Bolivien | Nummer 479 - Mai 2014

Der Macht verfallen

Korruptionsvorwürfe bringen die bolivianische Regierung in Bedrängnis. die Hinweise auf persönliche Vorteilnahme von Kabinettsmitgliedern häufen sich

Es mehren sich die Vorwürfe der Korruption gegen den bolivianischen Vizepräsidenten Alvaro García Linera. Die Regierung tut dies als unbegründete Kampagnen der rechten Opposition ab. Doch auch linke Aktivist_innen kritisieren, dass die Gruppe um den einstigen Hoffnungsträger Evo Morales der Macht verfallen sei.

Amancaya Finkel

Ungewöhnlich ist es nicht, dass Alvaro García Linera vor die Presse tritt, um die Positionen und Absichten der Regierung bekanntzugeben, zu erklären oder gar von Missverständnissen zu befreien. Doch als er am Dienstagmorgen, dem 26. März, vor die Presse trat, wirkte der bolivianische Vizepräsident ganz anders als sonst. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, sah erschöpft aus. Es war das zweite Mal in nur wenigen Wochen, dass er sich vor der Öffentlichkeit rechtfertigen musste. Das Unternehmen Air Catering, das für das Essen an Bord der staatlichen Fluglinie Boliviana de Aviación BOA zuständig ist, soll zum Teil Silvana del Castillo Tejada, Ehefrau von Mauricio García Linera und Schwägerin des Vizepräsidenten, gehören. So hatte es die Oppositionspartei Unidad Nacional UN am Tag zuvor bekanntgegeben.
In jüngster Vergangenheit sind immer mehr Korruptions- und Erpressungsfälle, die angeblich durch Staatsfunktionäre ausgeführt wurden, öffentlich bekannt geworden. Immer öfter tritt dabei auch der Name García Linera in Erscheinung. Vieles deutet darauf hin, dass die Regierung Evo Morales in Korruption versinkt und dass Alvaro García Linera nicht derjenige ist, für den ihn alle hielten.
Die Unterstützer_innen von Evo Morales‘ Regierung sind überzeugt, dass es sich in erster Linie um eine Kampagne der Opposition handelt. Sie versuche, die Regierung vor den Wahlen so weit wie möglich zu schwächen. Im Gegensatz zu anderen Affären liegt im Falle Air Catering keine eigentliche Straftat vor. Dennoch deutet alles auf eine mögliche widerrechtliche Vorteilsgewährung hin, auf ein Zeichen der üblichen Vetternwirtschaft Boliviens, welcher die regierende Partei Bewegung zum Sozialismus MAS doch eigentlich ein Ende setzen wollte.
Das Unternehmen sei laut Unidad Nacional UN vor weniger als einem Jahr mit einem Ausgangskapital, nicht höher als 140.000 Bolivianos (etwa 14.000 Euro), gegründet worden. Wegen des Vertrags mit der staatlichen Fluggesellschaft sollen sich die jährlichen Einnahmen aber bis auf 26 Millionen Bolivianos (2,6 Millionen Euro) belaufen. Der UN Sprecher Arturo Murillo nimmt an, Air Catering sei ausschließlich gegründet worden, um den BOA Vertrag wahrzunehmen.
Er habe nichts von dem Vertrag gewusst, erklärt García Linera, es handele sich nicht um Vetternwirtschaft, sondern um einen rechtmäßigen Vertrag. Dennoch sagte er: „Kein Angehöriger des Präsidenten oder des Vizepräsidenten darf einen Vertrag mit dem Staat schließen. Ich verlange, dass dieser in den nächsten Stunden aufgelöst wird, damit es keine weiteren Spekulationen gibt.“ Kurz darauf gab die Regierung bekannt, die Schwägerin des Vizepräsidenten werde ihren Anteil des Unternehmens verkaufen.
Raul Prada, früher Anhänger der Regierungspartei MAS und Vizeminister für Wirtschaft und Finanzen im Jahr 2010, ist mittlerweile davon überzeugt, dass die MAS-Regierung sich durch die Korruptionsvorwürfen dem Abgrund nähert. Auch von García Linera ist er enttäuscht: „Er hat die ganze Welt glauben lassen er sei intellektuell, ein Revolutionär, ein Guerrillero, dabei ist er nur in sich selbst und in die Macht verliebt, ein Betrüger.“
Der marxistische Journalist und Autor Hugo Moldiz hingegen argumentiert, der Fall Air Catering werde strategisch ausgenutzt, um die Autorität des Vizepräsidenten zu schwächen und zu unterminieren. „Es besteht die Absicht, Misstrauen selbst in die höchsten Ebenen der Regierung herzustellen“, sagt er.
Der Fall „Air Catering“ ist einer von mehreren Vorfällen, welche die Regierung Evo Morales vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober in einem schlechten Licht erscheinen lassen. Im März beschäftigte ein vom US-amerikanischen FBI aufgezeichnetes Video die bolivianische Öffentlichkeit.
Fabricio Ormachea ist Polizist und arbeitete bis Mitte 2013 bei der Antikorruptionseinheit der Polizei. Im August flog er in die USA und erpresste dort den Ex-Inhaber der bolivianischen Fluggesellschaft Aero Sur, Humberto Roca. 2012 wurde Aero Sur die Lizenz entzogen. Roca floh in die USA und behauptete dort, Opfer politischer Verfolgung zu sein und beantragte Asyl. In Bolivien laufen gegen ihn Prozesse wegen illegaler Bereicherung, Schädigung des Staates und Begünstigung seiner eigenen Familie. Ormachea bot ihm an, sich für die Stilllegung der gegen ihn laufenden Prozesse einzusetzen. 30.000 Dollar verlangt er im Gegenzug für seine Gefälligkeiten. Roca gab ihm einen Vorschuss von 5.000. Wenig später wurde Ormachea auf der Straße verhaftet, als er gerade dabei war, die Dollarscheine, welche er bei sich trug, zu zählen. Roca hatte das FBI über das Treffen mit Ormachea infomiert. Der Besuch in Rocas Wohnzimmer war von einer versteckten Kamera aufgezeichnet worden. Ormachea wird wegen Erpressung angeklagt.
Die bolivianische Polizei teilte mit, Ormachea sei nicht der Leiter der Antikorruptionseinheit, sondern ein Deserteur, er habe also auf eigene Faust gehandelt. Im März 2014 wurde Fabricio Ormachea von einem US-amerikanischen Gericht für schuldig erklärt. Das endgültige Urteil wird Ende Mai bekanntgegeben. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren beantragt.
Im März wurde auch das Erpressungsvideo veröffentlicht. Dort behauptet Ormachea, der Vizepräsident hätte ihn mehrmals zu sich gebeten, um ihm Befehle zu erteilen. Er habe persönlich gesehen, wie Alvaro García Linera selbst über bestimmte Urteile entscheide und der Justiz vorgebe, was zu tun sei. Auch andere Regierungsmitglieder wie der Präsidentschaftsminister Juan Ramón Quintana belastete er und sogar García Lineras Bruder. „Alvaro García Lineras Bruder Raúl hat Millionen. Er steckt in allem drin, in Aufträgen, Ausschreibungen und anderen Gaunereien“, sagte Ormachea auf dem Video.
Auch nach der Veröffentlichung des Videos gab der Vizepräsident eine Pressekonferenz, bei der er bestritt Ormachea zu kennen. „Diesen Ormachea kennen wir nicht einmal im Traum“, sagte er und erklärte, dass die angeblichen Besuche Ormacheas in der Vizepräsidentschaft in keinem einzigen Besucherregister zu finden seien. Über die Aussagen bezüglich seines Bruders ist er empört. „Mein Bruder ist Ingenieur von Beruf, er arbeitet nicht für die Regierung, der Arme lebt zur Miete.“ García machte die Opposition dafür verantwortlich, sich „hinter Verbrechern zu verstecken“, um die Regierung zu attackieren.
Eine weitere Affäre in der Sammlung bolivianischer Korruptionsskandale ist die des Staatsanwalts Marcelo Soza, der an einem der wahrscheinlich größten Justizfälle Boliviens arbeitete. Im April 2009 kamen in Santa Cruz im Kreuzfeuer einer Spezialeinheit der Polizei drei Menschen, die angeblich einer größeren Separatistenbewegung angehörten, ums Leben. Die Separatisten hätten die Absicht gehabt, Evo Morales zu ermorden, erklärte die Regierung. Der Staatsanwalt Marcelo Soza übernahm den Fall. Es wurden über 30 Personen festgenommen und wegen Terrorismus angeklagt. Anfang 2013 während des immer noch laufenden Terrorismusprozesses geriet eine Tonaufnahme an die Öffentlichkeit, in der Soza zwar sich selbst nicht belastet, jedoch behauptet, mehrere Angeklagte seien von regierungsnahen Personen erpresst worden. Abermals kam der Name Raúl García Lineras ins Gespräch. Er sei in Drogengeschäfte verwickelt, behauptete Soza. Nach der Veröffentlichung des Videos trat er zurück.
Anfang 2014 erschienen Beweise für die Erpressungen, die Soza durch seinen Anwalt durchführte. Der Anwalt wurde festgenommen. Marcelo Soza floh nach Brasilien und beantragte Asyl. In einem Brief, den er zurückließ, behauptete er, Regierungsautoritäten hätten ihn oft dazu drängen wollen Ermittlungsmaßnahmen auszuführen, die rechtswidrig seien. Er habe sich immer geweigert, fügte er hinzu.
Sozas Flucht empörte die bolivianische Bevölkerung. Der Journalist Raúl Peñaranda vermutet, man habe den Staatsanwalt fliehen lassen. „Seine Flucht war im Interesse der Regierung. Sonst hätte sich wahrscheinlich herausgestellt, dass die meisten Anklagen aufgrund von Terrorismus nichts anderes als Intrigen waren“. Mit diesem Vorwurf wurde die Opposition, die Evo Morales hätte gefährlich werden können, komplett „ausgerottet“, fügte er hinzu. Peñaranda weist auf Anzeigen hin, nach denen Soza mit seinen Erpressungen 5 Millionen Dollar „erwirtschaftet“ habe.
Dies sind nur einige der Korruptionsaffären dieses und des letzten Jahres in Bolivien. Raúl Prada meint, die MAS habe nicht die Macht übernommen, sondern sei ihr verfallen. Wie alle Revolutionen sei auch diese in ihren eigenen Widersprüchen versunken. Prada gehört der Gruppe der politischen Theoretikern „Comuna“ an, der einst auch Álvaro García Linera angehörte und dessen Mitglieder nun eine Erneuerung des Prozesses des Wandels fordern. Hugo Moldiz argumentiert dagegen, die Opposition mache im Vorfeld der Wahl nur eine Kampagne, die die Regierung der Korruption und des Drogenhandels bezichtige und eigentlich Ausdruck ihrer eigenen Unfähigkeit, die erfolgreichen Ergebnisse des bolivianischen Wirtschaftsmodells zu widerlegen. Nichtsdestotrotz hat Evo Morales große Chancen im Oktober wiedergewählt zu werden, auch wenn sein Wahlsieg diesmal nicht so überzeugend ausfallen könnte.

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