Nummer 324 - Juni 2001 | Uruguay

Das Paradies der Straflosigkeit

Die Frage nach den Verschwundenen der Militärdiktatur polarisiert die uruguayische Gesellschaft

25 Jahre nach der Ermordung der uruguayischen Politiker Zelmar Michelini und Gutiérrez Ruiz im argentinischen Exil steht die Auseinandersetzung um die jüngere Vergangenheit des Landes weiterhin auf der politischen Tagesordnung des Landes. Durch ein weitreichendes Amnestiegesetz aus dem Jahr 1989 bleiben alle damals begangenen Menschenrechtsverbrechen bis heute ungesühnt. Nach der Wahl des konservativen Jorge Batlle (Partido Colorado) zum Präsidenten im Jahr 1999 ist jedoch wieder Bewegung in die Angelegenheit gekommen. Im Jahr 2000 wurde eine so genannte Friedenskommission ins Leben gerufen, die mit der Aufklärung der Schicksale der 170 Verschwundenen der uruguayischen Militärdiktatur beauftragt wurde.

Matti Steinitz

In den Morgenstunden des 18. Mai 1976 dringen sechs bewaffnete Männer in die Wohnung des uruguayischen Abgeordneten und ehemaligen Parlamentspräsidenten Gutiérrez Ruiz ein, der auf Grund seiner oppositionellen Haltung zur Militärdiktatur in seinem Heimatland seit einiger Zeit in Buenos Aires im Exil lebt. Gutierrez Ruíz wird festgenommen und die Männer in Zivil tragen sieben Koffer gefüllt mit Wertsachen aus seiner Wohnung. Ein Wachmann, der einschreiten will, wird mit den Worten zurückgewiesen,dass es sich um „eine gemeinsame Aktion von Polizei und Armee“ handele. Zwei Stunden später wird auch der populäre Politiker des Frente Amplio Zelmar Michelini entführt, der sich aus den selben Gründen im argentinischen Exil befindet. Am 20. Mai findet man ein Auto mit den Leichen der uruguayischen Oppositionellen und zweier weiterer Personen. Nachdem erst Angehörige linker Guerrillabewegungen aus Argentinien und Uruguay für die Morde verantwortlich gemacht werden, dringen wenig später Äußerungen, die von einer „Operation des uruguayischen Militärs“ sprechen, an die Öffentlichkeit.

43 verschwundene Uruguayer in Argentinien

Zwanzig Jahre später, im Jahr 1996, sagt eine Zeugin vor der Menschenrechtskomission des uruguayischen Repräsentantenhauses aus, dass ein gewisser Leutnant Mattos in einem 1976 geführtem Gespräch geäußert habe, dass er damals mit dem speziellen Auftrag Michelini und Gutierrez Ruíz zu entführen und umzubringen, nach Buenos Aires gereist sei.
Trotz dieser klaren Indizien hat es bis heute, da sich die Morde zum 25. Mal jähren, keinerlei Ermittlungen, geschweige denn Bestrafungen der Verantwortlichen gegeben. Der Fall steht wegen des hohen Bekanntheitsgrades seiner Opfer symbolisch für das Verschwinden und die Ermordung von 40 weiteren uruguayischen Exilierten in Argentinien, wo die Militärs, drei Jahre nach Uruguay und Chile, im März 1976 ebenfalls die Macht übernommen hatten. Anlässlich des 25. Jahrestages der Verbrechen wurde in Buenos Aires am 20. Mai eine Gedenkplatte enthüllt, die an die uruguayischen Opfer der staatlichen Repression in Argentinien erinnern soll. An der Zeremonie nahmen auch Rafael Michelini, Sohn des ermordeten Zelmar Michelini und Vorsitzender des sozialdemokratischen Nuevo Espacio, der Bürgermeister von Montevideo Mariano Arana (Frente Amplio) und der Regierungschef der Stadt Buenos Aires Aníbal Ibarra teil. Dieser betonte in seiner Rede die weit reichende Koordinierung des „antisubversiven Kampfes“ zwischen den verschiedenen südamerikanischen Militärdiktaturen, die durch die Ermordung von uruguayischen Oppositionellen unter aktiver Mithilfe der argentinischen Regierung erneut unter Beweis gestellt werde.

Entführte Wahrheit und verbotene Erinnerung

Auch in Uruguay ist der 20. Mai seit fünf Jahren Tag des Erinnerns an die Verschwundenen und des Protestes gegen die andauernde Straflosigkeit. Dieses Jahr nahmen 70.000 Personen an einem Schweigemarsch durch das Zentrum Montevideos unter dem Motto „Ohne entführte Wahrheit, ohne verbotene Erinnerung“ teil, zu dem der Frente Amplio, der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT und verschiedene Menschenrechtsorganisationen aufgerufen hatten. Uruguay gilt als „Paradies der Straflosigkeit“, denn es ist das einzige Land des Cono Sur in dem bisher kein einziges Ermittlungsverfahren wegen der Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur eröffnet wurde. 1986, ein Jahr nach Rückkehr des Landes zur Demokratie, verabschiedete das Parlament ein umfassendes Amnestiegesetz, welches 1989 durch ein Referendum vom Volk bestätigt wurde. Das Gesetz verbietet jegliche Strafverfolgung von politischen Verbrechen, die zwischen 1973 und 1985 begangen wurden. Der Artikel 4 des Gesetzes jedoch verpflichtet den Staat zu einer bedingungslosen Aufklärung der Schicksale aller damals Verschwundenen. Diese Aufgabe wurde der Militärstaatsanwaltschaft übergeben, mit der Folge, dass nicht ein einziger Fall aufgeklärt wird. Die ehemaligen Präsidenten Sanguinetti und Lacalle hatten während ihrer Amtszeiten alle Bestrebungen zur Einhaltung des Artikels behindert.
Im November 1999 war der Kandidat des konservativen Partido Colorado Jorge Batlle unter anderem mit dem Versprechen zum Präsidenten gewählt worden, sich verstärkt um die Aufarbeitung der Vergangenheit zu kümmern. Daraufhin begann im August des vergangenen Jahres die Arbeit einer so genannten Friedenskommission, deren Auftrag hauptsächlich in der Aufklärung der Schicksale der 170 verschwundenen Oppositionellen in Uruguay besteht. Die Kommission, deren Vorsitzender Carlos Ramela ein Vertreter des Partido Colorado ist, wird auch von vielen linken Politikern als wichtiger Schritt gewürdigt, denn sie stellt die erste offizielle Anerkennung der Existenz eines derartigen Problems von staatlicher Seite dar. Sie besitzt jedoch weitaus weniger Kompetenzen als vergleichbare Kommissionen in Chile, El Salvador oder Südafrika. Die Friedenskommission „lädt zur Aufklärung ein“, hat aber keine Sanktionsmöglichkeiten, wenn die Zusammenarbeit von den Tätern verweigert wird. Auch eine Identifikation der Schuldigen wird ausdrücklich ausgeschlossen.

Neue Fronten

Die eingeschränkten Möglichkeiten der Friedenskommission haben eine Debatte über deren Sinn ausgelöst, in deren Verlauf es zu einer bis vor kurzem undenkbaren Frontenbildung gekommen ist. Die neuen Gräben verlaufen nicht mehr wie die gesamten letzten 15 Jahre zwischen linker Opposition und konservativer Regierung, sondern sind nun innerhalb der Linken zu finden. Während die Parteiführung des Frente Amplio unter Tabaré Vázquez zu Geduld aufruft und mit der Kommission zusammenarbeitet, wird diese von vielen Menschenrechtlern und Vertretern des linken Randes des Frente scharf kritisiert und ihr Sinn in Frage gestellt. Die Differenzen wurden besonders bei einer Protestaktion vor dem Verteidigungsministerium am 16.April deutlich, bei der auf die Verantwortung des Staates für die Verbrechen aufmerksam gemacht werden sollte. Zu der Aktion hatten ausschließlich außerparlamentarische Gruppierungen aufgerufen. Zu Gast war auch die legendäre Vertreterin der argentinischen Madres de la Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, die in ihrer Rede äußerte, dass die Kommissionen nur eine Demobilisierung des Wiederstandes und die Konsolidierung der Straflosigkeit mit sich bringen würden. In den Reaktionen auf die Demonstration fanden sich führende Politiker des FA in einer Reihe mit Vertretern der Regierung, der Friedenskommission und des Militärs wieder. Von Tabaré Vázquez, der die Aktion als „wenig hilfreich für die Aufklärungsarbeit“ bezeichnete, über Regierungssprecher, die die Aktivisten aufforderten, nicht die Demokratie zu gefährden, bis hin zu Militärs, die von „politisierten Anschuldigungen“ sprachen, die nur dazu bestimmt seien „ehrenhafte Soldaten zu diskreditieren, die für die Verteidigung der Institutionen des Staates auch ihr Leben gelassen hätten“; der Tenor der Ablehnung war nicht zu überhören.

Unkonventionelle Methoden

Im Zuge der stark polarisierten Debatte meldeten sich auch wieder verstärkt hohe Vertreter der uruguayischen Streitkräfte mit den altbekannten Argumenten zu Wort. Am „Tag der in Verteidigung der Institutionen Gefallenen“, der erstmals in Zeiten der Militärdiktatur begangen wurde und dann von Ex-Präsident Sanguinetti wieder eingeführt wurde, betonte der Leutnant Edison Linares die Notwendigkeit des antisubversiven Kampfes und rechtfertigte die damals angewandten „unkonventionellen Methoden“ mit einer mangelnden Unterstützungen durch andere Institutionen des Staates. Gleichzeitig wurde vor der akuten Bedrohung durch subversive Kräfte gewarnt, die jederzeit wieder auferstehen könnten, weshalb man sich immer noch im Kriegszustand befände.
Doch auch auf der anderen Seite hat sich der Ton verschärft. Seit einigen Monaten wird verstärkt auf die aus Argentinien importierte Aktionsform des escrache zurückgegriffen. Dabei handelt es sich um Protestaktionen vor den Domizilen von erwiesenen Menschenrechtsverbrechern, die dazu bestimmt sind, die Nachbarschaft für das Thema zu sensibilisieren. Besonders im Fokus der Aktivisten stand dabei in den letzen Wochen der Leutnant a.D. José ‘Nino’ Gavazzo, der als Chef eines militärischen Geheimdienstes für die Entführung, Folterung und Ermordung von vielen UruguayerInnen im Ausland verantwortlich sein soll. Ihm konnte auch eine direkte Beteiligung an der Entführung des Sohnes der Uruguayerin Sara Méndez, Simón Riquelo, im Jahr 1976 in Argentinien nachgewiesen werden. Der unermüdliche Kampf der Mutter hat inzwischen internationale Bekanntheit erlangt (siehe nachfolgenden Artikel).

Das Ende der Straflosigkeit?

Dieser Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit erfährt nun auch in Uruguay nach Jahren des Stillstandes einen neuen Impuls. Vor wenigen Tagen fand in Uruguay ein internationaler Juristenkongress statt. Dort wurde zum ersten Mal die Möglichkeit angesprochen, die Fälle der ‘Verschwundenen’ vor ein internationales Strafgericht zu bringen. Es wurde darauf hingewiesen, dass Uruguay im Jahr 1994 im Rahmen einer Versammlung der Organisation Amerikanischer Staaten eine Interamerikanische Konvention über das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen unterzeichnet hat. Dieses internationale Abkommen wurde 1996 zu uruguayischem Gesetz und etabliert die Rechtsnorm, dass Entführungen als permanente Verbrechen gelten, solange der aktuelle Aufenthaltsort der Opfer unbekannt bleibt. Die Anwendung dieses Gesetzes müsste also eine sofortige Strafverfolgung der damaligen Täter nach sich ziehen. Diese Perspektive stößt in Uruguay erwartungsgemäß auf heftigen Widerspruch. Dadurch, dass das Amnestiegesetz durch ein Referendum vom Volk abgesegnet worden sei, besäße es mehr Legitimation als ein internationales Abkommen, so hört man. Hier gilt jedoch eigentlich der Rechtsgrundsatz, dass wenn sich zwei Gesetze widersprechen,das jüngere von beiden angewandt werden muss, ganz egal wie dieses nun zu Stande gekommen sein mag. Das ist in diesem Fall nicht das Amnestiegesetz.
Bei den Fürsprechern eines radikalen Wandels im Umgang Uruguays mit seiner jüngeren Vergangenheit, handelt es sich nicht nur um Familienangehörige der Opfer und Vertreter der uruguayischen Linken. Rückendeckung kommt auch von ideologisch völlig unverdächtiger Seite. Das Menschenrechtskomitee der UNO ließ vor kurzer Zeit verlauten: „Die Amnestiegesetze sind nicht kompatibel mit den internationalen Verpflichtungen eines Staates, wenn sie für die Straflosigkeit derart ernsthafter Verbrechen sorgen.“ Das Ende der Straflosigkeit in Uruguay? Es bleibt zu hoffen, dass die Globalisierung auf dem Gebiet der Rechtssprechung ebenso schnell voranschreiten wird wie auf dem der Wirtschaft .

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