Mehringhof | Nummer 317 - November 2000

Der Kronzeuge redet und redet und redet ….

Nun ist es amtlich: Der Versuch der Bundesanwaltschaft (BAW), im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen die Revolutionären Zellen bei zwei Durchsuchungen des Mehringhofs im Dezember `99 und im Mai dieses Jahres Sprengstoff zu finden, ist gescheitert. Enormer Personalaufwand und modernste Überwachungstechniken führten zu nichts – außer zu der Beschlagnahme eines handelsüblichen blauen Müllsacks. Die auf Angaben des Kronzeugen Tarek M. beruhenden Hinweise auf ein Sprengstoffdepot haben sich als Unfug herausgestellt.

LN

Mittlerweile wurden der MehringHof GmbH vom Bundeskriminalamt 94.000 DM aufgrund der bei der ersten Durchsuchung im Dezember angerichteten umfänglichen Schäden zurückerstattet. Leider sind damit aber weder die in diesem Fall angelegten Akten geschlossen noch die durch Kronzeugen-Aussagen Inhaftierten freigelassen worden. Mit den nachfolgenden Zitaten aus einem Flugblatt des Solibündnisses zum Verfahrensstand, genügen wir unserer in diesem Fall leidigen Chronistenpflicht: „Verrat scheint sich zunächst auszuzahlen. Das legt zumindest einmal mehr das gegenwärtige Ermittlungsverfahren gegen die sechs Beschuldigten nahe, denen die BAW die Mitgliedschaft in den Revolutionären Zellen und die Beteiligung an deren Aktionen gegen die inhumane Flüchtlingspolitik in den 80er und 90er Jahren in Berlin anlasten will. Während der Kronzeuge Tarek M. bereits im April aus der Haft entlassen wurde, wurde vom Bundesgerichtshof (BGH) am 4. August für alle anderen Beschuldigten die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck kritisierte im Namen der Verteidigung den BGH-Beschluss: ‘Die Beschuldigten leben alle in stabilen Wohn- und Arbeitsverhältnissen. Bis auf eine Ausnahme (Verurteilung aus dem Jahr 1987) sind sie alle strafrechtlich unbelastet. Die Vereinigung um die es geht, die Revolutionären Zellen, wurde vor mehreren Jahren aufgelöst. Deswegen ist die Annahme einer Fluchtgefahr im Falle der vier Beschuldigten nicht zu rechtfertigen. Besonders kritikwürdig ist dabei, dass die Fluchtgefahr auch damit begründet wird, dass – so der BGH-Beschluß – die Auslieferung in solchen Fällen politisch motivierter Straftaten problematisch ist.’ Diese Formulierung bezieht sich auf das Verfahren gegen den in Kanada lebenden Lothar E., der zumindest derzeit nicht ausgeliefert wird. Wolfgang Kaleck weiter: ‘Damit wird den in Deutschland befindlichen Beschuldigten praktisch zum Vorwurf gemacht, dass in anderen Staaten bei politisch motivierten Straftaten offensichtlich rechtsstaatlichere Maßstäbe gelten.’
Erstaunlich ist die Bewertung der widersprüchlichen Aussagen des Kronzeugen durch den BGH – die einzige Grundlage, auf der Axel H., Harald G., Sabine E. und Matthias B. in Untersuchungshaft sitzen. Seit spätestens Dezember wird Tarek M. von Beamten des BKA und der BAW vernommen, ohne dass die Verteidigung informiert wird oder den Zeugen selbst befragen kann. Dabei werde er ‘auf Widersprüche innerhalb seiner eigenen Aussagen’ aufmerksam gemacht und könne so seine Angaben nachbessern, kritisieren die VerteidigerInnen. Zwar stellt der BGH fest, dass die Aussagen des Kronzeugen Tarek M. Widersprüche aufweisen, deutet dies aber als ‘Bemühen um wahrheitsgemäße Angaben’. Dass er sich ‘bei einer Vielzahl der Beteiligten und Geschehnisse im Einzelfall geirrt haben kann, belegt seine Unglaubwürdigkeit nicht’, so der BGH.”
Dennoch deutet der BGH-Beschluss auf einen baldigen Prozessbeginn hin. Die BAW kündigte an, dass noch im Herbst Anklage beim Kammergericht Berlin zumindest gegen einen Teil der Beschuldigten erhoben werden soll. Die Tatsache, dass sechs Menschen allein auf Grund widersprüchlicher bis fehlerhafter Aussagen eines Kronzeugen zum Teil nun schon seit zehn Monaten in Haft sitzen, wird von dem Berliner Solibündnis als „ein Skandal“ bezeichnet.

Solikonto des Berliner Bündnisses: Martin Poell, Kto.-Nr. 2705 – 104 / BLZ: 100 100 10, Postbank Berlin / Stichwort Freilassung / Kontakt: Soli-Büro im Mehringhof, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin, Tel.: 030 – 693 56 70, Montag 16 – 19 Uhr / Aktuelle Informationen unter: www.freilassung.de

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