Argentinien | Nummer 347 - Mai 2003

Comeback eines Korrupten

Carlos Menem und Néstor Kirchner in der Stichwahl

Argentinien wird auch in Zukunft von einem Peronisten regiert werden. Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 27. April sind der Ex-Präsident Carlos Saúl Menem und der Gouverneur der südlichen Provinz Santa Cruz, Néstor Kirchner, in die Stichwahl eingezogen. Zwar sind beide eng mit dem korrupten peronistischen Establishment verknüpft, Kirchner steht aber für eine sozial verträglichere Wirtschaftspolitik als der neoliberale Menem. Auf Grund der weit verbreiteten Ablehnung Menems, gilt Kirchner als wahrscheinlicherer Gewinner des zweiten Urnengangs am 18. Mai.

Michael Goebel

Am Sonntag den 27. April sprach das Volk an den Urnen. Ab Freitag zuvor war den Kandidaten Schweigen auferlegt worden. Begleitet war das Schweigen von Ungewissheit, wen die nächsten Tage an die Staatsspitze befördern würden. Denn auch nach den Abschlusskundgebungen des Donnerstagabend bestand das annähernde Patt zwischen fünf Kandidaten fort. Der Sonntagabend brachte nur vorübergehende Gewissheit. Am 18. Mai eine Stichwahl zwischen den beiden Bestplatzierten entscheidet. Die Wahl hat sich auf Menem und Kirchner verengt. Ausgeschieden sind dagegen López Murphy, Elisa Carrió und Rodríguez Saá. Die Wahlbeteiligung war – trotz Wahlpflicht aber extremer Politikverdrossenheit – außergewöhnlich hoch und lag bei rund 80 Prozent.

Menem 2003

Carlos Menem ist nach wie vor die schillerndste Figur der argentinischen Politik . Von 1989 bis 1999 war er bereits einmal Präsident. Damals hielten ihn geschickte Winkelzüge und ein instinktives Verständnis der Niederungen der argentinischen Politik an der Staatsspitze. Die Nachrichten schwerer Korruptionsskandale und der Verstrickung in illegale Waffengeschäfte und organisierte Kriminalität ließen ihn stets unbekümmert. Der Satz „Menem ist der bekannteste Drogenhändler Lateinamerikas“, wurde so trotz kolumbianischer Konkurrenz zum Sprichwort.
Seinen Wahlkampf 1989 führte er noch nach klassisch peronistischem Muster, sprach von einer Umverteilung der Reichtümer des Landes und verurteilte die „liberale Vergiftung“ Argentiniens. Einmal an der Macht, vollzog er eine prompte Kehrtwendung, indem er die Investitionsbedingungen für multinationale Unternehmen erleichterte, den Einfluss der Gewerkschaften zurückdrängte und die Sozialausgaben kürzte. Überdies privatisierte er genau jene Unternehmen, die Juan Perón, Gründer und Vorbild von Menems Partido Justicialista (PJ), einst verstaatlicht hatte. „Eine Operation ohne Narkose“, nannte Menem sein Projekt damals stolz.
Im jetzigen Wahlkampf scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Auf einer Kundgebung im Luna Park, einer Sporthalle im Zentrum von Buenos Aires, versammelte sich die peronistische Wählerschaft aus den Armenvierteln im Vorortgürtel der Hauptstadt. Die Bilder von Perón und seiner legendären Frau Evita, die eine barfüßige Frau zwischen den Sitzreihen verkaufte, gingen nicht schlecht. Und als Menem in seiner Rede bekannt gab, Perón habe ihn persönlich mit der Führung des Vaterlandes beauftragt, brach frenetischer Jubel aus. Am Schluss der Veranstaltung sang der Kandidat sogar den peronistischen Marsch. „Wir bekämpfen das Kapital“, lautet eine Zeile.
Neben dem zur Folklore degradierten Peronismus, versucht Menem aus dem scheinbaren Wohlstand der Jahre seiner Präsidentschaft Kapital zu schlagen. „Mit Menem haben wir besser gelebt“, steht auf einem riesigen Schild auf der Avenida 9 de Julio. „Una marca registrada“, ein eingetragenes Warenzeichen, lautet ein anderer Slogan, der überall in Buenos Aires plakatiert ist. Und dieselben Begründungen für ihre Wahlentscheidung bringt eine etwa 40 Jahre alte Frau im Luna Park an: „Mit Menem hatten wir zu essen. Mit Menem hatten wir Kredit“, sagt sie.
In der Arbeiterklasse ist nach wie vor ein Gefühl peronistischer Identität verankert. Die Armen wählen daher einen Peronisten, offenbar ungeachtet seines politischen Programms. Auch die kommende Stichwahl wird sich nur mit den Stimmen der Armen gewinnen lassen, und als offiziell arm gilt mittlerweile über die Hälfte der Bevölkerung. Die Spaltung des Peronismus in drei verschiedene Strömungen macht Vorhersagen für die politische Zukunft indes beinahe unmöglich.

Kirchner 2003

Kirchner war im Wahlkampf der erklärte Favorit der jetzigen Übergangsregierung des Peronisten Eduardo Duhalde, seit langem der Erzfeind Menems. Auch wenn die Auseinandersetzung zwischen „Duhaldismus“ und „Menemismus“ lange Zeit nach einer persönlichen Fehde aussah, so gewann sie durch die Politik von Duhaldes Wirtschaftsminister Roberto Lavagna in den vergangenen Monaten doch an politischem Profil. Mit der Ankündigung, Lavagna im Falle seines Wahlsieges als Wirtschaftsminister beizubehalten, hatte sich Kirchner auch offiziell auf eine Fortsetzung von dessen Kurs festgelegt.
Im Gegensatz zu Menem steht Lavagna für einen schwachen Peso gegenüber dem US-Dollar. In ihren unmittelbar spürbaren Auswirkungen ist diese Politik freilich unpopulärer als Menems Bindung zwischen US-Dollar und Peso, da sie importierte Produkte wie Fernseher und Haushaltsgeräte in unerreichbare Luxusgüter verwandelt. Langfristig aber soll so die lokale Industrie gestärkt werden. Tatsächlich haben sich erste positive Ergebnisse wie eine Stimulation der Exporte in den vergangenen Monaten abgezeichnet. Nach Kirchners Worten soll diese Politik durch eine „aktive Partizipation des Staates“ weiter verstärkt werden.
Auch in den Verhandlungen mit dem IWF um die Vergabe neuer Kredite veränderte Lavagna den Kurs der Menem-Jahre ein wenig. Zwar ist das Land nach wie vor auf die Kredite und damit auch auf den IWF angewiesen. Aber Lavagna betonte stets, dass der IWF Rücksicht auf die soziale Situation im Lande nehmen müsse und drohte, andernfalls den Schuldendienst einzustellen. So gelang es ihm tatsächlich, dem IWF in zähen Verhandlungen Zugeständnisse abzutrotzen.
Auf der anderen Seite steht der 53 Jahre alte Kirchner für eine Fortsetzung des politischen Stils Menems. Wie ein „Feudalherr“ regiere der Gouverneur in seiner mit Erdöl gesegneten patagonischen Provinz Santa Cruz, kritisierte die liberale Tageszeitung Buenos Aires Herald wenige Tage vor der Wahl. Wie Menem einst auf nationaler Ebene, so hat auch Kirchner in seiner Provinz kurzerhand den Obersten Gerichtshof mit willfährigen Mitgliedern gefüllt, um eine so genannte „automatische Mehrheit“ sicherzustellen. Immer wieder wurde überdies der Vorwurf laut, er habe einen Vertrag mit dem populären Fernsehsender Crónica TV, der ihm Live-Übertragungen seiner Wahlveranstaltungen garantiert und sie mit öffentlichen Mitteln finanziert.

Saá bleibt in der Provinz

Unklar ist auch, zu wem die Stimmen der weiteren ausgeschiedenen Kandidaten wandern werden. Bei den Anhängern des Peronisten Adolfo Rodríguez Saá scheint eine uneingeschränkte Loyalität zum Peronismus am wahrscheinlichsten. Schließlich führte der Ex-Gouverneur der Provinz San Luis, in den Turbulenzen des Dezember 2001 schon einmal Interimspräsident für sieben Tage, einen Wahlkampf, der am getreuesten auf peronistischer Symbolik beruhte. Die Eisenbahn wolle er wieder verstaatlichen, versprach er beispielsweise.
López Murphy war die große Überraschung der Wahl. Der ehemalige Radikale, unter der Präsidentschaft seines damaligen Parteifreundes Fernando de la Rúa zunächst Verteidigungsminister und später für wenige Tage Wirtschaftsminister, begann den Wahlkampf mit seiner neu gegründeten Partei Movimiento Federal Recrear (MFR).

Murphy aus der Asche

Im Laufe der Kampagne gelang es ihm, sich als Kandidat der Unternehmer und der internationalen Firmen zu profilieren, die ihn finanziell großzügig unterstützten. Seine Fans sind vor allem Mitglieder der hauptstädtischen Elite.
Mit seinen Vorschlägen, die Zentralbank teilweise zu privatisieren und die öffentlichen Ausgaben für Erziehung zu kürzen, stellte er sich als Vertreter des Neoliberalismus vor. „Wir sind die Kraft des Zentrums“, insistierte er zwar immer wieder, zugleich waren seine Reden jedoch stets voller Seitenhiebe gegen jene, „die die Rechte anderer verletzen“ und gegen die „anti-institutionelle Linke“. Gemeint waren die Piqueteros, soziale Bewegungen, oft getragen von Arbeitslosen, die in den letzten Jahren mit Straßenblockaden auf sich aufmerksam machten.
Trotz seiner Teilnahme an der Regierung De la Rúa schaffte es López Murphy zudem, sich als glaubhafter Gegner der institutionellen Korruption und des berüchtigten argentinischen politischen Establishments zu verkaufen. Eines seiner häufigsten Wahlplakate fragte: „In was gleichen sich die peronistischen Kandidaten Menem, Kirchner und Rodríguez Saá?“ Die Antwort stand darunter: „In allem!“ So wählten ihn am Ende auch zahlreiche anti-peronistische Intellektuelle.

Nach unten durchgereicht: Elisa Carrió

Ganz anders die Kandidatin der neu gegründeten Partei Argentina por una República de Iguales (ARI), Elisa Carrió. Sie war einst bekannt geworden durch ihren Feldzug gegen die Korruption in der Menem-Regierung und führte auch ihren Wahlkampf auf einer Plattform für moralische Verantwortung in der Politik. Noch vor einem Jahr führte sie die Umfragen unangefochten an, doch Geldmangel ließ ihre Kampagne zunehmend verstummen. Zuletzt musste sie auf ihrer Wahlkampftour durch die Provinzen bei Freunden übernachten.
Zwar ähnelt ihr wirtschaftspolitisches Programm dem von Kirchner. Da ihr aber die Basis des Peronismus für die Mobilisierung der Arbeiterklasse fehlte, stammen ihre WählerInnen vorwiegend aus der Mittelschicht. Organisatorisch unterstützt wurde sie von kleineren Abspaltungen der UCR und des PJ, sowie von Vereinigungen für Menschenrechte und die Aufklärung der Verbrechen der letzten Militärdiktatur. Damit gilt es als sicher, dass ihr Stimmenanteil auf keinen Fall zu Menem übergeht. Carrió hatte sich nach der Stimmenauszählung abermals eindeutig gegen Menem ausgesprochen.
Auch die Stimmen, die López Murphy am 27. April auf sich ziehen konnte, dürften bei der Stichwahl eher zu Kirchner wandern. Die Einstellungen seiner AnhängerInnen sind mit der politischen Kultur eines Carlos Menem nicht kompatibel. Aber ausgemacht ist es nicht, gelten ihnen doch Menem und Kirchner als gleich korrupt. López Murphy selbst hatte sich am Wahlabend noch nicht festgelegt.
Es ist dennoch unwahrscheinlich, dass Menem im zweiten Wahlgang allzu viele Stimmen hinzugewinnen kann. Offen ist aber, für welchen Kandidaten sich die Wahlmaschinerien des Peronismus in den kommenden Wochen in Bewegung setzen werden. Möglich ist auch eine völlige institutionelle Auflösung des Peronismus. Dies würde das Ende einer Epoche in Argentinien besiegeln.

KASTEN:
Zwei kamen weiter:
Carlos Saúl Menem, 23 Prozent
Frente por la Lealtad, peronistisch
Néstor Kirchner, 21 Prozent
Frente para la Victoria, peronistisch

Drei schieden aus:
Ricardo López Murphy, 17 Prozent
Movimiento Federal Recrear, unabhängige Neugründung, López Murphy ehemals Radikale Partei (UCR)
Elisa Carrió, 14 Prozent
Argentina por una República de Iguales (ARI), unabhängige Neugründung, Carrió ehemals Radikale Partei (UCR)
Adolfo Rodríguez Saá, 13 Prozent
Movimiento Nacional y Popular, peronistisch


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