Literatur | Nummer 439 - Januar 2011

Buenos Aires unterm Wüstensand

Die literarischen Schätze der argentinischen Erzählerin Angélica Gorodischer lassen sich schon erahnen

Angélica Gorodischer, geboren 1928, gehört in Argentinien zum literarischen Establishment. Ins Deutsche wurde bisher nur der längst vergriffene Roman Eine Vase aus Alabaster (Orlanda Frauenverlag 1992) übersetzt. Neben der Erzählung „Die römischen Katzen” (in der Anthologie Die Nacht des Kometen, Edition 8, Zürich 2010; vgl. LN 435/36) liegt nun ein interessanter Sammelband vor, der aber einige Wünsche offen lässt.

Valentin Schönherr

„Der Ruhm in der Literatur ist männlich. Es gibt so viele Autorinnen, die viel besser schreiben als Vargas Llosa, und trotzdem werden sie von niemandem anerkannt – berühmt ist Vargas Llosa.” Es war 2008, als die damals 80-jährige argentinische Schriftstellerin Angélica Gorodischer in einem Interview so bitter Bilanz zog. Im deutschen Sprachraum ist sie weder berühmt noch bekannt, anders als im englischen, wo 2003 die Übersetzung ihres zweibändigen Science-Fiction-Romans Kalpa Imperial ein größeres Publikum fand. In Argentinien gehört sie zwar mit Liliana Heker zu den bekanntesten Autorinnen, die während der „Boom-Generation” der 1960er und 70er Jahre zu veröffentlichen begannen. Aber der große Ruhm vom Boom war männlich und zog an ihnen vorbei. Gorodischer hat mittlerweile gut zwanzig Romane und Erzählbände veröffentlicht, hat sich als Herausgeberin und Essayistin betätigt, hat Schriftstellerinnen-Kongresse organisiert.
Der Erzählungsband Im Schatten des Jaguars enthält Texte aus ganz verschiedenen Schaffensphasen. Er beginnt 1967 und reicht mit „Grab der Jaguare” – ein Romanauszug, keine Erzählung – bis ins Jahr 2005. Der Vorteil einer solchen Zusammenstellung, die Vielseitigkeit, wird hier genauso deutlich wie ihr Nachteil. Denn wie die Herausgeberin Rike Bolte im Nachwort bemerkt, lassen sich die meisten von Gorodischers Büchern als Erzählbände und zugleich als Romane lesen. Dieser Effekt geht so selbstverständlich verloren.
Angélica Gorodischer hat ihre Texte häufig in weit entfernten Zeiten angesiedelt. Sie liebt es, das Publikum eine Weile hinzuhalten, indem zunächst einmal alles ganz normal aussieht und erst nach einiger Zeit irritierend etwas Fremdes sichtbar wird. Im Eingangstext etwa ist ein archäologisches Forschungsteam in der Wüste unterwegs und rätselt über eine Stadt, deren Überreste abrupt aufhören, erstaunlich weit vom nächsten Fluss entfernt. Bis ein Obelisk auftaucht: Man gräbt gerade auf der riesigen Avenida 9 de Julio, als sich auf dem Obelisk Schriftzeichen finden und man Buenos Aires entziffern kann, „was soviel bedeutet wie gute Luft”, ruft dies Gelächter hervor: „Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, dass es in diesem Glutofen einmal gute Luft gegeben hat.” … „Vergessen Sie nicht, dass das hier nicht immer eine Wüste war”, sagt eine Ausgräberin – und trifft damit den Kern dessen, worauf Angélica Gorodischer mit den verschobenen Zeit- (und auch Raum-) Szenarien hinauswill. Immer geht es ihr um die Gegenwart, um das eigene Umfeld und die möglichen oder tatsächlichen Katastrophen ihrer, unserer Welt.
So auch in den kurzen Erzählungen, die dem Band Menta (2000) entnommen sind. In „Schwarzer Kaviar” ist ein Paar auf der Flucht vor dem Weltuntergang. Es ist drei Uhr nachmittags, aber stockfinster, und die Welt erkaltet. Wie hier auf knappstem Raum eine glaubwürdige Erzählatmosphäre von Ausweglosigkeit erzeugt wird – das ist schon virtuos, ebenso wie die Variation auf den Undine-Mythos in „Die Natur ist eine grausame Mutter”. Hier ist nicht das seelenlose Fischmädchen rätselhaft, das die Männer mit sich in die nassen Tiefen herabzieht, sondern der begriffsstutzige Mann, der nach dem Sex einschläft und sich von der anspruchsvollen Nixe wegschleifen lässt.
Nicht alle Texte von Angélica Gorodischer sind leicht zugänglich. Die passionierte Leserin – „schreiben lernt man, indem man liest”, sagte sie einmal – hatte eine ihrer Vorlieben ganz offenbar bei dem französischen Lyriker Saint-John Perse gefunden. Dieser schrieb eine surrealistische Poesie, die das unmittelbare Verstehen bewusst vermeiden will, die mit scheinbar widersprüchlichen oder zusammenhanglosen Worten operiert und auf eine tiefere, unbewusste Wirkung der Texte baut. Die längste Erzählung im vorliegenden Band, „Die Embryonen des violetten Lichts” (1973), folgt dieser Erzählweise. Dass die Handlung zugleich noch von einer Raumschiffbesatzung und verschiedenen Welten handelt, die in dem Assoziationsreigen nur schwer auseinanderzuhalten sind, macht die Lektüre stellenweise zu einer Tortur.
Damit ein solcher Text seine Wirkung überhaupt entfalten kann, muss er exzellent übersetzt sein, und das ist er leider nicht. Zu stark wird ausgerechnet in dieser Erzählung – die meisten anderen sind besser – in die Textstruktur eingegriffen. Es werden Kürzestsätze, die im Original hart aufeinanderprallen, durch „und”-Strukturen gefällig zusammengenommen, es werden Interpretationen eingebaut, die es eigentlich nicht gibt. Und es tauchen sinnentstellende Übersetzungsfehler auf. So erklingt hier eine „Sonate Nr. 17 in H-Dur” und ist im nächsten Satz von einem Theophilus die Rede. Theophilus ist einer der vielen Vornamen Mozarts – und dessen Klaviersonate Nr. 17 steht in B-Dur, wie „Si Bemol Mayor” richtig übersetzt werden müsste. Theophilus „setzt erneut zum Angriff an, unterdessen Saverius sein Plädoyer beendet und sich eine brillante Antwort zurechtgelegt hatte”. Im Original ist es eindeutig Theophilus, der sich die Antwort zurechtlegt, und nur so hat es Sinn.
Auch die Erzählung „Schwarzer Kaviar” wird beschädigt. Wo das vor dem Weltuntergang flüchtende Paar durch die Dunkelheit hastet, steht im Original ein eiliges: „-Qué hora es -dijo ella.” Die deutsche Version lautet: „‚Wie spät ist es?‘, fragte sie”, und das klingt viel gelassener, konzentrierter.
Das größte Problem dieses Buches ist aber sein Nachwort. Es hätte für diese bisweilen schwierige Autorin einen vermittelnden Text gebraucht, der die Schwelle überschreiten hilft. Rike Boltes Nachwort hingegen ist derartig mit Fremdwörtern und verschwurbelten Wendungen überladen, dass der Wissensdurst schon sehr groß sein muss, um die zwanzig Seiten durchzustehen. Sätze wie dieser geben jedenfalls zu denken: „Angélica Gorodischer betreibt zwar keine literarische Weltflucht, sondern bestätigt die Welt in ihrer Prekarität; sie tut dies jedoch, indem sie sie mit minimalen phantastischen Einsprengseln lakonisch zitiert – und dabei stets zwischen dem dystopischen und dem positiv utopischen Gegenentwurf oszilliert.“
Trotz allem – das Buch ist wichtig. Die literarischen Qualitäten Angélica Gorodischers zeichnen sich viel zu deutlich ab, als dass man darauf verzichten sollte. Der erst 2010 gegründete Golkonda Verlag und die Potsdamer Übersetzungsgruppe sind ein Wagnis eingegangen, dem ein Erfolg nur zu wünschen ist.

Angélica Gorodischer // Im Schatten des Jaguars // Nachwort von der Herausgeberin Rike Bolte // Golkonda Verlag // Berlin 2010 // 183 Seiten // 16,90 Euro


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