Literatur | Nummer 580/581 - Oktober/November 2022

COMING OF AGE IN QUITO UND CALI

Der Comic Virus Tropical erscheint das erste Mal auf Deutsch

Von Lyudmila Vaseva

Als 2018 die Verfilmung von Virus Tropical auf der Berlinale gezeigt wurde, haben LN diese unter dem Titel „Persepolis a la Latina“ (siehe LN 524) rezensiert. Denn wie bei Persepolis handelt es sich bei Virus Tropical um eine autobiografische Bildungsgeschichte, die in schwarz-weißen Zeichnungen erzählt wird.

Viele Geschichten sind in dem Sinne Persepolis: Universelle Themen wie Aufwachsen in einer geschichtlich prägnanten Zeit – und welche Zeit hat schon nicht ihre eigenen Turbulenzen – die Konflikte, die Personen in einer migrantischen Realität erleben, die Suche der eigenen Identität und Berufung werden immer wieder aufgegriffen und re-interpretiert. So auch in Virus Tropical: Die Protagonistin Paola wächst in Quito und Cali der 90er Jahre auf, mitten im kolumbianischen Drogenkrieg. Als sie als jüngere Teenagerin in Cali ankommt, muss sie sich anstrengen, um dazu zu gehören. Ihre Röcke sind zu lang und ihre Sprache zu komisch. Mit Hilfe ihrer älteren Schwester Patty lernt sie, das soziale Gefüge zu navigieren und allmählich stellt sich heraus, dass sie Zeichnerin werden möchte.

Viele von Paolas Erfahrungen sind jedoch charakteristisch für den lateinamerikanischen Kontext. Die Rolle von Religion und Mystik im Alltagsleben etwa, die durch die katholische Grundschule, den Priesterberuf des Vaters und das Wahrsagen mithilfe von Dominosteinen, das die Mutter für ihre Freundinnen betreibt, erfahrbar gemacht wird. Dass die Hausangestellte Chavella Geld stiehlt, um sich einer Schönheits-OP zu unterziehen, konfrontiert die Leser*innen sowohl mit eng gefassten weißen Schönheitsnormen als auch mit der Klassenfrage. Und als der Vater die ganzen Ersparnisse der Familie bei „einer Familie“ anlegt und verliert, wird das populäre Schneeballsystem für Geldbetrug erkennbar. Besonders gelungen ist der Zeichenstil. Hat er auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeit mit kindlichem Gekritzel, wird bei genauerer Betrachtung deutlich, wie elaboriert mit den Schraffuren umgegangen wird, die sehr kunstvoll Schatten und Licht sowie verschiedene Texturen darstellen. Die Haare von Patty, Parkett und Teppich, das Gardinenmuster, die Kopfsteinpflaster der Straße, die Backsteinmauer, die Gebüsche, die an Mikroskop-Zeichnungen erinnern, gar psychedelisch wirken. Leider ist dabei stellenweise schwer nachzuvollziehen, zu welchem Bild ein Text gehört.

Der Comic liest sich schnell runter und verleitet die Leser*innen dazu, durch den Text zu flitzen, ohne die Bilder groß zu beachten. Beim genaueren Hingucken lassen sich jedoch immer wieder neue Details entdecken. Eine wohnungslose Person etwa, die mit einer Zeitung zugedeckt in der Ecke schläft, oder die im Hintergrund auf dem Dach hängende Wäsche.

Wer Comics mag, wird von der Geschichte und den Zeichnungen begeistert sein. Und andere werden mit Virus Tropical ihre Comic-Begeisterung finden.

Powerpaola // Virus Tropical // Parallelalee // Aus dem Spanischen von Lea Hübner // 164 Seiten // 19 Euro

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