Der gemeinsame Aufbruch
Die Bischofskonferenz von Medellín markiert einen wichtigen Moment für die Theologie der Befreiung
Du hast 1968 am theologischen Fachbereich in Münster im Kontext der damals entstehenden politischen Theologie gearbeitet. Welche Bedeutung hatte Medellín für die Wahrnehmung der Befreiungstheologie bei uns?
Medellín war nur ein Moment innerhalb einer gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung, die es an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt gab. Alle hielten die Möglichkeit eines gemeinsamen Aufbruchs nicht nur für möglich, sondern auch für notwendig. Aber die theologischen Reflexionen und kirchlichen Aufbrüche reichen bis in die Mitte der sechziger Jahre zurück. Die beiden europäischen Theologen Francois Houtart und José Comblin im belgischen Löwen sind dafür repräsentativ. Zu Houtart kamen die Befreiungstheologen (obwohl es diesen Begriff damals natürlich noch nicht gab) zum Studium nach Löwen. Comblin, der später nach Lateinamerika ging, hat eine ganz bestimmte Linie der französisch-belgischen Theologie betrieben, die vom II. Vatikanischen Konzil her auf die „Reflexion der irdischen Wirklichkeit“, wie es damals hieß, ausgerichtet war.
Das hört sich ja fast so an, als sei die Befreiungstheologie in Europa entstanden?
Nein. Die Theologie der Befreiung und zum Beispiel die politische Theologie in Münster sind beide für sich genommen Reaktionen auf unterschiedliche Wirklichkeiten. Beide entstanden jedoch mit dem gleichen Impuls, nämlich aus der Überzeugung heraus, daß eine Reflexion der Theologie nur noch möglich ist unter gleichzeitiger Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie betrieben wird. Letztendlich enstanden beide Theologien im wechselseitigen Dialog.
Im Hinblick auf die Bedeutung von Medellín und die Befreiungstheologie würdest du also gar nicht von einer Rezeption in Europa reden?
Genau. Das gesamte Projekt war zumindest von 1965 bis Anfang der achtziger Jahre ein Dialogprojekt. Und anhand von einigen bedeutenden Befreiungstheologen wie etwa Hugo Assmann, Paulo Suess oder Johannes Caminada läßt sich nachweisen, daß es von Anfang gelungen war. Der Dialogcharakter wird nicht nur daran deutlich, daß viele Lateinamerikaner in Europa, vor allem in Löwen und in Münster studierten. Es gab tatsächlich auch gemeinsame Projekte. Anfang der siebziger Jahre zum Beispiel entwickelte Caminada in den Kupferminen im Norden Chiles ein Arbeiterpastoralprojekt, und in Münster gab es eine europäisch-lateinamerikanische Gruppe, die dieses Projekt begleitete, evaluierte und wissenschaftliches Know-how zur Verfügung stellte. Diese Zusammenarbeit hat dann wiederum unsere Theologie verändert. 1973 setzte der Militärputsch dem Projekt ein Ende.
Auch der Ursprung in Belgien ist nicht zufällig. Der Gründer der Christlichen Arbeiterjugend Joseph Cardijn hatte dort schon in den zwanziger Jahren das Prinzip „Sehen – Urteilen – Handeln“ entwickelt, das später in die Theologie der Befreiung übernommen wurde. Somit handelt es sich eindeutig um ein europäisches Projekt, das über Lateinamerika zu uns zurückgekommen ist. „Sehen – Urteilen – Handeln“ ist eben nicht Theologie der Befreiung, aber es ist durch die Theologie der Befreiung bei uns hoffähig geworden. Indem die Lateinamerikaner das ernstnahmen, was wir schon lange hatten, wiesen sie uns darauf hin, daß wir etwas Wichtiges schon wieder vergessen hatten.
Als die Lateinamerikaner Anfang der siebziger Jahre hierher kamen, brachten sie da schon die spezifische Verknüpfung von Befreiungstheologie und Dependenztheorie mit?
Ja. Die Weiterentwicklung der Gesellschaftsanalyse vor dem Hintergrund des Marxismus und auch einer ganz bestimmten politischen Ökonomie zum Beispiel bei Robinson, André Gunder Frank und Cardoso war in Lateinamerika bereits fortgeschrittener als das, was bei uns an Sozialwissenschaft in der Theologie rezipiert wurde.
Was waren denn die entscheidenen Unterschiede?
Es gab zwar unterschiedliche Meinungen, aber keinen wirklichen Dissens. Das gilt sowohl für den Umgang mit dem Marxismus, wo hinterher rechte und linke Flügel rekonstruiert wurden, noch für die Einschätzung der Möglichkeiten konstruktiver Zusammenarbeit mit der Amtskirche und Konformität mit kirchlichen Dokumenten. Die Lateinamerikaner hatten sicherlich die ideologische Gleichgültigkeit, den Säkularismus und den flächendeckenden Atheismus der modernen Gesellschaft unterschätzt. Aber das waren alles Themen, über die zwar aufgrund der lokalen Wahrnehmung unterschiedliche Wertungen existierten, die aber vergleichbar und diskutierbar waren.
Aber irgendwann gab es doch einen Punkt, an dem die Theologie der Befreiung als etwas Eigenständiges und Unumkehrbares angesehen wurde, wo also eigentlich kein Dialog mehr stattfand?
Ich vermute, daß der Putsch in Chile und die Brutalisierung während der Militärdiktaturen die Gruppen erschreckt haben, die bei uns sensibel für diese Form von Theologie waren oder deren Entwicklung bei uns im Blick hatten. Aus einer falsch verstandenen Bescheidenheit und Ehrfurcht vor dem größeren Leiden haben sie zurückgesteckt. Vielleicht war es sogar die Verklärung und Verherrlichung des Märtyrertums der lateinamerikanischen Befreiungstheologen, der die eigenen Möglichkeiten ungenutzt ließ. Was die theologische Reflexion betrifft, gab es über zehn bis fünfzehn Jahre hinweg eine Phase geradezu lähmender Bewunderung. Deswegen entsteht auch jetzt der Eindruck, als ob die Theologie der Befreiung ein Import gewesen sei, der mehr oder weniger schlecht rezipiert worden ist. Es war aber ein gemeinsames Produkt, wenn auch von uns vernachlässigt wurde, die sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen in Europa zu reflektieren und das methodische Herangehen entsprechend zuzuspitzen, zu verfeinern und zu verbessern. Das war in der Phase von 1965 bis 1973 viel besser entwickelt.
Hätte man diese Phase der Lähmung verhindern können?
Wir hätten unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen weiterhin an einer gemeinsamen Theologie arbeiten sollen, die auf Gesellschaftskritik, der Veränderung der Gesellschaft und die Rekonstruktion der Kirche hin ausgerichtet ist. Ein reiner Import von Spiritualität oder Basisgemeindenbegeisterung wie in den achtziger Jahren mußte scheitern, genauso wie früher die kolonialistische Theologie gescheitert ist, weil sie ein spanisch-französisch-deutsches Importgut war.
Die achtziger Jahren waren dann ja die Jahre der Erfolge der Befreiungstheologie: Basisgemeinden, Allianzen mit Befreiungsbewegungen etc…
Der Fehler auf beiden Seiten war, nicht daran zu denken, daß auf unterschiedlichen Ebenen und verschiedenen Niveaus eine gemeinsame Weiterarbeit notwendig ist. Und daß das nicht im Schema von Bewunderung und Anerkennung auf der einen und Entwicklungshilfe im Sinne des spirituellen Angebots auf der anderen Seite geschehen konnte. Wir hätten den unterschiedlichen Verlauf der Entwicklung reflektieren müssen: Warum ist in Lateinamerika ein Neuaufblühen kirchlichen Lebens zu beobachten, während es bei uns stagniert? Was können wir gemeinsam daraus lernen, und was müssen wir in der BRD und Lateinamerika tun, damit der konstruktive Dialog, der immer schon unter unterschiedlichen Bedingungen stattgefunden hat, weitergeführt wird?
Man hätte zum Beispiel die Lateinamerikaner fragen können: Welche gemeinsamen Projekte können wir denn jetzt bei uns machen, so wie es in den siebziger Jahren gemeinsame Projekte in Lateinamerika gab. Erst heute, wo auch die Theologie der Befreiung ihre Schwächen zeigt, wird mir deutlich, daß wir die Sachen haben liegen lassen. Dafür war aber damals niemand sensibel.
Die Theologie der Befreiung hat in den achtziger Jahren nicht nur politisch, sondern auch im Sinne der „Rekonstruktion von Kirche“ Erfolg gehabt. Wenn es eine Differenz zwischen Lateinamerika und der BRD gibt, liegt die möglicherweise genau hier? Wo arbeiten wir hier an der „Rekonstruktion von Kirche“ mit?
Ich habe es schon immer als Dilemma angesehen – zumindest in den zwanzig Jahren, die ich überblicke –, daß wir letztlich eine Art von Kirche befürworten, die weder von dieser Gesellschaft noch von der offiziellen Kirche erwünscht ist. Das, was in Lateinamerika wenigstens regional möglich war, nämlich die Reform der Gesellschaft und der Kirchen gleichzeitig zu betreiben, wurde bei uns verhindert bzw. bekämpft. Die gesamten Energien waren in diesem Zweifrontenkampf gebunden: Ich muß sozusagen erstmal im Binnenraum Kirche legitimieren, daß dieser Neuanfang genuin richtig ist und den Grundlagen entspricht, und ich muß ihn zusätzlich gegen eine säkularisierte und letztlich interessenlose Gesellschaft vertreten, die sich ihre Sinnpotentiale sonstwoher nimmt. Da hatten es die Lateinamerikaner einfacher, weil sie wenigstens lokal intakte Übereinstimmungen zwischen Gesellschaft und Kirche vorfanden, die sie gemeinsam weiterentwickeln konnten.
Du würdest nicht behaupten, daß es eine tödliche Differenz ist, daß die Volksreligiosität in Lateinamerika funktioniert, während sie bei uns so unwiderruflich zerstört ist, daß hier jeder Neuanfang von Theologie völlig unmöglich ist?
Nein. Ich meine, das Problem liegt in der Überbelastung durch die doppelte Frontstellung. Die vielfältigen Sinnangebote, die es bei uns gibt, beweisen ja nicht nur, daß es einen begrüßenswerten Pluralismus gibt, sondern auch, daß die nicht mehr gemeinschaftsförmige und auch nicht mehr verpflichtende Tendenz auch in kirchlichen Bereichen einen Neubeginn schwierig macht. Das gleiche Schicksal erlebt die lateinamerikanische Kirche in den Sektoren, die von der Befreiungstheologie renoviert, reformiert oder sogar revolutioniert sind. Aber statt daraus zu lernen, wird eher resignativ gesagt, daß wir jetzt nur noch die vielgestaltige Religiosität einer globalisierten Weltgesellschaft anerkennen und uns für den individuellen Gebrauch aus diesem Angebot nehmen können, was hilfreich ist. Das, was gesamtgesellschaftlich ohnehin im Gange ist und meiner Meinung nach katastrophale Züge hat, wird auf der theoretischen Ebene, sei es aus theologischer, soziologischer oder pädagogischer Perspektive als legitime Entwicklung gepriesen und anerkannt, so daß du auf allen Ebenen gegen diese Dinge angehen mußt und dann auch irgendwann nicht mehr kannst. Im banalen Sinne der Endlichkeit des eigenen Energievorrates.
Wenn Du jetzt an den Dialog der ersten Jahre am Fachbereich zurückdenkst, was waren aus heutiger Sicht die wichtigsten und vielleicht auch aufregendsten Aspekte? Was waren die Punkte, die Du nach wie vor für wichtig hälst und an denen weitergearbeitet werden müßte?
Für mich war damals das Ziel am aufregendsten, eine theologische Wissenschaft konsequent zu betreiben, die sich kontextuell in dem Sinne versteht, daß sie die gesellschaftlichen Bedingungen, die Adressaten, die Subjekte und die Verlaufsformen gesellschaftlicher Konflikte beachtet und erst dann Inhalte und Aussagen vertritt. Diese Einsicht hat nach wie vor Gültigkeit.
Gesamtgesellschaftlich nicht zu rekapitulieren ist allerdings die damals vorhandene breite Erwartung an die Hilfestellung und Bündnisfähigkeit einer fortschrittlichen Theologie, die sich ’68 in Berlin, in Paris, überall dokumentiert hat. Daß Theologie als Wissenschaft fast freiwillig ihren Führungsanspruch innerhalb eines kritischen gesamtgesellschaftlichen Konzertes aufgegeben hat, das ist ihre eigene Schuld. Diese Funktion ist ihr nicht von der Gesellschaft genommen worden.
Auch geht es nach wie vor darum, eine Tradition aufrechtzuerhalten, die gesellschaftskritische Tendenzen mit persönlichem Engagement verknüpft. Also Ernst zu machen damit, daß die Gegenwart aus der Tradition des Glaubens adäquat zu deuten ist, und Formen zu finden, in denen das umgesetzt wird. Ernst zu machen damit, daß die private Arbeit öffentlichen Charakter gewinnen muß, um einen Impuls für die Veränderung des Gegenwärtigen zum Besseren hin zu bekommen. Darin könnte ja bis heute einiges an Grunderkenntnissen des Marxismus positiv beerbt werden.
Ich glaube, daß diese Verknüpfung von Denken und Engagement, von Biographie und öffentlicher Präsenz bestimmter Ideen eine Einsicht der 68er war, die nicht zurückgenommen werden darf. Das aber passiert heute leider überall nach dem Motto: Wir haben uns getäuscht, der Sozialismus war nicht aufzubauen. Die Reformen, die wir wollten, waren nicht durchsetzbar. Das Erlebnis jener Zeit, daß die Menschen auf der Straße, in den Hörsälen, in den verschiedenen Disziplinen, in einem kulturellen Diskurs zusammenfanden, der in ganz unterschiedlichen Sprachen und Intentionen gepflegt wurde, darf man nicht vergessen. Es gab damals einen elan vitale, um es mal mit Bergson zu sagen, den ich heute vermisse, und der nicht nur die kirchlichen Sektoren prägte. Heute ist allein die Erinnerung an diese Möglichkeit so vernebelt, daß es schwierig ist, ihn Leuten zu vermitteln, die daran nicht beteiligt waren oder erst zwanzig sind. Was es bedeutet, und warum es auch schön war und nicht einfach nur politisch turbulent.