Bolivien | Nummer 373/374 - Juli/August 2005

Der Nächste bitte

Der fünfte Präsident in fünf Jahren

Bolivien hat drei überaus bewegte Wochen hinter sich, die das Land bis an den Rand des Abgrundes geführt haben. In einer dramatischen Sitzung des Kongresses in der belagerten Hauptstadt Sucre wurde am 9. Juni der Präsident des Obersten Gerichtshofes Eduardo Rodríguez als Übergangspräsident vereidigt. Gewonnen ist allerdings wenig: Das Land und jeder einzelne seiner wichtigsten Akteure stehen schlechter da als noch vor einem Monat. Einzig der zurückgetretene Carlos Mesa ist möglicherweise froh, die Bürde der Präsidentschaft noch bei Zeiten abgegeben zu haben.

Marc Zackel

Am 17. Mai war ohne die Zustimmung von Präsident Mesa ein Monate lang heiß diskutiertes Erdöl- und Erdgasgesetz in Kraft getreten, welches den bürgerlichen und wirtschaftsnahen VertreterInnen zu radikal, den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen hingegen zu zahm war (siehe LN 372). In der Folge kam es zu vielfältigen Protestaktionen, einem in El Alto verkündeten unbefristeten Generalstreik und der gleichzeitigen kompletten Blockade der Doppelstadt La Paz/El Alto ab dem 23. Mai. In wenigen Tagen weiteten sich die Blockaden auf praktisch alle Landesteile aus und der Regierungssitz wurde täglich von mehreren tausend DemonstrantInnen heimgesucht.
Das zunächst bei Teilen der Bevölkerung in La Paz vorhandene Verständnis für die Protestmärsche aus El Alto schwand angesichts des zunehmenden Vandalismus in der Stadt. Fensterscheiben von Hotels und kleinen Läden wurden gleichermaßen zertrümmert, Marktstände geplündert, Anzugträger beschimpft und ihnen gewaltsam die Krawatten abgerissen.
Währenddessen wurde zunehmend bekannt, dass Marschierer und Blockierer aus El Alto in großem Umfang nur auf starken Druck und unter Drohungen – von Geldstrafen für Nicht-Teilnahme bis hin zu Prügel und der Zerstörung von Laden oder Werkstatt – zum Demonstrieren gezwungen wurden.
Da viele der zur Verteidigung des Präsidentenpalastes und des Parlaments eingesetzten Polizisten aus El Alto stammen, beschlossen die Anführer der Protestaktionen, dass beim nächsten Mal deren Frauen und Kinder in der ersten Reihe zu marschieren hätten.
Hauptforderungen der DemonstrantInnen waren die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung sowie die Nationalisierung der Erdöl- und Erdgasvorkommen. Dazu kam teilweise der Ruf nach der Schließung des Kongresses sowie diverse lokale und regionale Forderungen unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen des Landes, wie zum Beispiel den Bau einer Straße hier oder die Erhöhung der staatlichen Zuwendungen dort.
Insbesondere mit der Forderung nach Nationalisierung von Erdöl und Erdgas, die schnell zur allgemeingültigen Parole aller avancierte, geriet die MAS (Bewegung zum Sozialismus) von Evo Morales erheblich ins Schleudern. Hatte sie doch gerade erst die „Verbesserung“ des soeben verabschiedeten Erdöl- und Erdgasgesetzes, welches einen kombinierten Steuer- und Abgabensatz von 50 Prozent festlegt, auf parlamentarischem Weg angekündigt.
Um sich nicht gänzlich von den DemonstrantInnen von El Alto zu isolieren, die maßgeblich unter der Führung von Abel Mamani von der FEJUVE (Zusammenschluss der Nachbarschaftsvereinigungen) und dem Gewerkschaftsdachverband COB agierten, blieb Evo Morales letztlich nichts anderes übrig, als auch mit in den Chor der Nationalisierer einzustimmen.

Mesa wirft das Handtuch

Auf der anderen Seite des Spektrums wurde aus Santa Cruz die sofortige Abhaltung einer Volksabstimmung über ihre Forderung nach departamentaler Autonomie gefordert. Mit dem klaren Ziel, damit der verfassunggebenden Versammlung durch das Schaffen von Fakten zuvorzukommen. Gleichzeitig forderte das Comité Cívico (Bürgerkomitee) die Regierung von Präsident Mesa auf, die Blockaden der Verkehrswege zu beseitigen und die freie Wirtschaftstätigkeit zu gewährleisten.
Begleitet durch entsprechende politische Diskurse heizte sich die Stimmung im Land immer mehr auf und Noch-Präsident Carlos Mesa, der an seinem Gewaltverzicht gegen die eigene Bevölkerung festhielt, sah sich immer mehr in die Enge getrieben. Als er dann am 6. Juni erneut seinen Rücktritt verkündete, zweifelte indes niemand mehr, dass es dieses Mal kein Zurück gab.
Nun starrte alles gebannt auf Senatspräsident Hormando Vaca Diez, der automatisch Nachfolger von Mesa geworden wäre, sobald der Kongress das Rücktrittsgesuch angenommen hätte. Angesichts der Aussicht mit Vaca Diez vom MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) nicht nur einen Vertreter der alten Politikergarde, sondern auch einen engen Verbündeten der Erdöl-Multis und der Oligarchie von Santa Cruz – und damit einen entschiedenen Gegner einer verfassungsgebenden Versammlung sowie der Nationalisierung des Erdgases – zum Präsidenten zu bekommen, radikalisierten sich die sozialen Proteste erneut. Die Verhinderung von Vaca Diez wurde augenblicklich oberstes Ziel. Ein Anliegen, dass von weiten Teilen der Mittelschicht in La Paz mit getragen wurde.
Um nun dem Druck der Straße zu entgehen, ließ der Senatspräsident die entscheidene Kongresssitzung vom Regierungssitz La Paz in die ruhige Hauptstadt Sucre verlegen. Er hatte allerdings die Rechnung ohne die Mobilisierungsfähigkeit der Protestbewegung gemacht: Bauern und Bäuerinnen, Indígenas und Minenarbeiter sorgten dafür, dass Sucre bereits seit dem Morgen des 9. Juni von allen Seiten belagert wurde, um ihrem Widerstand gegen eine Amtsübernahme von Vaca Diez Nachdruck zu verleihen.
Doch Kongresspräsident Hormando Vaca Diez war, so wurde immer deutlicher, zu allem entschlossen. Während Parlamentspräsident Mario Cossío schon recht frühzeitig erkennen ließ, dass er zu einem Verzicht auf die Präsidentschaft des Landes bereit sei, setzte Vaca Diez alles daran, sich in Zusammenarbeit mit den Eliten aus Santa Cruz und im Einvernehmen mit den wichtigsten nationalen und internationalen Wirtschaftsvertretern allem Widerstand zum Trotz auf dem Präsidentensessel zu installieren.

Dramatischer 9. Juni

Dass es dann in allerletzter Minute doch nicht dazu kam entschied sich in einem dramatischen Tagesablauf am Donnerstag, dem 9. Juni. Auslöser war der – noch immer ungeklärte – Tod eines Mineros auf dem Weg nach Sucre durch ein scharfes Geschoss, vermutlich durch einen Heckenschützen. Das Eintreffen dieser Nachricht in Sucre, wo sämtliche Parlamentarier und Senatoren auf die Einberufung der Kongresssitzung warteten, führte zu verschiedenen Reaktionen. Politisch entzog nun die NFR (Neue Republikanische Kraft) sowie ein Teil von Vaca Diez´ Partei MIR diesem die Unterstützung, womit die parlamentarische Mehrheit verloren ging.
Über die Rolle des Militärs muss spekuliert werden, doch man nimmt an, dass hohe Vertreter angesichts des ersten Toten der Auseinandersetzungen möglicherweise ebenfalls Bedenken in ihrer Unterstützung eines zukünftigen konstitutionellen Präsidenten Vaca Diez geäußert haben. Das bolivianische Militär hat sich während der gesamten Krisenphase uneingeschränkt und ohne Zögern als Garant der Demokratie gezeigt.
Sozial waren es die MAS und die Minenarbeiter, die in den entscheidenden Momenten nicht nur die Stadt sondern auch den Flughafen komplett blockierten und damit sicher stellten, dass kein Parlamentarier Sucre verlassen konnte. Die Strategie, mit dem Kongress erneut in einen ruhigeren Ort umzuziehen, ging damit nicht auf und der Kongress wurde praktisch zum Tagen gezwungen. Und Vaca Diez blieb keine andere Wahl, als zuvor seine Bereitschaft zum Amtsverzicht öffentlich zu bekunden.

Soziale Bewegungen in der Sackgasse

So wurde kurz vor Mitternacht der Präsident des Obersten Gerichtshofes, Eduardo Rodríguez, ohne das übliche Zeremoniell, als neuer Präsident Boliviens vereidigt und durch weite Teile des Landes ging ein Aufatmen. Ein für möglich gehaltener Bürgerkrieg wurde erst einmal verhindert und die Blockaden im Land wurden in den kommenden Tagen allmählich aufgehoben. Bolivien befand ich im kollektiven Kater, als nach und nach immer mehr Akteuren klar wurde, dass sie allesamt zu den Verlierern der Auseinandersetzungen gehören.
Von den ursprünglichen Forderungen der DemonstrantInnen und BlockiererInnen beispielsweise wurde keine einzige erfüllt. Santa Cruz sah sich mit dem erzwungenen Amtsverzicht von Vaca Diez in seinen Hoffnungen und Forderungen erheblich zurückgeworfen und ganz generell wurde keines der Probleme des Landes einer Lösung auch nur näher gebracht.
Insbesondere die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften waren trotz aufopferungsvoller Demonstrationen, Streiks und Blockaden in El Alto und weiten Teilen des Landes keinen Schritt weiter. Im Gegenteil: Mesa wäre noch am Ehesten der Garant für die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung gewesen.
Vom erst vor drei Monaten medienträchtig verkündeten „antioligarchischen Pakt“ war und ist wenig zu sehen. Die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sind unter sich noch weitaus mehr zerstritten, als es die traditionellen Parteien sind. Es gibt nicht einmal Ansätze eines gemeinsamen nationalen Projektes als Alternative zum herrschenden neoliberal geprägten Modell.
Während verschiedene Anführer von Gewerkschafts- und sozialen Bewegungen derzeit ansatzweise selbstkritische Töne anschlagen und über eine Änderung ihrer Strategie diskutieren wollen, sieht der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes COB den „revolutionären Arbeiterkampf“ voranschreiten.

Was bringt der Neue?

Wesentliches darf von Übergangspräsident Eduardo Rodríguez nicht erwartet werden. Sein Mandat wird von der Verfassung auf das Abhalten von Wahlen innerhalb von 6 Monaten beschränkt. Eher handelt es sich um einen „Mesa light“, denn auch vom Kongress wird wohl nur wenig Unterstützung für den neuen Präsidenten zu erwarten sein.
Die zentrale Frage ist: Wie wird Rodríguez seine Rolle definieren? Bedenklich scheint, dass er sich alle großen Themen auf seine Agenda setzt: Neuwahlen, Wahl der Präfekten, verfassunggebende Versammlung, Autonomiereferendum. Dabei läuft er Gefahr, den gleichen Fehler wie Mesa zu begehen: Versprechungen zu machen und Erwartungen zu schüren, indem er angedeutet hat, dass er das Regieren Ernst nehmen will. Dabei wäre seine einzige Chance – und die für das Land – gewesen, sich strikt auf seine Übergangsposition und den begrenzten Verfassungsauftrag zurückzuziehen: Die Organisation von Neuwahlen und das Aufrechterhalten von Ruhe und einer minimalen Stabilität im Land. Im Wirtschaftsbereich würde man von einem Konkursverwalter sprechen, dem es nicht obliegt, große Entscheidungen zu treffen, sondern die Konkursmasse so aufzubereiten, dass ein neuer Besitzer gefunden werden kann.
Weiterhin wird viel davon abhängen, wie er sich zum Einsatz von Polizei und Militär bei Blockaden sowie gegenüber den Forderungen von Santa Cruz positioniert.
Das Comité Cívico von Santa Cruz hat gerade einen eigenen Wahlausschuss für die Volksabstimmung über die Autonomie der Departamentos berufen – ein ganz klarer Verfassungsverstoß. Nicht vergessen werden sollte, dass Senatspräsident Vaca Diez weiterhin bereit steht und sicherlich an einer Strategie für eine zweite Chance bastelt.

Wie weiter?

Der Hauptforderung der sozialen Bewegungen nach Nationalisierung von Erdöl und Erdgas ist mit der Amtsübernahme eines Übergangspräsidenten erst einmal der Wind aus den Segeln genommen worden.
Momentan dreht sich die politische Diskussion praktisch ausschließlich um die Termine und Modalitäten für die diversen Wahlprozesse: Werden, wie in Artikel 93 der Verfassung vorgesehen, nur Präsident und Vizepräsident zur Komplettierung der fünfjährigen Legislaturperiode gewählt? Oder tritt das Parlament komplett zurück und ermöglicht auf diese Weise vorgezogene allgemeine Wahlen? Dies wäre politisch das einzig Vernünftige. Die ParlamentarierInnen sind jedoch mehrheitlich dagegen, weil sie damit ihre lukrativen Diäten der Jahre 2005-2007 einbüßen würden.
„Für einige Parlamentarier scheint aus ganz privaten Gründen ein Wahltermin innerhalb von sechs Monaten als zu nah“, stellte Kongresspräsident Vaca Diez fest.
Und weiter mit den diversen Wahlprozessen: Bleibt der bereits per Gesetz festgelegte Termin für die Wahl der Präfekten im August bestehen, auch wenn deren Amtszeit maximal vier Monate betragen würde? Oder sollte man mittels einer Verfassungsänderung die derzeit vorgesehene Amtszeit verlängern? An Vorschlägen mangelt es derzeit nicht, doch allzu deutlich treten zumeist die jeweiligen Partikularinteressen des jeweiligen Vorschlagenden zu tage.
Bei all der Diskussion um die verschiedenen Wahlprozesse besteht die Gefahr, dass darüber die eigentlichen Probleme des Landes in Vergessenheit geraten. Oder diese eben genauso vehement wie soeben erneut von der Straße eingefordert werden. Die Zeiten bleiben stürmisch.

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