Film | Nummer 437 - November 2010

Das Baby vor der Tür

Der peruanische Film “Im Oktober werden Wunder wahr” erzählt eine alte Geschichte, ohne kitschig zu sein

Dinah Stratenwerth

Um sich gegen einen Säugling zu verteidigen, braucht man eigentlich kein Messer. Bis Clemente das begriffen hat, dauert es einige Sekunden, die er mit gezückter Waffe fassungslos vor dem Bastkorb steht, aus dem es gluckst und plärrt.
Bisher war das Leben des pedantischen Pfandleihers sorgfältig geordnet: Er verzehrte zerdrücktes hartes Ei auf Brötchen am ordentlich gedeckten Tisch, lieh sachlich und emotionslos Menschen Geld und besuchte abends eine ebenso sachliche Prostituierte.
Und dann das Baby vor der Tür. Clemente wird klar, dass er Hilfe braucht, wenn er weiter seinen Geschäften nachgehen will. Also stellt er seine Nachbarin Sofia ein, die eben so einsam ist wie er. Hingerissen nimmt sie an den großen Prozessionen teil, die im Oktober ganz Lima mit Leben füllen, wenn tausende Gläubige den Christus der Wunder, den Schutzheiligen der peruanischen Hauptstadt feiern. Im Oktober werden Wunder wahr, so heißt der erste Spielfilm der Brüder Daniel und Diego Vega auf deutsch. Und so bahnen sich auch in Clementes grauem Leben Veränderungen an.
Der Plot – ein Baby bringt einsame Menschen einander näher – ist nicht neu. Dass der Film den Preis der Jury in Cannes gewonnen hat, verdankt er wohl vor allem seinen Bildern und der herausragenden Leistung der Schauspieler, besonders Bruno Odars als Pfandleiher Clemente. Odar verhindert, dass die Handlung jemals ins Kitschige abrutscht, indem er konsequent nicht lacht und nicht staunt. Clemente trottet stoisch durchs Leben und hält sich an seinem System ökonomischer Tauschbeziehungen fest. In seinem Notizbuch notiert er pedantisch den Lohn der Kinderfrau und versucht das Baby ebenso wieder loszuwerden wie einen falschen Geldschein, der ihm in einem Moment der Unachtsamkeit untergeschoben wurde.
Mit Träumen hat er eigentlich nichts am Hut, obwohl Tag für Tag Menschen zu ihm kommen, die hoffen, mit seiner Hilfe ihre Träume erfüllen zu können. Die Figur Clemente bewegt sich dabei in einer Welt voller Braun- und Grautöne und scheint gefangen in symmetrischen Anordnungen, die eine eigene, traurige Schönheit haben: Sein Platz in der Mitte des Esstisches, sein Gang über eine staubige Straße, sein einsamer Arbeitsplatz an einem leeren Tisch. Die melancholische Version von Vermeer-Gemälden. Sofia ist ganz anders. Schon vom ersten Tag an benimmt sie sich wie eine Ehefrau und ergreift die Chance, plötzlich eine Patchwork-Familie zu bekommen, mit beiden Händen. Unaufhaltsam bringt sie Farbe in Clementes diesige Welt, und sei es nur durch die Notfall-Windel auf dem Nachtschränkchen.
In “Im Oktober werden Wunder wahr” sind die Probleme der peruanischen Gesellschaft – Armut, Perspektivlosigkeit, Prostitution – nur Kulisse für eine allgemeingültige Handlung. Sie könnte so „überall stattfinden“, wie die Regisseure im Interview mit dem Internetmagazin nisimazine erklären. Zehn völlig verschiedene Handlungen entwickelten sie, bevor das Drehbuch zum Film fertig war. Alle haben nur das Motiv des Falschgeldes gemeinsam, und „eine unstrukturierte Familie“ als Thema.
Harmonisch ist die Familie, die sich im Haus des Pfandleihers zusammenfindet tatsächlich nicht. Doch auch Clemente wird irgendwann klar, dass er sich dem Sog der Wunder nicht mehr entziehen kann.

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