Der Traum vom Meer
Zwei Jahre nach Boliviens Klageeinreichung in Den Haag geht es immer noch um Begriffsdefinitionen und Zuständigkeiten
Boliviens Kampf um sein verlorenes Gebiet Atacama und Caláma währt nun schon mehr als ein Jahrhundert. Was sind dagegen schon zwei Jahre? Denn zwei Jahre ist es mittlerweile her, dass Bolivien vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag gezogen ist, um dort den „souveränen Zugang zum Meer“ einzuklagen, den es 1879 durch den sogenannten Salpeterkrieg (in Bolivien Pazifikkrieg genannt) mit Chile verloren hatte. Aber auch nach zwei Jahren kann von konkreten Ergebnissen noch keine Rede sein. Das 120.000 Quadratkilometer umfassende Küstengebiet, um das es bei dem anhaltenden Streit geht, war 1904 in einem Vertrag endgültig zu chilenischem Territorium erklärt worden. Doch die bolivianische Regierung hat seitdem immer wieder beteuert, dass dieser Vertrag unter ungerechten Bedingungen geradezu erzwungen wurde. Im Verlaufe des zwanzigsten Jahrhunderts wurden zahlreiche Versuche unternommen, das Gebiet zurück zu erlangen – jedoch ohne Erfolg. Hatte die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet in ihrer ersten Amtszeit (2006-2010) noch angekündigt, die Verhandlungen über die betroffene Küstenregion wieder aufzunehmen, so war die Hoffnung darauf mit dem Antritt ihres Nachfolgers Sebastián Piñera (2010-2014) wieder zunichte gemacht: Piñera hatte es klar abgelehnt, Gespräche mit Bolivien einzugehen. Die inzwischen wieder amtierende Bachelet hat ihre Position zu dem Fall seit ihrer zweiten Amtszeit nun selbst auch geändert – mit Bolivien könne über alles geredet werden, nur nicht über den sogenannten „souveränen Meereszugang“, hatte sie gleich zu Amtsantritt angekündigt. Die Lage ist somit weiter angespannt. Seit 1978 pflegen die Nachbarländer keine diplomatischen Beziehungen. Auch wenn der bolivianische Präsident Evo Morales weiterhin beteuert, dass der Prozess in Den Haag eine Basis zum Dialog und zu einer friedlichen Lösung sei, wird die Klage von chilenischer Seite vielmehr als Affront aufgefasst.
Aber worum geht es bei diesem jahrhundertealten Streit eigentlich? Der ursprüngliche Konflikt beruht auf dem Zugang zu Rohstoffen. In der Wüstenregion rund um Atacama gab es große Vorkommen an salpeterhaltigem Guano, dem versteinerten Kot von Meeresvögeln. Zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts war es ein wichtiges Düngemittel auf europäischen Feldern und Rohstoff für Sprengstoffe. Man konnte damit also beträchtliche Geschäfte machen, wobei der Abbau von Anfang an hauptsächlich von chilenischen Geschäftsleuten vorangetrieben worden war. Als Chile später große Teile von Peru und Bolivien eroberte und seine Landesgrenzen erweiterte, sah es sich schon von vornherein als rechtmäßiger Besitzer der salpeterhaltigen Territorien.
Danach verlief es besonders für Bolivien ungünstig. 1921 einigten Chile und Peru sich einvernehmlich auf einen neuen Grenzverlauf, ohne Bolivien mit in die Verhandlungen einzubeziehen. Hinzu kamen interne Probleme: Durch den Zinnabbau entstand in Bolivien eine neue liberale Elite – die sogenannten Rosca. Statt den Zugang zum Meer zu verhandeln, schlossen die Rosca lieber Handelsverträge mit Peru und Chile und begannen, von diesen Partner*innen die Nahrungsmittel zu importieren. Das bolivianische Hinterland im Osten und Süden des Landes, das seit der Kolonialzeit Nahrungsmittel für die Minenarbeiter*innen produzierte, verarmte dagegen, was zu massiven Konflikten zwischen Hochland und Tiefland führte. Der Verlust des Meereszugangs hätte dieses Problem zwar nicht gelöst, machte es für das ohnehin arme Land aber nicht einfacher.
Chile hingegen hielt an den neuen Grenzen fest. Auch als später im zwanzigsten Jahrhundert ganz neue Methoden des Düngens erfunden wurden und der Abbau von Guano uninteressant wurde, erwies sich das ehemals eroberte Küstengebiet weiterhin als ertragreich – wie sich herausstellte, lag unter dem Wüstengebiet an der Pazifikküste eine große Kupfermine. Auch Silber und Lithium machen das Gebiet weiterhin wirtschaftlich interessant. Das erklärt, warum der Verlust des Küstengebiets für Bolivien auch heute noch so schmerzlich ist. Doch abgesehen von den Rohstoffen geht es Bolivien heute vor allem um bessere Export- und Importbedingungen. Der Meereszugang steht außerdem symbolisch für alle anderen Probleme, die mit dem Verlust des Gebietes verbunden werden. Jedes Jahr wird in Bolivien am 23. März der „Tag des Meeres“ gefeiert, bei dem der Invasion gedacht wird. In La Paz und der Hauptstadt Sucre machen aufwendige Militärparaden sowie eine offizielle Ansprache des Präsidenten klar, welch hohen Stellenwert das Thema bei den Bolivianer*innen hat. Bei solchen Anlässen kann zuweilen der Eindruck entstehen, die Frage um den souveränen Meereszugang werde zu nationalistischen und populistischen Zwecken instrumentalisiert. Zum diesjährigen „Meerestag“ ließ Evo Morales verlauten, es handele sich um nichts weniger als die wichtigste nationale Angelegenheit. „Es ist die Pflicht aller Bolivianer und Bolivianerinnen, das patriotische Gedächtnis über die Bedeutung der chilenischen Invasion aufrechtzuerhalten“, erklärte er noch am 23. März dieses Jahres. Weiterhin sei es somit auch „die patriotische Pflicht aller Lehrer und Lehrerinnen, Erziehung zum Thema des maritimen Gebietsanspruchs Boliviens zu betreiben“. Das 2014 vom Außenministerium herausgegebene, fast hundertseitige Libro del Mar (Buch des Meeres), in dem die Geschichte des Salpeterkrieges sowie die aktuellen Interessen Boliviens rund um das Gebiet dargelegt werden, deklariere er nunmehr zur Pflichtlektüre auf allen Stufen in der Schule, so Morales in seiner Rede. Aber das sind noch verhältnismäßig harmlose Töne. Im November 2014 hatte der Vizepräsident Álvaro García Linera bei einer Jubiliäumsfeier der bolivianischen Armee gesagt: „Bevor wir auf unser Recht auf den souveränen Meereszugang verzichten, müssten sie uns alle umbringen.“ Bolivien als Land und Kultur müsste untergehen, bevor von diesem Recht abgesehen werden könne.
Aber trotz der patriotisch anmutenden Rhetorik um den souveränen Meereszugang sind die Probleme Boliviens real. Im Libro del Mar wird bemängelt, dass eine wichtige Nahrungsquelle verloren gegangen sei, nämlich die Fischgründe an der Pazifikküste. Die Schwierigkeiten für Handelswege werden ebenfalls geschildert: Nicht nur müssen Exportwaren erst kostenpflichtig durch Chile transportiert werden, sondern auch an den chilenischen Häfen ist die Lage für Bolivien oft kompliziert. Da die Häfen seit 2004 größtenteils privatisiert wurden, würden ehemalige Abkommen mit der chilenischen Regierung nun nicht mehr respektiert. „Die bolivianische Unabhängigkeit wird in diesen Häfen permanent eingeschränkt“, heißt es im besagten Libro del Mar. Sämtliche Kosten für die Kontrolle von Frachtgütern müssten von bolivianischen Import- und Exporthändlern übernommen werden. „Für jeden kontrollierten Container werden zwischen 124 und 800 Dollar kassiert. Außerdem hat Chile seit langer Zeit die Absicht, die bolivianische Präsenz aus den Häfen zu eliminieren, indem es die bolivianischen Zollstellen in Gebiete außerhalb der Häfen umlegt.“ Portezuelo zum Beispiel ist 30km vom Hafen Antofagasta entfernt, was erhöhte Kosten sowie Verspätungen beim Export von bolivianischen Rohstoffen verursacht.
Die Eisenbahnstrecke zwischen La Paz (Bolivien) und Arica (Chile) wurde außerdem seit 2001 für Transporte eingestellt; bis heute kann sie nicht benutzt werden. Dass die durch Unwetter beschädigte Strecke nie repariert wurde, wird aus bolivianischer Sicht ebenfalls als eine willentliche Manipulation der chilenischen Verantwortlichen aufgefasst. Die Liste der Probleme rund um Atacama ist lang.
Bis der eigentliche Streit ausgetragen, geschweige denn gelöst werden kann, wird es wohl allerdings noch einige Zeit zu dauern. Es kommt in internationalen Konflikten nicht häufig vor, dass Territorien auch so lange Zeit nach einer Invasion noch zurückgefordert werden. Ein kafkaesker Urwald aus juristischen Fragen tut sich nun vor den Kläger*innen auf. Er verbietet es ihnen vorerst, über die eigentliche Angelegenheit zu verhandeln – für Bolivien ist das ein schwerer Schlag.
Der zuständige Richter Hisashi Owada hatte zum Zeitpunkt der Klage erst einmal wissen wollen, was denn unter dem „souveränen Zugang zum Meer“ zu verstehen sei. Da der internationale Gerichtshof mit derartigen Problemen noch nie zu tun gehabt hat, gibt es dazu keinerlei juristischen Regelungen. Erst nach einer Übereinkunft über die Bedeutung des „souveränen Meereszugangs“ kann entschieden werden, ob der Gerichtshof in Den Haag für den Fall überhaupt zuständig ist.
Zwei Jahre später, im Mai 2015, haben Bolivien und Chile ihre jeweiligen Antworten vorgelegt, die wiederum einige Monate der Begutachtung durch das Gericht bedürfen, bevor der entscheidende Beschluss gefasst werden kann.
Was mit Spannung erwartet wurde, ist nun zum endlosen Streit um die richtigen Begriffe geworden. Die jeweiligen Erklärungen sind eher nervenzerreißend als konstruktiv – sie sind nicht einmal klar gegeneinander gerichtet. Mit „souveränem Meereszugang“, heißt es etwa in der chilenischen Erklärung vom 13. Mai 2015, meine die bolivianische Regierung in Wirklichkeit, dass das gesamte Küstengebiet zurückgegeben werden solle – ein solches Anliegen könne aber nicht in Den Haag verhandelt werden. Bolivien hingegen besteht darauf, dass die Bedeutung von „souveräner Meereszugang“ erst noch ausgehandelt werden müsse, und nicht als ein Ergebnis vorweggenommen werden könne. Ob der Vertrag von 1904 dann erneuert oder verändert werden müsste, werde sich noch zeigen.
Beide Länder hatten zwei Tage später noch die Gelegenheit, sich gegenseitig auf ihre jeweiligen Erklärungen zu antworten. Doch eine*r scheint am andere*n vorbeizureden: am 15. Mai 2015 wiederholten beide Seiten ihre jeweiligen Standpunkte im selben juristischen Jargon, und erklärten das des jeweils anderen für ungültig oder nicht stichhaltig. Sollte Den Haag sich nun für zuständig befinden, wird es allerdings spannend.