Nicaragua | Nummer 531/532 - September/Oktober 2018

DAS MÄDCHEN AUS PERNAMBUCO

Sergio Ramírez Mercado über eine in Nicaragua von Paramilitärs erschossene Medizinstudentin

Von Sergio Ramírez Mercado (Übersetzung: Carlos Ampié Loría)

Das Wohnviertel heißt Lomas de Monserrat und bis vor Kurzem wimmelte es da von maskierten Paramilitärs. Nicht weit von dort befindet sich die Nationale Autonome Universität, die die Studierenden seit dem Anfang der Proteste, die das Land erschüttern, besetzt hielten. Ein Angriff, um sie zu vertreiben, war seitdem immer zu erwarten.

Dieser Angriff fand schließlich am Nachmittag des 13. Juli statt. Die Studierenden suchten Zuflucht in der nahestehenden Kirche La Divina Misericordia. Das unaufhörliche Feuer aus Waffen verschiedener Kaliber dauerte bis zum Morgengrauen des 14. Juli an. Dann wurde es auf die Kirche gerichtet, in die ein bereits lebloser junger Mann gebracht worden war und in der ein weiterer, den die Schüsse drinnen trafen, ebenfalls starb. Die zahlreichen Einschüsse kann man noch in den Mauern der Kirche sehen.

Die Maskierten, jetzt offiziell „freiwillige Polizisten“ genannt, verharrten in Lomas de Monserrat, nachdem die „Operation Säuberung“ in der Universität beendet war. Am 23. Juli waren sie immer noch da.

An diesem Abend, nachdem sie ihre Schicht als Praktikantin im Krankenhaus Carlos Roberto Huembes beendet hatte, ging Raynéia da Costa Lima – Brasilianerin, 31 Jahre alt, Medizinstudentin an der Universidad Americana (UAM) – gemeinsam mit ihrem Freund Harnet Lara Moraga in dieses Wohnviertel zu der Abschiedsparty einer Freundin. Das Mädchen – schön wie ein Model aus einer Modezeitschrift, wie man auf den Fotos ihrer Facebook-Seite sehen kann, sympathisch und voller Anmut, wie ihre Freunde sie in Erinnerung haben – war sechs Jahre zuvor nach Managua gekommen, frisch verheiratet mit einem Nicaraguaner, von dem sie sich später trennte. Sie blieb aber in dem Land und beschloss, dass sie Ärztin werden wollte. Um ihren Unterhalt zu bestreiten, machte sie brigadeiros, Pralinen aus Schokolade und Kokosnuss, und wenn ihre Kommiliton*innen sie auf sich zukommen sahen – lächelnd ihr Tablett voller Süßigkeiten anbietend – pfiffen sie ihr zu Ehren die Melodie des Liedes Garota de Ipanema (Das Mädchen aus Ipanema).

Nach 23 Uhr, als die Feier vorbei war, verließen Raynéia und Harnet das Wohnviertel. Sie fuhr voran am Steuer ihres Autos, eines kleinen Suzuki. Er hinterher am Steuer des eigenen. Als er Schüsse hörte, beschleunigte er und sah sie dann blutüberströmt auf der Straße sitzen. Bereits verwundet hatte sie es geschafft, sich aus dem Auto zu schleppen. Als er drei vermummte, immer noch schussbereite Paramilitärs bemerkte, näherte er sich mit erhobenen Händen. Er trug sie auf seinen Armen in sein Auto, ohne dass die Maskierten ihn daran hinderten, um sie ins nächstgelegene Militärkrankenhaus zu bringen. Das war es, was er den Ärzt*innen erzählte, die sie in der Notaufnahme empfingen – einige von ihnen Studienkamerad*innen von Raynéia. Alles war vergebens. Ein Schuss großen Kalibers hatte sie auf der Höhe der Rippen getroffen und ihr Herz, ihr Zwerchfell und einen Teil ihrer Leber verletzt.
Nach dem Tod des Mädchens fand sich die Polizei im Krankenhaus ein, die den Freund suchte. Er sollte mit ihnen zum Tatort zurückkehren, um die „Tat zu rekonstruieren“. Doch die Ärzt*innen ließen es nicht zu – wegen des Schockzustandes, in dem er sich befand. Sie brachten seinen Blutdruck wieder in Ordnung, verabreichten ihm ein Beruhigungsmittel und er wurde erst am nächsten Tag um 11:40 Uhr entlassen.

Die Nationalpolizei gab einen ersten Bericht ab, in dem sie einen privaten Wächter der Tat beschuldigte, ohne seine Identität zu nennen. Doch in einem neuen Bericht vom 27. Juli wurde schließlich Pierson Gutiérrez Solís beschuldigt, 42 Jahre alt, aktives Mitglied der Nationalarmee bis 2009 und Taekwondo-Lehrer, bei dem ein M4-Karabiner beschlagnahmt wurde, ein Sturmgewehr, dessen Gebrauch ausschließlich der Armee vorbehalten ist.

Gutiérrez Solís ist aktives Mitglied der Regierungspartei und befindet sich auf der Lohnliste von Petronic, einer Firma, die unter der Schirmherrschaft von Albanisa agiert, dem Unternehmen, das das Geschäft mit dem venezolanischen Erdöl verwaltet. Albanisa hat seinen Hauptsitz ausgerechnet in Lomas de Monserrat!

Seit er das Krankenhaus verließ, weiß man nichts über den Verbleib von Harnet, dem Freund Raynéias. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Das Auto des Opfers ist vom Ort des Verbrechens verschwunden. Auch die Paramilitärs von Lomas de Monserrat sind verschwunden, als ob sie nie dagewesen wären. Die Überwachungskameras des Wohnviertels sind abgebaut worden. Der Angeklagte wurde heimlich vor Gericht gebracht – am 1. August, einem offiziellen Feiertag. Die Anhörung fand hinter verschlossenen Türen statt.
Schlechte Romane stellen sich stets als widersprüchlich heraus und als schlecht erzählt. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft beginnt mit der Beschuldigung des Opfers: Raynéia wird die Schuld am eigenen Tod gegeben, weil sie in unkontrollierter und verdächtiger Weise fuhr. Über den Täter wird erklärt, dass dieser um jene Uhrzeit auf der Suche nach einem geeigneten Ort war, um eine Taekwondo-Schule zu eröffnen. Unterwegs fiel ihm ein, dass er ein paar Wächter kannte, die gerade in Lomas de Monserrat Wache standen, und so ging er zu ihnen, um ihnen eine Ausbildung in Selbstverteidigung und Anwendung von Feuerwaffen anzubieten. Das war 10:40 Uhr am Abend.

Seine zwei Bekannten waren für die Sicherheitsfirma Displuton S.A. im Dienst, die ebenfalls unter der Schirmherrschaft von Albanisa steht. Jeder von ihnen trug eine Flinte des Kalibers 12. So kommt es zu dem Paramilitär-Trio, das Harnet erwähnte.
Damit war Raynéias Schicksal besiegelt. „Wegen des Verhaltens und der unsicheren Bewegung des Fahrzeuges“ hatten die Wächter das Gefühl, „ihr Leben sei in Gefahr“, erklärt die Staatsanwaltschaft.

Pierson, sehr darauf bedacht, seine Freunde zu beschützen, holte den Karabiner M4 aus dem Kofferraum seines Autos, ging in Stellung hinter einem Strommasten und feuerte auf den fahrenden Suzuki.

Die Staatsanwaltschaft klagt den Täter des Totschlages an, worauf eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren steht – weniger, als wenn er des Mordes angeklagt wäre. Die Verteidigung plädiert für eine Minderung auf zehn Jahre. Damit wäre der Mörder bald wieder frei, beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen, so wie es in solchen manipulierten Gerichtsprozessen üblich ist.

Unterdessen ist die Leiche von Raynéia, der jungen Frau, die sich ihr Studium durch den Verkauf von brigadeiros finanzierte, zurück in ihre Heimat Pernambuco geschickt worden.

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