichwahl zu bestimmen. Nach der Abstimmung am 28. November warfen fast alle KandidatInnen Präsident René Préval und der Wahlbehörde Betrug vor und erklärten, der Amtsinhaber wolle die Abstimmung zugunsten Jude Célestins beeinflussen. Der 48-Jährige ist der Schwiegersohn Prévals, der ursprünglich dafür plädiert hatte, seine eigene Amtszeit zu verlängern, und nur auf internationalen Druck bereit war, seinen Thron zu räumen.
Die 70-jährige Mirlande Manigat, die als aussichtsreichste Amtsbewerberin galt, führt die Schar der Kritiker an. Die Manipulationen seien das Werk der Regierungspartei, so ihr Vorwurf. An ihrer Seite saßen der ehemalige Ministerpräsident Jacques Edouard Alexis, der Musiker „Sweet Micky“ Michel Martelly und der Unternehmer Charles Henry Baker, die bei der Kür des Präsidenten noch ein Wort mitzureden hofften, wie auch weniger aussichtsreiche Kandidaten wie Jean Henry Ceant, Wilson Jeudy und Leslie Voltaire. In einer gemeinsamen Erklärung riefen sie die „Männer und Frauen Haitis zu friedlichen Protesten gegen die Regierung Préval“ auf.
Nach der ungewöhnlichen Deklaration kam es im ganzen Land zu massenhaften Protesten gegen die Wahlen und gegen Amtsinhaber René Préval sowie seinen Kandidaten Jude Célestin. In der nördlich der Hauptstadt Port-au-Prince gelegenen Kleinstadt Petión Ville versammelten sich Tausende und zogen vor den Sitz des Provisorischen Wahlrats (CEP), um Neuwahlen und die Absetzung der Verantwortlichen und des Präsidenten zu fordern. Auch im Norden des Landes, in Cap Haïtien und Port de Paix, sowie in den südlichen Hafenstädten Jacmel und Jérémie kam es zu Großdemonstrationen gegen den Wahlrat und die amtierende Regierung.
Bereits die Eröffnung der Wahllokale im ganzen Land war von Schwierigkeiten überschattet gewesen, die nach den Ankündigungen des Provisorischen Wahlrats und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) nicht hätten vorkommen dürfen. In einigen Abstimmungszentren gab es kein Licht, HelferInnen versuchten im Schein von Mobiltelefonen und Kerzen, die Wahlkabinen aufzubauen. In anderen Wahllokalen waren die Unterlagen über die Stimmberechtigten verschwunden, so dass sich WählerInnen vergeblich anstellten.
Im Armenviertel Cité Soleil der Hauptstadt Port-au-Prince sollen nach einem Bericht der spanischen Nachrichtenagentur efe Gruppen von zehn bis zwölf Personen von einem Wahllokal zum anderen gezogen sein, um Stimmzettel in die Urnen zu werfen. Die WahlhelferInnen hätten darauf nicht reagiert, berichtet efe unter Berufung auf AugenzeugInnen.
In der Erdbebenregion sollen „tote Seelen“ nicht nur auf den Wahllisten gestanden haben. Nach Berichten haitianischer Radiostationen sollen Ausweise von Toten auch zur Stimmabgabe benutzt worden sein. In St. Marc, rund 80 Kilometer nördlich von Port-au-Prince, stürmten nach einer Meldung von Radio Metropole aufgebrachte AnhängerInnen der rechtskonservativen Präsidentschaftskandidatin Mirlande Manigat aus Protest das Wahllokal und vernichteten die Urnen. Anwesende UN-Blauhelmsoldaten griffen nicht ein.
Unbeeindruckt von den Vorwürfen teilte der Präsident des provisorischen Wahlrats mit, dass es keine Manipulationen gegeben habe. Die Wahl sei erfolgreich abgeschlossen worden, betonte Gaillot Dorsainvil nach Schließung der Wahllokale. Lediglich in 56 von 1500 Wahlzentren sei es zu Unregelmäßigkeiten gekommen, die jedoch die „Glaubwürdigkeit der Wahl“ nicht in Frage stellten. Die Abstimmung dort werde wiederholt.
Die Vereinten Nationen äußerten derweil ihre „tiefe Besorgnis angesichts der zahlreichen Vorkommnisse, die die Wahl beschädigt haben“. Die bewaffnete UN-Mission in Haiti, MINUSTAH, rief die Bevölkerung zur Ruhe auf und warnte vor „dramatischen Konsequenzen“, sollte sich die Sicherheitslage verschlechtern.
Den vorläufigen Wahlergebnissen zufolge fiel die Wahlbeteiligung niedrig aus. Von den rund 4,7 Millionen registrierten WählerInnen gab nur eine Million eine gültige Stimme ab. Wie viele abgegebene Stimmen wegen Betrugsverdacht nicht gezählt wurden, war nicht bekannt. UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon sagte, die Probleme mit der Wahl seien größer als erwartet gewesen. Die Friedensmission der Organisation Amerikanischer Staaten – Karibische Gemeinschaft (OAS-Caricom) erklärte aber, die Probleme machten die Wahl nicht ungültig.
Die Wahlkommission verkündete erst abends am 7. Dezember ihr Ergebnis. Laut ihren Angaben hat Mirlande Manigat, die Frau des ehemaligen Präsidenten Leslie Manigat, den ersten Wahldurchgang mit 31,37 Prozent der Stimmen gewonnen und sollte sich in der Stichwahl dem zweitplatzierten Jude Célestin (22,48 Prozent) stellen. Martelly landete mit 21,89 Prozent knapp hinter dem Zögling von Präsident Préval, was das Fass bei seinen AnhängerInnen zum Überlaufen brachte. Zumal die inoffiziellen Hochrechnungen, die vorher die Runde machten, Martelly klar mit rund 39 Prozent auf Platz eins sahen. Der als „Sweet Micky“ bekannte Sänger hatte erklärt, er werde nicht in einer Stichwahl mit Célestin antreten. Doch dazu könnte es kommen, sollte die Wahlkommission dem Vorschlag der OAS-Caricom folgen, bei fast gleichem Stand drei Kandidaten zur Stichwahl zuzulassen.
Überall wurden Wahlplakate des Préval-Kandidaten Célestin von der wütenden Menschenmenge niedergerissen und verbrannt. Läden wurden geplündert. Weder die haitianische Polizei noch die UN-Truppen zeigten sich in der Lage, die Menge zu stoppen. In der Stadt Les Cayes starben nach Angaben des Senders Signal FM zwei Menschen. Auch aus Cap Haïtien wurde am 8. Dezember der Tod eines Menschen gemeldet.
Inzwischen hat die Wahlkommission des Landes eine Überprüfung des Abstimmungsergebnisses angekündigt und am 10. Dezember auf den Weg gebracht, deren Ergebnis bei Redaktionsschluss noch nicht vorlag. Neben nationalen und ausländischen BeobachterInnen sollen die drei betroffenen KandidatInnen – Mirlande Manigat, Jude Célestin und Michel Martelly – dabei anwesend sein. Die drei begrüßten die Entscheidung. Damit würden Zweifel an dem Ergebnis ausgeräumt, hieß es. Ob die Wahlen dadurch bei der Bevölkerung noch Legitimität gewinnen können, ist fraglich. Stabilität bleibt in Haiti bis auf Weiteres ein Fremdwort. Zumal die Gerüchte, dass die Cholera durch nepalesische UN-Soldaten eingeschleppt wurde (siehe LN 438), nun wissenschaftlich belegt wurden: Das ergab eine Genomanalyse, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren