Der Reiz der Oberfläche
In Tótem werden Schmerz und Freude auf der Party einer mexikanischen Großfamilie gezeigt
„Sol, komm runter!“ Mit allen Mitteln versuchen die Familienmitglieder und Partygäste, das Mädchen vom Dach herunterzubekommen. Aber Sol hat keine Lust, denn sie will nur eines: Endlich ihren kranken Vater sehen, zu dessen Ehren die Veranstaltung stattfindet. Als man ihr auch noch mit einer Drohne auf den Leib rückt, reicht es endgültig: Ein Stein, ein gezielter Wurf und schon ist sie Elektroschrott. Als „rebellisch“ wird sie daraufhin von ihren Tanten bezeichnet, es sei „so eine Phase“.
© Limerencia
Dabei tut Sol nur das, was in Lila Ávilés zweitem Spielfilm Tótem den wenigsten gelingt oder erlaubt ist: Sie reflektiert ihre Empfindungen und fordert Zeit, sie zu verarbeiten. Die meisten anderen gehen auf im Trubel der Feier einer mexikanischen Mittelschichtsfamilie. Gefühlt unendlich viel Zeit wird in Vorbereitungen für Dinge investiert, die letztlich nur kurz dauern oder gar nicht gelingen. Wie der Kuchen, der ihrer Tante Nuri verbrennt, so dass sie die ganze mühevolle Arbeit erneut auf sich nehmen muss. Oft bleiben in der Hektik Kontakte flüchtig, Gespräche unvollständig. Streite brechen aus und werden abgewürgt, es ist keine Zeit dafür. Dabei hat die Familie eigentlich auch ohne das große Fest genug Sorgen, um die sie sich kümmern muss, denn es liegt ein dunkler Schatten auf ihr. Sols Großmutter ist bereits gestorben, ihr Großvater leidet an Kehlkopfkrebs im fortgeschrittenen Stadium und auch ihr Vater Tono kann sich wegen einer schweren Krankheit (welche es ist, wird nicht gesagt) kaum noch ohne Hilfe auf den Beinen halten. Das bringt die Familie sichtbar an ihre Grenzen, emotional und, wie im Laufe des Films immer klarer wird, auch finanziell. Jede*r geht mit dieser Belastung anders um, die Party ist gleichzeitig Ablenkung und Klebemittel, das die vielen unterdrückten Konflikte und Diskussionen übertünchen soll.
Lila Avilés hat mit Tótem ein mexikanisches Familienfest wie aus dem Bilderbuch porträtiert. Der Trubel, die Diskussionen um Essen und Vorbereitungen, die herumwuselnden Kinder und Tiere, das scheinbare Chaos, das letztendlich doch in einen überraschend geordneten Ablauf mündet, auch wenn nie alles funktioniert – wer jemals auf einer Veranstaltung dieser Art war, wird unzählige Dinge wiedererkennen. Das Problem von Tótem ist: Der Film ist selten mehr als das. So unverbindlich wie die Gespräche vieler Personen untereinander bleiben auch die Beziehungen vieler Charaktere. Was im wirklichen Leben zur Aufrechterhaltung der Harmonie oft notwendig ist, wird im Film zu einer verpassten Chance. In der Fiktion bestünde die Chance, angerissene Konflikte eskalieren zu lassen, Probleme ernsthaft anzugehen, die Dinge ans Licht zu zerren. Doch für diesen letzten Schritt fehlt Tótem der Mut. Am stärksten sind noch die Momente, in denen die Handlung sich auf Sol konzentriert. Sie ist die Einzige, die sich aus dem Strom der Ereignisse herauszuziehen und das Wesentliche zu destillieren versucht, während von den Erwachsenen keine*r ihre Sorgen ernst nimmt. Wann die Welt endet und ob ihr Vater sterben muss, fragt sie deshalb lieber den Sprachassistenten ihres Handys. Doch mehr und mehr gerät ihre Geschichte aus dem Fokus und Tótem erliegt – wie auch die Familie darin – dem Reiz der Oberfläche, indem mit Fröhlichkeit und Aktivität eine heile Welt beschworen wird. Oft geschieht das durch die vielen mexikanischen Bräuche, Anekdoten und Partybeiträge, die gut aussehen und unterhaltsam sind, aber letztlich nichts Signifikantes zur eigentlichen Geschichte beitragen können. Und so kann auch der (sehr späte) Kontrapunkt, den Totém setzt, nicht mehr die Tiefe herstellen, auf die der Film bis etwa zur Hälfte hoffen lässt.
LN-Bewertung: 3/5 Lamas
Totem, Mexiko/Dänemark/Frankreich 2023, Wettbewerb, 95 Minuten, Regie: Lila Avilés
Berlinale-Termine: Dienstag, 21.02., 15:30 h, Zoo Palast 1 Dienstag, 21.02., 18:30 h, Verti Music Hall Freitag, 24.02., 10:00 h, Haus der Berliner Festspiele Sonntag, 26.02., 12:45 h, Berlinale Palast