Antigua & Barbuda | Belize | Grenada | Guyana | Jamaika | Literatur | Nummer 310 - April 2000 | Trinidad & Tobago

Das Paradies liegt vor dem Fenster

Eine Anthologie bringt karibische Schriftstellerinnen zusammen

Die Karibik bietet den Rahmen für die Erzählungen, die in dem Band Das Paradies liegt vor dem Fenster versammelt sind. Hier wird ein Panorama des Alltagslebens ausgebreitet, werden Geschichten von Leuten erzählt, die das vermeintliche Paradies vor dem Fenster haben, ein Paradies jedoch, das aus unterschiedlichen Gründen unerträglich werden kann, so unerträglich, dass ihm manche den Rücken kehren.

Marianne Dörmann

In der Reihe Black Women hat der Lamuv Verlag einen Erzählband mit Texten englischsprachiger Autorinnen aus der Karibik herausgebracht. Von 14 Schriftstellerinnen aus Antigua, Belize, Grenada, Guayana, Jamaica und Trinidad und Tobago (zur Karibik werden hier wie so oft auch die Festlandstaaten Belize und Guayana gerechnet) erscheint neben kurzen Angaben zur Biographie und zu den veröffentlichten Büchern je eine Kurzgeschichte. Einige Texte von Autorinnen wie Merle Collins aus Grenada und Jamaica Kincaid aus Antigua sind bereits auf Deutsch erschienen und manchen vielleicht bereits bekannt, andere wurden eigens für dieses Buch übersetzt. Die Mehrzahl der Autorinnen lebt heute im Ausland, in England, Kanada oder den USA.
Insbesondere wirtschaftliche Probleme finden in ihren unterschiedlichen Dimensionen Eingang in die Erzählungen. In der Geschichte von Zoila M. Ellis „Weiße Weihnacht im rosa Dschungel“ geht es sehr menschlich zu, die Leute scheinen durch das tägliche Organisieren müssen mehr auf die anderen Acht zu geben, die Leute reden pausenlos mit- und übereinander, die Beschreibungen sind ohne jede Sentimentalität, aber liebevoll.
Anders geht es in den Erzählungen von Olive Senior, Dionne Brand und Amryl Johnson zu: In der Geschichte „Mr. Braffit und die anderen“ ist die Protagonistin auf dem Weg zum Wahnsinn, sie beschließt, ihre Kinder und alles zurückzulassen, sie erträgt das hoffnungslose Leben in Trinidad nicht mehr. „In Trinidad gibt es nichts für uns Schwarze. Wir sind am unteren Ende der Leiter. Das ist nicht wie bei den Indern und den andern. Die helfen sich gegenseitig.“
Auffällig oft geht es in den Erzählungen um Frauen, die mit den Mühen des Alltags zu kämpfen haben. Sie müssen ihre Kinder versorgen und das Geld für den Lebensunterhalt verdienen: Ohne die Hilfe von Freundinnen und Verwandten wären sie aufgeschmissen. Die Männer haben sich aus dem Staub gemacht oder wissen auch nicht mehr weiter. Viele der Frauen haben viel zu früh Kinder bekommen, ehe sie sich überhaupt damit beschäftigen konnten, was sie vom Leben noch hätten erwarten können.
Der Blick auf die Anderen und die Begegnung mit Fremden ist ein weiterer thematischer Strang in den Erzählungen. Dabei wird gelegentlich die Perspektive gewechselt. In den Geschichten ist unübersehbar, dass in der Karibik die Zuwanderung als konstitutiv begriffen wird: Die karibischen BewohnerInnen sind Eingewanderte, auf welche Weise auch immer. Andererseits haben viele BewohnerInnen aber auch ihre Heimat verlassen.
In vielen Geschichten steht die ständig präsente soziale Marginalisierung der schwarzen Bevölkerung im Blickpunkt. Trotz aller Versuche, ein eigenständiges Leben aufzubauen, arbeiten viele der Protagonistinnen immer noch in fremden Haushalten oder verdienen in Fabriken nicht einmal soviel Geld, dass es für die Familie reicht. Kindheitserinnerungen tauchen auf, in denen die Anstrengungen der Mütter beschrieben werden, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, thematisiert werden aber auch die Einengungen, die sie ihren Kindern auferlegen. In „Der Weg“ erzählt Merle Collins von der elfjährigen Queen, die das verdiente Geld ihrer Mutter Faith bei einem Sparverein einzahlen soll, in dem Ort, wo die Verwandten der Mutter wohnen. Sie ist zusammen mit ihrer Cousine einen ganzen Tag lang unterwegs, und obwohl es einen Bus gibt, gehen sie zu Fuß: „Jahre später, als sie schon viel älter war, erfuhr Queen, dass sie mit den drei Pence, die sie und Cousine Liza ausgegeben hatten, um etwas zu essen zu kaufen für unterwegs, die Busfahrkarte hätten bezahlen können. Aber selbst wenn sie das damals schon gewusst hätte, hätte ihr das nicht viel genützt. Faith hätte sie als faul beschimpft, wenn sie vorgeschlagen hätte, mit dem Bus zu fahren.“
Beeindruckend poetisch ist „Rolands Lied“, die Erzählung von Jamaica Kincaid, die den Band beschließt. Hier wird die Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann beschrieben: „Sein Name war Roland. Er war kein Held, er hatte nicht einmal ein Land; er kam von einer Insel, einer kleinen Insel, die zwischen einem Meer und einem Ozean lag, und eine kleine Insel ist kein Land.“ In dieser Geschichte klingt an, dass das Paradies vor dem Fenster liegt, trotz aller Widrigkeiten und auch wenn die Protagonistin weiß, dass es nur vorübergehend sein wird.
Der Kurzgeschichtenband bietet ein vielfältiges, interessantes Panorama von Geschichten aus der Karibik. Wie die Autorin Velma Pollard aus Jamaica formuliert, ist es ihr Anliegen, durch Schreiben vergangene Ereignisse und Erfahrungen festzuhalten, um dieses Wissen für zukünftige Generationen zu sichern. Das ist in dem vorliegenden Buch ganz sicher gelungen. Die unterschiedlichen Erzählstile, die Anlehnung an die gesprochene Sprache, die selbst in den Übersetzungen noch erhalten bleibt, und das Erzählen von Geschichten aus dem Alltagsleben machen den Erzählband zu einem besonderen Leseereignis. Die Lektüre macht neugierig auf die anderen Bücher der Autorinnen, von denen einige bereits auf Deutsch vorliegen.

Das Paradies liegt vor dem Fenster. Geschichten aus der Karibik. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Marlies Glaser und Anita Jörges-Diafari, Lamuv Verlag, Göttingen 1999, 191 S., 9,90 Euro.

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