Nummer 321 - März 2001 | Straflosigkeit

Der konsequente Musiker

León Gieco zur politischen Vergangenheit und Gegenwart Argentiniens

Harald Neuber, Jürgen Vogt

Am 24. März jährt sich zum 25. Mal der Militärputsch in Ihrem Land. Wie werden Sie diesen Tag verbringen?

Wir werden ein Konzert geben, um daran zu erinnern, was während der Diktatur geschehen ist. Unsere Lieder werden eine zentrale Botschaft haben: Mit den Mördern gibt es kein Pardon! So lange, bis es Gerechtigkeit gibt. Obwohl ich gebeten wurde, auch einen Tag später in Buenos Aires zu spielen, werde ich an diesem Tag im Landesinneren sein. Dort gebe ich ein Konzert für behinderte Kinder. Buenos Aires werde ich bewusst verlassen, denn im Grunde ist der 24. März für uns ein Tag wie jeder andere. Bei allem, was wir tun, und egal wann und wo wir sind, werden wir immer für die Verschwundenen, ihre Mütter und Großmütter singen.
Darüber hinaus haben wir eine sehr lange Erfahrung mit Militärputschen in Argentinien. Wenn wir vom Putsch sprechen, meinen wir zwar den von 1976, aber seit 1930 hat es bereits drei gegeben. Onganía, Levingston und Lanusse sind die Namen der vorherigen Juntachefs. Ich bin in der Zeit der Diktatur von Lanusse aufgewachsen, und in dieser Zeit begannen die sozialen Kämpfe. Die Menschen waren der Diktatur müde und begannen sich für die Demokratie einzusetzen. Die einzige Chance damals bestand darin, sich der zwielichtigen Person von Juan Perón anzuschließen, der in Spanien im Exil war. Als er nach Argentinien zurückkam, ließ er allerdings die jungen Revolutionäre, die sich am meisten für seine Rückkehr eingesetzt hatten, von der Plaza de Mayo vertreiben. Als Perón starb, wurde seine Witwe Isabel Perón Präsidentin, und damit begann die erste Welle der Repression mit der Bildung der Triple A (Antikommunistische Allianz Argentiniens), also noch in der Zeit einer demokratischen, peronistischen Regierung. Es gab die ersten Morde an Gewerkschaftern und an führenden Personen, die in den sozialen Kämpfen aktiv waren. Ich glaube, die Triple A wurde gegründet, um herauszubekommen, wer diese jungen Menschen waren, die sich hier engagierten. Und noch bevor der Militärputsch stattgefunden hatte, legten die Militärs der Regierung Isabel Perón einen Befehl zur Vernichtung dieser jungen Leute zur Unterschrift vor. Die Präsidentin und der heutige Gouverneur der Provinz Buenos Aires Carlos Ruckauf haben ihn auch unterschrieben. Erst vor kurzem hatte Ruckauf bestätigt, dass er einen solchen Befehl unterzeichnet hat und die Unterschrift auch nicht bereuen würde. Deshalb ist der Putsch nicht nur eine militärische Angelegenheit, denn als die Militärs sich schließlich an die Macht putschten, hatten sie einen unterschriebenen Befehl, diese so genannten subversiven Jugendlichen zu vernichten.

Wie war die Reaktion der Bevölkerung auf den Putsch?

Das größte Problem ist, dass die Menschen in Argentinien daran gewöhnt sind, unter einer Militärregierung zu leben. Es gab in diesen Zeiten immer eine repressive und paternalistische Erziehung. Jahrelang waren 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung damit einverstanden, was das Militär tat. Das Problem ist deshalb nicht, das eine kleine Gruppe von Militärs einen Putsch machen wollte, sondern dass fast das gesamte Land einen Putsch wollte. Für viele wird erst jetzt deutlich, welche Barbarei unter der Diktatur geherrscht hat.

Wovon handeln im Jahr 2001 die Lieder eines Mannes, der mit Texten gegen die Militärdiktatur in Argentinien in den 70er und 80er Jahren bekannt geworden ist?

Die Lieder, die nach der Zeit der Diktatur entstanden sind, sind wiederum ein Ergebnis der Diktatur. Sie sind aus den Erinnerungen der Menschen entstanden. Ihr Sinn ist es, an die Verbrechen zu erinnern und zu vermeiden, dass so etwas jemals wieder geschieht.
In der Ära Perón haben wir música social gemacht. Wir haben mit Gewerkschaftsführern, Arbeitslosen und Arbeitern, die kurz vor dem Rausschmiss standen, zusammengearbeitet. Als die Militärdiktatur begann, wurde unsere Musik zur Musik des Widerstands, und die Platten von Silvio Rodríguez, Pablo Milanés, Víctor Jara oder mir gab es nur unterm Ladentisch. Es gab endlos lange schwarze Listen von Liedern, die nicht im Radio gespielt werden durften. Wer dennoch zu populär wurde, wurde einfach rausgeschmissen. Und so haben einige Musiker einige Zeit, im Falle von Mercedes Sosa sogar sieben Jahre, im Ausland verbracht. Als 1983 mit Raúl Alfonsín die Demokratie zurückkam, konnten wir alle zurückkehren und in voller Freiheit arbeiten, allerdings in einem Rahmen, in dem die Konsequenzen der Diktatur zu spüren sind. Dazu kommen die Auswirkungen der kapitalistischen Globalisierung. Und von da an machten wir música consecuencia, also eine Musik der Konsequenz, die diese Geschichte mit sich gebracht hat.

„Sólo le pido a dios“ („Nur darum bitte ich Gott“) gehört zu Ihren bekanntesten Liedern. Mit Gott, sagten Sie einmal, ist das Volk gemeint. Was erbitten Sie vom Volk?

Ich habe dieses Lied 1978 komponiert. Damals drohte ein Krieg zwischen Argentinien und Chile wegen andauernder Grenzstreitigkeiten, und um diesen Krieg zu verhindern, habe ich diese Lied geschrieben. Die Militärs sagten mir, ich dürfe dieses Lied nie wieder singen, denn wir seien in einer Zeit des Krieges, und da dürfe man keine Lieder über den Frieden singen. Später, als Argentinien 1982 den Malvinas-Krieg gegen England verloren hatte, ernannten die Militärs dieses Lied zu einer Sache von nationalem Interesse. Und es wurde gesetzlich festgelegt, dass es im Radio gesendet werden müsse. Heute möchte ich im Grunde genommen die gleichen Dinge wie damals. Dass das Volk sich für Frieden einsetzt. Was ich mit den Liedern erreichen möchte und immer wieder anspreche, ist, dass sich die Menschen für ihre Rechte einsetzen: ein Dach über dem Kopf, Arbeit, Essen für die Kinder, Bildung für die Kinder, einen Krankenhausplatz für jeden Kranken und Freizeit, das Recht, sich vom Alltag zu befreien und das Leben zu genießen.

Welchen Stellenwert hat der Prozess, der nach dem Ende der Diktatur den Militärs gemacht wurde?

Nach den Erfahrungen dieser brutalen Militärdiktatur schien es für viele unmöglich, dass es einen Prozess gegen die Täter geben würde. Ich erinnere mich daran, dass 1985 auf dem Gelände um den Gerichtort immer Tausende von Menschen standen. Als dann die Hauptverantwortlichen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, war das wie ein Fest der Menschenrechte. Aber als unter Alfonsín 1986 das Schlusspunktgesetz und 1987 das Gesetzt über den Befehlsnotstand verabschiedet wurde, waren das sehr bittere und harte Schläge. Das Befehlsnotstandsgesetz wurde vom Kongress angenommen, in nur drei Stunden hatten sie alles über die Bühne gebracht. Dieser Generalpardon bedeutete, dass alle Taten der Militärs straflos blieben. Dabei ging es um 3.000 bis 4.000 Personen, die als die übelsten Folterer und Mörder bekannt waren. Nur die bereits lebenslänglich verurteilten Hauptfiguren der Diktatur blieben in Haft. Diese wurden dann von Menem zu Beginn seiner Amtszeit amnestiert.

Spielt das Thema Gerechtigkeit und Strafverfolgung in Argentinien noch eine Rolle?

Mit der Justiz ist das so eine Sache. Wie auch der Begriff der Gerechtigkeit wird sie von den Mächtigen definiert. Viele Länder dieser Welt haben das immer wieder bewiesen, auch Deutschland, wo die Mehrzahl der Naziverbrecher nicht vor Gericht gestellt wurde. Und wenn ihnen ein Verfahren drohte, dann sind sie eben ausgewandert, zu uns zum Beispiel, nach Argentinien. Auch in Spanien ging man mit den Verbrechern der Franco-Diktatur äußerst nachgiebig um. Gerechtigkeit wird sich immer nur dort zeigen, wo gekämpft wird. Auf der Seite der armen Leute und der kleinen Leute wird sie sich niemals automatisch ergeben. Während wir darüber diskutieren, welche Gesetze angewandt werden sollen, laufen die Täter seit nunmehr 25 Jahren frei herum. Aber wenn so etwas wie die Prozesse in Spanien passiert, ist das wie ein Aufatmen für die Menschen, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Die Menschen in Argentinien sind schon über diese Prozesse informiert. Es gibt aber nur eine Tageszeitung, die wirklich schreibt, was passiert, und da gehen dann alle Drohbriefe ein. Das größte Problem ist die Angst, ermordet zu werden. Die Leute, die kommen, um die umzubringen, lesen vorher keine Gesetze, die werfen dir eine Bombe in dein Haus, und das wars. Die gewöhnlichen Leute in Argentinien haben vor allem das Bedürfnis zu vergessen, was passiert ist. Sie fragen sich, warum ist das uns passiert. Ich antworte dann immer: Das ist uns passiert, weil wir es sind, weil wir so denken, wie wir denken.

Was halten Sie davon, dass argentinische Militärs im Ausland vor Gericht gestellt werden sollen?

In Lateinamerika ist keiner der Folterer und Mörder jemals verurteilt worden. Und wenn es doch zu einer Verurteilung kam, dann sind sie hinterher amnestiert worden. Von daher gibt es in Lateinamerika keine Lösung, im Gegenteil, die Gesetze schützen sie sogar. Wenn jemand behauptet, ihr müsst die nicht in Spanien verurteilen, das machen wir in Argentinien, so ist das einfach eine Lüge. Ich glaube, ein Teil der Lösung könnte die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes sein. Allerdings ist die Justiz sehr schwach, weil sie immer auf der Seite der Macht steht. In England hatten sie Pinochet. Nach seiner Rückkehr hat er allen den Stinkefinger gezeigt. In Italien hatten sie Olivera, und ließen ihn wieder laufen. In Mexiko sitzt jetzt Cavallo und ist noch nicht an Spanien ausgeliefert. Erst kürzlich wurde Präsident De la Rúa gefragt, was er von einem internationalen Gerichtshof halte. Er sei damit einverstanden, aber erst ab heute, alles davor zähle nicht.

Wie präsent ist die Geschichte der Diktatur bei den Jugendlichen?

Die Verbrechen der Diktatur werden in den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen nicht thematisiert. Es gibt kein Schulbuch, in dem steht, dass unter der Militärregierung 30.000 Leute umgekommen sind, ebensowenig in Chile. Es wird einfach ausgeklammert, als gäbe es da ein Loch, über das nicht gesprochen werden soll. Dieses Loch ist nun schon 25 Jahre tief, das sind zwei Generationen. Darum ist es nötig, sich auf den Demonstrationen oder in Gesprächen mit den Hinterbliebenen der Verschwundenen zu verständigen. All dies in das Bildungssystem aufzunehmen, ist auf jeden Fall ein Ziel, ohne das der Vergangenheit nicht begegnet werden kann. Wir kämpfen dafür, dass auch den Kindern und Jugendlichen in der Unter- und Mittelstufe die Geschichte gelehrt wird, von der das ganze Land weiß. Wenn die Kinder nicht mehr lernen, was Solidarität ist, sie nicht mehr die Bedeutung der Menschenrechte lernen, dann ist ihnen alles egal. Für sie ist alles nur noch Scheiße. Und sie haben Recht damit. Deshalb nehme ich ihnen auch ihre Musik ab. Ich höre die Musik der Bands von 15 bis 28-Jährigen. Sie ist agressiv und laut, damit man nichts anderes mehr hören kann oder muss. Die wenigsten nehmen Drogen, aber sie zerlöchern sich das ganze Gesicht und den Körper und stecken sich Ringe durch. Ich glaube an sie, warum auch nicht. Das heißt aber nicht, dass es immer so sein wird. Vielleicht kommt eine neue Generation, die dann in der Schule etwas von den Verbrechen der Militärdiktaturen in ihren Ländern erfährt.

Argentinien bezeichnet sich heute als eine Demokratie …

Argentinien ist heute eine Demokratie.

Wie sieht die Lage der Menschenrechte heute aus?

Es ist für Lateinamerikaner sehr schwer, an Gesetze zu glauben. Während wir hier darüber reden, mit welchen Gesetzen die spanische Justiz oder die Staatsanwaltschaft in Nürnberg aktiv werden können, lässt die argentinische Polizei wieder junge Leute verschwinden. 700 neue Verschwundene während der Demokratie gehen vermutlich auf das Konto der Polizei. Während der zehn Jahre Menem sind 150.000 Kinder und Jugendliche an Hunger und Krankheiten gestorben. Deshalb sind die Menschen verzweifelt. Und während wir nach alten Gesetzen suchen, müssen wir neue finden, als Reaktion auf das, was gerade passiert.

Was bleibt?

Es muss gekämpft werden, trotz alledem und jeden Tag. Denn der Kampf ist mit der Hoffnung verbunden und die Hoffnung mit der Utopie. Und das gibt uns die Kraft dazu.

Der Text ist die Zusammenfassung aus einem Interview mit León Gieco und seinen Erläuterungen während einer Veranstaltung zum Thema „Verschwunden – vorbei und vergessen? Geschichtsaufarbeitung in Lateinamerika“, die im Rahmen des Festivals Musik und Politik in Berlin am 23. Februar stattfand.

KASTEN

Der aus dem Dorf Cañada Rosquín, Santa Fe, stammende Gieco machte sich in seiner argentinischen Heimat bereits 1973 einen Namen als kritischer Liedermacher und Sänger.
Während der Militärdiktatur musste er seine Heimat verlassen, jedoch kehrte er bereits 1978 zurück und schrieb als Antwort auf die Diktaturen in Südamerika „Sólo le pido a Dios…“, eines der Lieder, die auch andere SängerInnen wie Mercedes Sosa interpretierten und in der ganzen Welt bekannt machten.
Auch nach dem Ende der Diktatur blieb sein Finger auf den Wunden. Eindrücklich sind seine Lieder gegen die Straffreiheit der Militärs, die 500-jährige Versklavung des Kontinents und den Reichtum der einen auf Kosten der anderen.
Seine Texte sind aber nicht vordergründig politisch, sie haben Musik und – Seele, wie er es selbst ausdrückt. Verblüffende musikalische – und lyrische – Experimentierfreudigkeit zeigte er erst vor kurzem mit der CD Orozco. Mit seinen Interpretationen südamerikanischer Folklore wie Chacareras, Chamamés etc. („Pensar en Nada“, „De Usuhaia a La Qiaca“) hat er dieser wieder zu großer Popularität verholfen.
Ein Faden, der sich bei aller Vielfältigkeit durch sein ganzes Werk spinnt, bleibt jedoch immer die aufbegehrliche Nostalgie, der Herbst im Herzen, das einen Frühling ahnt.

KASTEN

Die Erinnerung

Die alten Lieben, die nicht mehr sind / die Erwartung derer, die verlieren / alle die Versprechungen, die vergehen / die in jedem Krieg fielen
Alles ist in der Erinnerung aufbewahrt
Der Traum vom Leben und der Geschichte

Der Betrug und die Komplizenschaft / der Völkermörder, die frei herumlaufen / Die Begnadigung und der „Schlusspunkt“ / für die Bestien jener Hölle

Zweitausend äßen ein ganzes Jahr / von dem, was das Militär in einer Minute verpulvert / Wie viele wären keine Sklaven mehr / für den Preis einer Bombe ins Meer
Alles ist eingebrannt in die Erinnerung
Rückgrat des Lebens und der Geschichte
(…)
All die Toten der AMIA / und der Botschaft Israels
Die geheime Macht der Waffen / Die Justiz schaut zu, ohne zu sehen
Alles ist versteckt in der Erinnerung
Zuflucht des Lebens und der Geschichte

Damals, als die Kirchen schwiegen, / als es plötzlich nur noch Fußball gab, / damals war es, als die Palotiner und Angelelli / ihr Blut im Schlamm vergossen
Alles ist versteckt in der Erinnerung
Refugium des Lebens und der Geschichte

Die Erinnerung bricht aus und besiegt / die Völker, die sie erdrücken wollen / und die sie nicht sein lassen / Frei wie der Wind

Die Kugel auf Chico Mendez in Brasilien / 150 tausend Guatemalteken / Die Bergleute, die sich dem Gewehr entgegenstellen / Repression gegen die Studenten in Mexiko
All das lastet in der Erinnerung
Waffe des Lebens und der Geschichte
(…)
Die Erinnerung legt an und tötet / Die Völker, die sie verschweigen / Und sie nicht fliegen lassen / Frei wie der Wind

León Gieco


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