Grenzen | Nummer 481/482 - Juli/August 2014

„Building bridges“

Wie Chicana-Künstlerinnen und -Aktivistinnen (Über-)Lebensstrategien in Zwischenräumen entwickeln

Migrationsbewegungen und wirtschaftliche sowie kulturelle Verflechtungsprozesse prägen das Leben in Grenzräumen (borderlands) zwischen Mexiko und den USA. Chicanas entwickeln Fähigkeiten und Strategien, Grenzen und soziale Konstrukte zu überwinden. Sie befassen sich mit Zugehörigkeiten und Identitäten, vermischen historische, kulturelle, künstlerische und spirituelle Elemente und erschaffen einen neuen Stil, der für ihr Leben in borderlands charakteristisch ist.

Lucia Rosati

Felicia (Fe) Montes zupft ihr rot-blau-grün geblümtes Kleid zurecht und bindet sich das dazu passende Band um den Kopf: „Das ist ein traditionelles Kleid meiner Tarahumara- oder Rarámuri-Vorfahren. Meine Familie stammt aus Chihuahua, Mexiko.“ Es ist der 1. Mai 2011, Felicia befindet sich an der Ecke der beiden Straßen Broadway und Olympic, im Latino-Viertel der Stadt, East Los Angeles, und erklärt die Kunstfigur, die sie kreiert hat: „Das ist Raramujer, das leite ich von der Selbstbezeichnung meiner Vorfahren, den Rarámuri, ab. Außerdem ist das ein Wortspiel: Rara bedeutet auf Spanisch komisch oder eigenartig und mujer bedeutet Frau. In meiner Figur verbinde ich indigene Elemente mit modernen urbanen Lebensweisen. Ich erfinde eine selbstbewusste indigen-urbane Frau.“
Freunde helfen Felicias Fahrrad aus ihrem Pickup zu heben – ein „getunter“ schwarzer Cruiser. Am Fahrradkorb ist ein Schild mit dem Spruch „Stoppt die Polizeikontrollen!“ angebracht. Ein hilfsbereiter, Spanisch sprechender Anrainer pumpt noch etwas Luft in die dicken Weißrandreifen. Ein paar Straßen weiter hört man Trommelklänge und Trompeten, Menschen in Trachten und Uniformen eilen vorbei: ein paar Leute in weißer bestickter Huicholes-Kleidung, eine Gruppe von Männern in dunklen Zapatist_innen-Uniformen, eine Tanzgruppe mit aztekischen Gewändern und prächtigem Federschmuck. Felicia steckt ihren iPod an die mobile Musikanlage im Fahrradkorb an und macht einen kurzen Soundcheck – es kann los gehen! Mehrere tausend Menschen demonstrieren jedes Jahr bei der Mayday Parade in Los Angeles für die Rechte von Immigrant_innen und (illegalisierten migrantischen) Arbeiter_innen mit Sprüchen wie: „Lieber Geld für Arbeitsplätze und Bildung als für rassistische Abschiebungen!“
Raramujer begleitet den Demonstrationszug auf ihrem Fahrrad, sie verteilt Menschenrechtskarten und performt ihre Floetry (gerappte Gedichte) und Hip-Hop-Songs: „In meinen Texten geht es um politische Angelegenheiten, meistens um Dinge die uns Chicana-Frauen betreffen, zum Beispiel das kapitalistische System, das Freihandelsabkommen NAFTA, die Immigrationsgesetze hier in den USA, oder die Zapatist_innen-Bewegung in Mexiko. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass das persönliche Wachstum und die Veränderung Hand in Hand mit dem Engagement in politischen Bewegungen gehen.“
Felicia ist Mitbegründerin der Mujeres de Maiz (Maisfrauen), einer Künstlerinnen- und Aktivistinnenvereinigung aus Los Angeles. Die Mitglieder der Gruppe bezeichnen sich selbst als „Chicanas“ und als „Women of Color“. „Chicana-Sein bedeutet in den USA zu leben und ein mexikanisches oder mesoamerikanisches Erbe zu haben. Wir versuchen hier eine Verbindung zu unseren indigenen oder präkolumbianischen Wurzeln aufrechtzuerhalten“, sagt Felicia.
Der Begriff „Chicana“ oder seine männliche Form „Chicano“ war früher eine abwertende Bezeichnung für mexikanische oder allgemein lateinamerikanische Immigrant_innen und Gastarbeiter_innen in den USA. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung der Chican@s der 1960er und 70er Jahre, erfuhr der Terminus eine positive Neubewertung. Der Begriff gewann eine politische Konnotation und galt von da an als Zeichen der Selbstbestimmung und des kulturellen Stolzes. In der Chican@-Bewegung, die sich aus der Landarbeiter_innenbewegung in Kalifornien herausentwickelte, ging es um die Ausweitung der Rechte und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Mexiko-Amerikaner_innen und ihres politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Status. Von Anfang an wurden die Bewegungen, ihre Streiks und Aktionen von Künstler_innen, Wandmaler_innen und Theatergruppen begleitet.
Die Einheit der Bewegung wurde damals vor allem durch eine relativ homogene Identität, ein gemeinsames Bild der Vergangenheit und nationalistische Vorstellungen verstärkt. Die Interessen und Bedürfnisse der weiblichen, homosexuellen und queeren Mitglieder wurden ignoriert. Diese Personengruppe wurde innerhalb der Bewegung nicht als gleichwertig anerkannt. Eine feministische Chicana-Bewegung spaltete sich aufgrund von patriarchalen, machistischen und homophoben Wertvorstellungen, die in der frühen Chican@-Bewegung vorherrschten, davon ab.
Für die Mujeres de Maiz bedeutet der Begriff „Chican@“ vor allem ein gemeinsames Bewusstsein beziehungsweise eine Reihe von geteilten Erfahrungen, die sich durch ähnliche soziokulturelle und historische Kontexte ergeben haben. Damit sind Diskriminierungserfahrungen gemeint, die sie zum Beispiel aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihres Frau-Seins gemacht haben. Kolonialismus-, Imperialismus-, Kriegs-, und Migrationserfahrungen spielen auch eine Rolle. „Wir sind ein sehr offenes Kollektiv; eine kreative Women-of-Color-Vereinigung. Unsere Zielgruppen sind migrantische Communities, Lesben, Schwule und Transgender“, verdeutlicht Felicia Montes.
Ihren Namen Mujeres de Maiz, haben die Künstlerinnen gewählt, weil sie sich mit der Maispflanze verbunden fühlen. In Mesoamerika gilt der Mais als Lebensgrundlage, in der Mythenwelt ist er allgegenwärtig. „Wir wollen eine Austauschplattform für Women of Color schaffen. Die verschiedenen Maissorten – gelb, rot, blau, schwarz, mit spitzen, langen oder runden Körnern – stehen für die Diversität unserer Gruppe“, erklärt die Künstlerin Margaret Alarcón, ebenfalls Mitbegründerin der Aktivistinnenorganisation. Felicia Montes veranschaulicht die Situation vieler ihrer Mitstreiter_innen: „Die meisten Immigrant_innen und vor allem die Frauen unter uns, erleben sexuelle, physische oder verbale Gewalt. Gerade Frauen werden oft nicht ernst genommen, zum Schweigen gebracht, oder in bestimmte Rollenbilder gedrängt. Da kann kein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt werden.“
Laut dem U.S. Census Bureau leben zirka 53 Millionen Menschen hispanischer Herkunft in den USA. Sie bilden somit die größte ethnische Minderheit; die Mehrheit davon machen die Bürger_innen mexikanischer Abstammung aus. Die mexiko-amerikanischen Frauen wiederum stellen die größte und am schnellsten wachsende Gruppe unter den aus Lateinamerika stammenden Menschen in den USA dar. Ihr Bildungsgrad ist meist gering, demzufolge gehören sie zum ärmsten Segment der Bevölkerung.
Ende der 1990er lernten sich die Gründungsmitglieder der Mujeres de Maiz über ihr universitäres Umfeld kennen. „Wir mussten einfach einen Raum für junge Frauen schaffen, einen Raum für Bildung, Selbstbestimmung und Kunst. Sie waren unsichtbar und gerade im Kunstbereich vollkommen unterrepräsentiert“, erklärt Margaret Alarcón, und Felicia Montes führt fort: „Wir sahen nie eine Frau auf der Bühne! Wir wollten einen sicheren Zufluchtsort für Women of Color aufbauen, in dem sie sich selbst und ihre Kunst neu erschaffen können.“
Kunst sehen die Mujeres de Maiz als Mittel zur Überwindung von Diskriminierung und zur Aufarbeitung von negativen Erfahrungen. Sie nutzen die Kunst außerdem zur Vermittlung von Wissen: „Durch unsere Kunst lehren wir Aspekte der Chicana- und der feministischen Theorie, wir sprechen auf verständliche Weise über Sexismus, Rassismus und Homophobie. Wir vermitteln auch Informationen über die eigene Herkunft, Geschichte und Traditionen, sowie über die Gesetze hier in den USA. Das soll dazu beitragen, dass sich die Zielgruppe selbst kennenlernt, ein Selbstbewusstsein und einen Selbstwert entwickelt“, schildert Felicia.
Die renommierte Chicana-Schriftstellerin, Aktivistin und Philosophin Gloria Anzaldúa beschreibt die Position von Chicanas im Zwischenraum zweier oder mehrerer Länder, Kulturen und Weltanschauungen als Leben in borderlands. Das Leben an Grenzen löst einen inneren Konflikt aus und lässt ein Gefühl der Machtlosigkeit und des Andersseins entstehen. Chicanas identifizieren sich mit ihrem (mestizischen) mexikanischen Erbe, sehen sich aber auch als amerikanische Bürgerinnen; sie fühlen sich nirgends, weder in Mexiko noch in den USA, richtig zugehörig. Anzaldúa beschreibt Chicanas als multiple Persönlichkeiten, die die Fähigkeit haben, auf pluralistische Weise zu agieren. Sie entwickeln Strategien, um sich in unterschiedlichen, teilweise konträren Kontexten zurechtzufinden. In Zwischenräumen erfinden sie sich und ihre Identität(en) ständig neu. Chicanas sind flexibel und entwickeln in den borderlands mehrere Perspektiven, wodurch sie als Vermittlerinnen und Übersetzerinnen agieren können.
Die Künstlerinnen und Aktivistinnen der Mujeres de Maiz jonglieren mit kulturellen und spirituellen Elementen und integrieren aztekische, indigene mexikanische, nordamerikanische sowie afrokaribische Praktiken in ihre Arbeit. Alejandra Sanchez erklärt: „In meiner Arbeit versuche ich Brücken zu bauen, zwischen privaten und Community-Räumen, zwischen Wissenschafts- und Kunstwelten, zwischen Spiritualität und Aktivismus, zwischen modernen und antiken Lebenswelten, unterschiedlichen Weltanschauungen, Ländern und Sprachen.“ Im Frühjahr 2013 veranstaltete sie eine kreative Schreibwerkstatt für Frauen: Weaving Words, Creating Worlds: Healing & Empowerment as Women Storytellers („Worte weben, Welten schaffen: Heilen und Selbstbestimmung als weibliche Geschichtenerzähler“). „Ziel dieses Workshops ist es, Menschen, die keinen Zugang zu kreativen Aktivitäten haben, in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen. Kunst kann eine positive Veränderung für viele Menschen bedeuten. Die Frauen haben die Möglichkeit hier im East Side Café, einem autonomen Community-Raum in ihrer Umgebung, gratis an den Workshops teilzunehmen. Sie können in einem sicheren Umfeld schreiben, ihre Texte publizieren und vor einem kleinen Publikum präsentieren. Hier können sie ihre Fähigkeiten und Talente austesten. Sie können sich austauschen und negative Erfahrungen durchs Schreiben aufarbeiten”, beschreibt Alejandra die Ziele ihrer Schreibwerkstatt.
Gleich zu Beginn des Workshops schreibt Alejandra ein Yoruba-Sprichwort an die Tafel, um den Schreibprozess zu initiieren. Im weiteren Verlauf werden Geschmack-, Geruch-, und Tastsinn stimuliert und afro-kubanische und aztekische Tänze getanzt, um locker zu werden und den gesamten Körper und die Kreativität anzuspornen. „Wir arbeiten viel mit persönlichen Geschichten, mit den Erzählungen unserer Ahnen und den Erfahrungen der Community. Es geht bei diesen Workshops um persönliche Genesung, um soziale Gerechtigkeit und die Zurückerlangung von indigenen Lebensweisen“, erklärt die Workshopleiterin.
Margaret „Quica“ Alarcón versucht in ihrer bildnerischen Arbeit ebenfalls die Geschichte ihrer Ahnen visuell zu übersetzen, zu dokumentieren und neu zu interpretieren. „Ich bringe meinen Körper ins Bild und übertrage die Geschichte in einen persönlichen und zeitgenössischen Kontext.“ In ihrem Gemälde Bear Dance (Selbstporträt) bildet sie einen Bären ab, der mit seiner rechten Tatze eine weibliche Silhouette umarmt. Der Bär repräsentiert eine von nordamerikanischen Ute-Gesellschaften veranstaltete Bärentanz-Zeremonie, der sie in Kalifornien beigewohnt hat. In ihrem Werk befasst sich die Künstlerin mit der Heilung von Körper und Seele mit Hilfe antiker spiritueller Praktiken, wie dem präkolumbianischen Temazcal. Das zeremonielle Dampfbad oder die traditionelle Schwitzhütte hat therapeutische und spirituelle Funktionen und wird zur Reinigung und Heilung angewendet. Gleichzeitig stellt Margaret eine Verbindung zwischen verschiedenen traditionellen Praktiken her: „Die Form des Bären stellt das mesoamerikanische Bildzeichen Tepetl dar, das ‚Hügel‘ oder ‚heiliger Ort‘ bedeutet. Andererseits repräsentiert die Form auch ein Temazcal und ein Inipi, eine Lakota-Schwitzhütten-Zeremonie.“
„In Temazcal-Zeremonien kommt es oft zu Momenten der Selbsterkenntnis, und es können starke Emotionen hervorgerufen werden“, führt Margaret fort. Die aztekische Figur rechts unten repräsentiere Vergangenes und damit zusammenhängende Schmerzen und Traumata. „Als Überlebende menschlicher Grausamkeiten teilen wir die Traurigkeit mehrerer Generationen. Die weinende Steinfigur repräsentiert diese geteilte Traurigkeit“, so Margaret. In diesem Jahr bauen die Mujeres de Maiz unter dem Motto „Gute Kunst ist gute Medizin“ mit multimedialen Events, Ausstellungen, Workshops, (politischen) Aktionen und ihrer Publikation Flor y Canto („Blume und Gesang“) weiter an ihrer Lebenswelt im Zwischenraum – um sie anderen zu öffnen.

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