Aktuell | Argentinien | Nummer 593 - November 2023

Der Löwe ist auf dem Sprung

Der Ultrarechte Javier Milei will mit radikalem Staatsabbau ins Präsidentenamt

Der erste Wahlgang zu den argentinischen Präsidentschaftswahlen am 22. Oktober wirft seine Schatten voraus. Jüngste Umfragen und die erste TV-Debatte der fünf Kandidat*innen legen nahe, dass der ultrarechte Anarcho-Kapitalist Javier Milei in die Stichwahl am 19. November einziehen wird. Sein voraussichtlicher Gegner wird dann der jetzige Superminister Sergio Massa sein, der derzeit die Ministerien für Wirtschaft, Produktion und Landwirtschaft unter sich hat. Milei und Massa stehen für eine konträre wirtschaftspolitische Ausrichtung: Milei will so viel Staat abschaffen wie möglich, Massa so viel Staatseinfluss wie nötig.

Von Martin Ling
Inszenierung als Gegner des Establishments Milei hat die Nase voll von den “bürokratischen Faulpelzen” (in Argentinien ñoquis genannt) (Foto: Marcus Christoph)

„Wenn ihr mir 20 Jahre gebt, sind wir Deutschland. Wenn ihr mir 35 Jahre gebt, sind wir die Vereinigten Staaten.” Javier Milei, der sich selbst als Löwe und König einer verlorenen Welt stilisiert, richtete sich mit dieser vollmundigen Ankündigung an die Zuschauer*innen bei der ersten Debatte der Präsidentschaftskandidat*innen. Diese fand am 1. Oktober in Santiago del Estero im Norden Argentiniens statt, am 8. Oktober soll (nach Redaktionsschluss) in Buenos Aires eine weitere folgen. Dass in Argentinien mehr als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten, also mehr als acht Jahre ohne Unterbrechung, in der Verfassung für eine Präsidentschaft nicht erlaubt sind, dürfte dem 52-jährigen Anarcho-Kapitalisten Milei egal sein. Ähnlich wie der Autokrat Najib Bukele in El Salvador wird der derzeit für die ultrarechte La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran, LLA) im Abgeordnetenhaus sitzende Milei versuchen, sich die Verfassung untertan zu machen, sollte er es in die Casa Rosada schaffen.

Beim ersten Wahlgang am 22. Oktober, bei dem es für die Präsidentschaft mehr als 45 Prozent der Stimmen oder mindestens 40 Prozent der Stimmen plus zehn Prozentpunkte Vorsprung bedarf, wird Milei der Sprung in die Casa Rosada, den Dienstsitz des argentinischen Präsidenten, laut Umfragen nicht gelingen. Ob bei einer Stichwahl am 19. November im zweiten Anlauf, steht in den Sternen. Ein am 1. Oktober von El País vorgelegter Querschnitt aus 18 Umfragen sieht Milei mit 35,3 Prozent vor dem Rechtsperonisten Sergio Massa mit 30 Prozent und der ehemaligen Innenministerin der rechten Regierung Macri, Patricia Bullrich, mit 25,9 Prozent. Weit abgeschlagen und ohne Chance auf die Stichwahl folgen der peronistische Gouverneur Juan Schiaretti aus Cordóba mit 3,4 und die trotzkistische Myriam Bregman mit 2,6 Prozent.

Diese Umfragen wurden allesamt vor dem Korruptionsskandal rund um Martín Insaurralde gemacht, der seit dem 30. September die Schlagzeilen beherrscht. Der bis dato Stabschef der peronistischen Regierung der Provinz Buenos Aires musste zurücktreten, nachdem eine Reihe von Fotos und Videos aufgetaucht war, auf denen er in Begleitung eines Models während eines Luxusurlaubs auf einer Yacht in Marbella zu sehen war. Laut seiner Steuererklärung ist Insaurralde arm wie eine Kirchenmaus. Von diesem Skandal profitiert Milei auf alle Fälle. Ob Massa auch zu Lasten von Bullrich deswegen Stimmen verliert, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Dass Milei Deutschland und die USA als Vorbild wirtschaftlicher Stärke nennt, hat einen Anflug von Größenwahnsinn angesichts der aktuellen Lage. Die wirtschaftliche Gegenwart ist düster und steht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung im Wahlkampf, zumal mit Sergio Massa der seit Anfang August 2022 amtierende Minister für Wirtschaft, Produktion und Landwirtschaft selbst für das höchste Staatsamt kandidiert. Somit steht er in zentraler Mitverantwortung für die Inflation, die mit zuletzt 124,4 Prozent immer weitere Höhen erklimmt. Dasselbe gilt für die Armutsrate: Mehr als 40 Prozent der Argentinier*innen werden von der Statistikbehörde INDEC inzwischen als arm geführt — damit nähert sich die Zahl der größten Krise dieses Jahrhunderts an, als 2001/2002 mehr als die Hälfte aller Argentinier*innen in die Armut abrutschte. Damals gab es auf der Straße nur noch einen Slogan für die politische Klasse „Que se vayan todos“ (Alle sollen abhauen). An diesen knüpft Milei an, stellt sich als Außenseiter dar, der mit der „Politikerkaste“ samt Korruption und Vetternwirtschaft aufräumen will.

Gegenkandidat Sergio Massa gehört fraglos zum peronistischen Establishment. Der ehemalige Bürgermeister von Tigre war 2015 maßgeblich mitverantwortlich für die Spaltung des peronistischen Lagers, als er selbst neben der offiziellen Kandidatur von Daniel Scioli seinen Hut für die Präsidentschaft in den Ring warf und damit indirekt dem neoliberalen Mauricio Macri zum Sieg verhalf. 2019 gelang es dem amtierenden Präsidenten Alberto Fernández, Sergio Massa wieder mit ins peronistische Boot zu holen, wofür Massa als Gegenleistung den Vorsitz des Abgeordnetenhauses erhielt. Nun soll er im Namen der Peronisten für die Unión por la Patria (Union für das Vaterland, UxP) die Präsidentschaft holen.

Anfang August 2022 rückte Massa als Superminister ins Kabinett auf, mit dem Ziel, der Wirtschaftskrise Herr zu werden. Das hat definitiv nicht geklappt. Die Wirtschaft stagniert, während die Preise steigen und der Wert des Peso immer weiter verfällt. Massa kündigte zuletzt erneut Maßnahmen an, die die Auswirkungen der Inflation abmildern sollen. Beispielsweise wurde ab September die Mindestrente auf umgerechnet rund 230 Euro erhöht und die Bezieherinnen staatlicher Renten und Pensionen erhalten für die drei Monate September, Oktober und November Zuschläge von rund 100 Euro monatlich.

Argentiniens Arme und große Teile der Mittelschicht gehen weiter schweren Zeiten entgegen

Die Spielräume für Massa sind eng, weil über allem die Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) steht. Diese sieht vor, das primäre Haushaltsdefizit – also ohne Einberechnung des Schuldendienstes – 2023 auf 1,9 Prozent zu senken und bis 2024 auszugleichen. Argentinien liegt dabei nicht auf Kurs, bekam aber vom IWF Ende August trotzdem eine neue Tranche von 7,5 Milliarden US-Dollar bewilligt, die in den Schuldendienst fließt und somit die Zahlungsunfähigkeit verhindert. Einerseits zeigte der IWF Verständnis, dass Argentinien die Ziele wegen des massiven Einbruchs bei den Agrarexporten wegen der langanhaltenden Dürre nicht einhalten konnte, andererseits gab es die neue Finanzspritze nur gegen neue Auflagen. Unter anderem müssen die Energietarife weiter angehoben werden und der Erhöhung von Pensionen und Gehältern wurden enge Grenzen gesetzt, die im letzten Maßnahmenpaket mit den dürftigen Erhöhungen sichtbar wurden. Immerhin wurden die Ausgaben von Sozialprogrammen dieses Mal nicht direkt vom IWF-Rotstift getroffen.

Massa ging in der Fernsehdebatte auf den IWF ein. Er räumte zwar eigene Fehler ein, lastete die Hauptverantwortung an der argentinischen Misere aber der Vorgängerregierung von Mauricio Macri (2015-2019) an, weil sie das Land unverantwortlich verschuldet habe. 2018 wurden Macri vom IWF auf Empfehlung von Donald Trump dubioserweise 57 Milliarden Dollar zugesagt, um mit besseren Karten in den Wahlkampf 2019 ziehen zu können. Abgewählt wurde er trotzdem und eine interne Untersuchungskommission des IWF kam Ende 2021 zu dem Schluss, dass der Kredit gemessen an den eigenen, üblichen Vergabekriterien eine Fehlentscheidung gewesen sei. Schon nach der Vereinbarung mit dem IWF hatte Massa verkündet: „Wir haben einen großen Schritt gemacht, um die Hypothek, die Mauricio Macri Argentinien hinterlassen hat, abzuarbeiten, aber sie besteht weiterhin. Argentinien wird erst wieder autonom sein, wenn wir uns ihrer entledigt haben.” Bei der Fernsehdebatte kritisierte er, dass der IWF die Wirtschaftspolitik diktiere.

Der selbsterklärte „Marktanarchist“ Javier Milei ist bereits mit dem IWF im Austausch über seine radikalen Liberalisierungs- und Deregulierungsvorhaben. „Wir haben vereinbart, dass die IWF-Analysten uns ihre Arbeitspapiere zur Verfügung stellen werden,“ sagte Milei nach einem ersten virtuellen Treffen. Milei will im Falle seiner Präsidentschaft in den ersten 100 Tagen die Dollarisierung der Wirtschaft in Gang setzen und deshalb die Zentralbank abschaffen, den Wechselkurs freigeben und die Exportsteuern abschaffen. Wie im Chile Pinochets (1973-90) ist Milton Friedman, nach dem auch einer der fünf Hunde Mileis benannt ist, und seine ultraliberale Chicagoer Schule das theoretische Referenzmodell. Grundstein des Plans, den Mileis Wirtschaftsteam ausarbeitet, ist ein Währungsstabilitätsfonds, der die Verbindlichkeiten der staatlichen Banken während der Schocktherapie abdecken soll. Der Fonds soll mindestens 26 Milliarden US-Dollar umfassen und in einem Finanzplatz außerhalb Argentiniens eingerichtet werden, um potenzielle Anlegerinnen mit Rechtssicherheit im Falle eines Zahlungsausfalls zu locken. Als Sicherheiten für die Investmentfonds sind die Schuldverschreibungen der Regierung gegenüber der Zentralbank und der Rentenkassen vorgesehen.

Mileis Wirtschaftspläne sind Zukunftsmusik, von der nicht klar ist, ob sie je gespielt wird. Es ist indes kein Zufall, dass in seinem Wirtschaftsteam sich mit Roque Fernández just der ehemalige Chef der argentinischen Zentralbank (1991-1996) befindet, der in der neoliberalen Ära von Carlos Menem (1989-1999) schon einmal das Ansinnen einer totalen Dollarisierung Argentiniens verfolgte und damals am Widerstand des IWF scheiterte.

Mileis wirtschaftspolitische Ausrichtung ähnelt der ultraliberalen in der Zeit von Menem, der dem rechten Flügel der Peronisten angehörte. Damals wurde zeitweise der Peso fix an den Dollar gebunden und damit zwar die Inflation gebrochen, aber um einen hohen Preis. Die Überbewertung des Pesos zerstörte die Wettbewerbsfähigkeit großer Teile der argentinischen Industrie, Hunderttausende verloren ihre Jobs, die Staatsverschuldung explodierte und mündete zwei Jahre nach dem Abgang von Menem in die tiefe Krise 2001/2002.

Wie auch immer die kommenden Präsidentschaftswahlen in Argentinien ausgehen werden und wer auch immer dann am 10. Dezember 2023 den Staffelstab von Alberto Fernández übernimmt: Argentiniens Arme und große Teile der Mittelschicht werden weiter schweren Zeiten entgegen gehen. Für den Fall, dass wirklich Milei das Ruder übernimmt und seine Vorschläge der sozialen Kürzungen umsetzt, sind eskalierende Armut und soziale Proteste gleichermaßen sicher. Auf alle Fälle sicherer als seine Wahl zum Präsidenten.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren