Chile | Nummer 560 - Februar 2021

DEM WAHLRECHT EIN SCHNIPPCHEN SCHLAGEN

Im Verfassungskonvent könnten unabhängige Kandidat*innen den Ausschlag geben

Am 11. April wählen die Chilen*innen das Gremium, das bis Mitte 2022 einen neuen Verfassungstext formulieren soll. Seine 155 Mitglieder werden die etwa 19 Millionen Menschen in Chile vertreten – ein verantwortungsvolles Amt, das das Land auf Jahrzehnte prägen könnte. Zwei Monate vor der Wahl stehen nun die Kandidat*innen fest.

Von Martin Schäfer & Caroline Kassin

“Neue Verfassung jetzt” Aber wer wird sie schreiben? (Foto: Matias Fernandez (CC BY-SA 4.0)

Giovanna Grandón, wegen ihres auffälligen Pokémon-Kostüms auf den Demonstrationen als Tía Pikachu bekannt, hat als Schulbusfahrerin gearbeitet, bevor die Pandemie das unmöglich machte. Jetzt tritt sie im Wahlbezirk 12, der die einkommensschwachen Hauptstadtviertel La Florida, Puente Alto und La Pintana umfasst, als parteiunabhängige Kandidatin für den Verfassungs­konvent an. Grandón gehört zur Lista del Pueblo, der „Liste des Volkes“, die landesweit 137 Kandidat*innen stellt. „Die Liste ist auf der Plaza Dignidad entstanden (dem Hauptschauplatz der Proteste, Anm. d. Red.), ihre Aufstellung war eine enorme Arbeit“, so die Kandidatin gegenüber der Online-Zeitung Interferencia.

Bis zum 11. Januar lief die Einschreibefrist für die Kandidatur als constituyentes, die 155 Mitglieder des Konvents, die Chile durch die Formulierung einer neuen Verfassung grundlegend verändern sollen. Fast 80 Prozent der Chilen*innen hatten im vergangenen Oktober für eine neue Verfassung gestimmt, die von eigens dafür gewählten Vertreter*innen ausgearbeitet wird – Parlamentsabgeordnete ausgeschlossen. Es wird der erste paritätisch mit Frauen und Männern besetzte Verfassungskonvent der Welt und der erste in Chile, bei dem parteipolitisch Unabhängige und Vertreter*innen von Indigenen eine zentrale Rolle spielen.

1.373 Kandidat*innen stehen am 11. April zur Wahl, viele davon sind parteiunabhängige Kandidat*innen wie Grandón. Auf den letzten Drücker hatte das Parlament Ende Dezember noch die Hürden für Unabhängige gesenkt: Die Anzahl der für die Kandidatur vorzuweisenden Unterschriften wurde reduziert und die Anforderung, diese kostenpflichtig notariell beglaubigen zu lassen, gestrichen. Angesichts der politischen Krise, in der Parteipolitiker*innen – ob aus Regierung oder Opposition – kaum noch Vertrauen genießen, ein wichtiger Schritt. Die Zustimmungswerte für den Kongress lagen im Dezember nur noch bei 20 Prozent, für Präsident Piñera nur noch bei 12 Prozent.

„Der Prozess ist von den Parteien monopolisiert und vereinnahmt worden.“

Ein Selbstläufer ist die Beteiligung Unabhängiger allerdings nicht. „Für uns Unabhängige ist es sehr schwierig, die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen, während die Parteien des Landes alle Möglichkeiten haben. Leider ist dieser Prozess von den Parteien monopolisiert und vereinnahmt worden“, erklärte Luis Mesina, Sprecher der Initiative No+AFP für ein gerechtes Rentensystem. Während die Kandidat*innen der Parteien auf deren Kampagnenapparat zählen können, müssen Unabhängige ihre Kampagnen in kürzester Zeit und ohne vergleichbare finanzielle Mittel aus dem Boden stampfen sowie zusätzlich Unterschriften von Unterstützer*innen vorlegen.

Um die Chancen der unabhängigen Kandidat*innen zu erhöhen, beschloss ein breites Spektrum von bewegungsnahen Organisationen kurz vor Weihnachten, in den Wahlbezirken gemeinsame Listen aufzustellen. Dazu gehören Bündnisse wie No+AFP, die feministische Dachorganisation Coordinadora 8M sowie Netzwerke von Lehrer*innen oder Schauspielerinnen. Die Aufstellung gemeinsamer Listen verspricht aufgrund des chilenischen Wahlsystems höhere Erfolgschancen und war außerdem leichter: Alle Kandi­dat*innen einer Wahlliste mussten zusammen lediglich doppelt so viele Unterschriften vorlegen wie Einzelkandidat*innen. Listenunabhängige Einzelkandidat*innen hatten es schwer, viele von ihnen konnten bis zum Ablauf der Frist nicht die notwendigen Unterschriften von 0,2 Prozent der bei der letzten Wahl im Wahlkreis abgegebenen Stimmen vorweisen.

Viele Organisationen, Bewegungen und Cabildos (Stadtteilräte) führten Vorwahlen in ihren Wahlbezirken durch. Der Fokus lag dabei auf den Bezirken der Hauptstadt Santiago, da hier aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte besonders viele Delegierte gewählt werden und auch mit moderaten Stimmanteilen Aussicht auf Erfolg besteht. Neben Mesina von No+AFP treten hier auch Karina Nohales, Sprecherin der Coordinadora 8M, und der ehemalige Vorsitzende des Lehrerverbandes, Mario Aguilar, an. Für die Mapuche kandidiert unter anderem die Anwältin Natividad Llanquileo (siehe LN 534). Erst Mitte Dezember, quasi in letzter Minute, hatte das Parlament beschlossen, dass 17 der 155 Sitze für indigene Delegierte reserviert werden, darunter sieben für die Mapuche, zwei für die Aymara und je einer für die weiteren acht anerkannten indigenen Gemeinschaften Chiles.

Die Rechte tritt vereint zur Wahl an

Trotz des Zusammenschlusses der wichtigsten sozialen Bewegungen und der reservierten Sitze für Indigene ist die Sorge groß, dass die politischen Parteien der Rechten am Ende wieder den Ausschlag geben könnten – denn wie so oft ist die Linke zersplittert und die Rechte vereint. „Wir haben es nicht geschafft, dass die ganze Opposition mit einer einzigen Liste antritt. Damit riskieren wir, am Ende keine progressiven Inhalte in der Verfassung zu haben“, kommentierte Heraldo Muñoz, Vorsitzender der moderat linken Partei für die Demokratie (PPD) die Verhandlungen der Mitte-Links-Parteien über die Aufstellung einer gemeinsamen Liste. „Da die Rechte bei Wahlen immer vereint auftritt, während die Opposition zerstritten ist, werden wir nun vielleicht eine überrepräsentierte Rechte im Konvent haben, das ist schlimm“, so Muñoz.

Hintergrund dieser vernichtenden Worte eines führenden Oppositionspolitikers ist das chilenische Wahlrecht, das auch bei der Wahl zum Verfassungskonvent angewandt wird. Die Sitze werden den angetretenen Listen proportional zu ihrer Stimmenzahl zugewiesen, jedoch nicht wie in Deutschland auf nationaler, sondern wie etwa in Spanien auf Wahlbezirksebene, wo weniger Sitze zu vergeben sind. Der für die Gewinnung eines Mandats nötige Stimmenanteil ist daher höher, es werden also Parteien belohnt, die sich zu breiten Listen zusammenschließen. Das verwendete mathematische Sitzzuteilungsverfahren nach D’Hondt verstärkt diesen Effekt noch.

Viele Menschen setzen ohnehin keine große Hoffnung in die Parteien

Die Rechte hat aus diesem Umstand ihre Schlüsse gezogen: Die Regierungsparteien Nationale Erneuerung (RN), Unabhängige Demokratische Union (UDI) und Politische Entwicklung (Evopoli) nahmen trotz angeblicher Bedenken sogar die extrem konservative Republikanische Partei in ihre gemeinsame Liste auf. In der Opposition waren die Differenzen zwischen moderatem und progressivem Lager jedoch offenbar zu groß. Die Parteien des ehemaligen Mitte-Links-Bündnisses Concertación, die Sozialistische (PS) und Christdemokratische Partei (DC), die Partei für die Demokratie (PPD) und die Radikale Partei (PR), bildeten nach langen Verhandlungen schließlich nur gemeinsam mit einigen kleineren Parteien eine gemeinsame Liste. Die Kommunistische Partei (PC) und das nach Austritt einiger Parteien aufgrund interner Differenzen inzwischen etwas dezimierte Frente Amplio bildeten dagegen mit zwei Kleinparteien eine eigene Liste.

Das unglückliche Agieren der linken Parteipolitiker*innen erinnert einmal mehr daran, dass die Menschen, die seit Oktober 2019 auf die Straße gegangen sind, ohnehin keine großen Hoffnungen in die Parteien setzen. Sie haben längst Anstrengungen unternommen, den Prozess hin zu einer neuen Verfassung, selbst mitzugestalten. Bei allen Schwierigkeiten gibt es insofern auch Optimismus: Denn die unabhängigen Kandidat*innen sprechen durchaus Menschen an, die den etablierten Parteien schon längst den Rücken gekehrt haben. Das hat auch Tía Pikachu beobachtet. „Ich hatte Bedenken, weil ich nicht studiert habe, denn das ist das erste, was sie dir vorhalten. Schließlich habe ich gemerkt, dass ich gerade die vertrete, die gar nicht studieren konnten, weil sie sich ja ernähren mussten. Während ich Unterschriften sammelte, haben mich die Leute gefragt, ob ich Mitglied einer Partei sei. Als ich verneinte, war das der erste Schritt dahin, dass sie mir vertrauten. Deswegen glaube ich, dass wir Unabhängige bei diesem Prozess entscheidend sein können.“ Tatsächlich gaben in einer Umfrage von TuInfluyes.com nach dem Plebiszit beeindruckende 81 Prozent der Befragten an, für unabhängige Kandidat*innen stimmen zu wollen.

Es wird also spannend bei der Wahl zum Verfassungskonvent am 11. April, die parallel zu den Kommunal- und Regionalwahlen stattfindet. Vor Beginn der Proteste 2019 hätte die Uneinigkeit der Oppositionsparteien in jedem Fall eine Zweidrittelmehrheit der Mitte-Links-Kräfte im Verfassungskonvent verhindert – und der Rechten damit ein Vetorecht eingeräumt. Dank der unabhängigen Kandidat*innen gibt es dieses Mal zumindest Hoffnung: „Früher glaubten die Armen nicht, dass ihre Stimmen Veränderungen bewirken können. Da hat das Referendum ein Umdenken bewirkt“, stellte die feministische Aktivistin Rosario Olivares gegenüber den LN nach dem Plebiszit fest (siehe LN 559).

Alles begann 2019 damit, dass Schüler*innen die Drehkreuze in den U-Bahn-Stationen übersprangen, jetzt geht es darum, den torniquete electoral zu überspringen, das Drehkreuz des Wahlsystems. Prognosen sind aufgrund der Einmaligkeit der Situation schwierig, eine aktuelle Umfrage zur Wahl des Konvents gibt es nicht. Im derzeitigen Parlament besetzt die Rechte, nachdem sie zur letzten Wahl 2017 ebenfalls geeinter angetreten war als die Linke, 46 Prozent der Sitze. Zur linken Zweidrittelmehrheit scheint es daher ein weiter Weg zu sein. Vielleicht treibt die fortlaufende Repolitisierung der Menschen ja die zuletzt geringe Wahlbeteiligung – bei der letzten Wahl sowie beim Plebiszit nur um die 50 Prozent – und damit auch den linken Stimmenanteil weit genug in die Höhe, um dem chilenischen Wahlrecht diesmal tatsächlich ein Schnippchen zu schlagen.

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